Die letzte Saison vor der allerletzten

«War das eine flaue Sache, läck doch mir, null Information, im Prinzip», schimpft der Kollege links, steht auf und geht. Eben hat die Medienbeauftragte Corinne Druey die Pressekonferenz zur Tour de Suisse 2003 beendet, ohne dass einer der rund hundert Kollegen oder eine der fünf Kolleginnen eine Frage gestellt hätte. Jetzt strömen sie in zwei Richtungen davon, die meisten zum Ausgang Richtung Apéro. Um die dreissig belagern den Tisch der Referenten, wo sich vor der Sponsorenwerbung von Feldschlösschen und Yamaha zwei Gruppen bilden. Eine kleine um Toni Rominger, den ehemaligen Radrennfahrer und jetzigen Rennleiter der Tour, eine grosse um den letztjährigen Sieger, der während der Pressekonferenz die Etappen der kommenden Tour kommentiert hat – «Das ist nicht eine Etappe, wo flach ist» –: Alex Zülle.

Pünktlich, ordentlich, Schweizer

Dass Alex Zülle prominent ist, merkt man daran, dass alle Schurnis dutzis sind mit ihm. «Alex! Nur eine Frage!», tönt es Mikrofon voran zuinnerst in der dichten Schurni-Traube durch den Ausbildungssaal im vierten Stock der Hostettler AG, Schweizer Generalimporteur von Yamaha-Produkten. Nordwärts vor der Fensterfront ein Zipfel des Sursiwalds, südwärts gleisst hinter den Storen das Städtchen im Frühsommervormittag. Verdeckt von geschäftig drängelnden Rücken ist die Stimme des Ostschweizers zu hören, Alexander Winokurow und Jan Ullrich seien Mitfavoriten, sagt sie. «Und du, Alex, bist du nicht auch Favorit?»

Mit exakt 1 Minute und 27 Sekunden Vorsprung auf den Polen Piotr Wadecki hat Alex Zülle die Tour im letzten Jahr gewonnen – ein überlegener Sieg, nur während der zweiten und dritten Etappe trug das goldene Trikot ein anderer. Es war der überfällige Sieg eines Helden, über den nicht nur Sportschurnis so fliessend zu reden verstehen wie über Käse und Schokolade. Geboren am 5. Juli 1968, 1 Meter 84 gross, 72 Kilogramm schwer, Haare blond, Augen braun, Ruhepuls: 42, Lungenvolumen 7,64 Liter. Lieblingsessen: Paella, Lieblingsgetränk: Rotwein, süchtig auf Paprika-Chips. Seit dem 1. Januar 1992 Radprofi: zuerst bei ONCE, dann Festina, Banesto und Coast, jetzt Phonak. Weltmeister im Zeitfahren, zweimal Sieger der Vuelta, zweimal Zweiter an der Tour de France. Als Brillenträger Bruchpilot, der mehr als andere zu Boden ging, aber auch mehr als andere gewann: Als Profi siegte er insgesamt knapp siebzigmal, mehr als ein Dutzend Mal in Mehretappenrennen. Heute zwar x-facher Millionär mit Villa im sankt-gallischen Zuckenriet, aber ehemals Flachmaler, zuvor «Hilfsschüler». Hobbys: Schwimmen, Ferien und Ausgehen mit seiner langjährigen Freundin Andrea Meyer. Wenn er sich in drei Worten beschreiben muss, antwortet er: «Pünktlich, ordentlich, Schweizer.»

«Klar», hört man Zülle hinter den Schurni-Rücken sagen, «für mich persönlich bin ich der Favorit. Das ist mein Job, das ist meine Einstellung. Und das verlangt auch der Sponsor. Der Name Phonak muss aufs Podium. Das ist wichtig.»

Manchmal passierts anderswo

Die ersten Schurnis eilen mit ihren drei exklusiven Zülle-Antworten davon. Langsam erkennt man den Champion zwischen sich reckenden Köpfen. Zülle ist braungebrannt, glattrasiert, gertenschlank und feingliedrig, in Jeans und Polohemd gibt er locker und liebenswürdig lächelnd Auskunft, zum Beispiel zu seinem Mannschaftswechsel in diesem Frühjahr, das die Sportredaktionen wochenlang beschäftigt hat. 

Damals wollte er weg vom deutschen Team Coast, weil er seinen Lohn nicht mehr erhielt. Am 26. März reiste deshalb sein Manager Toni Rominger – der als Renndirektor der diesjährigen Tour einige Schritte weiter drüben auch immer noch in Mikrofone spricht – nach Essen und verhandelte. Drei Tage später bestritt Zülle sein erstes Rennen für Phonak: Am Critérium International in den Ardennen wurde er mit 1 Minute 43 Sekunden Rückstand 49. 

Jetzt sagt er: «Die letzte Zeit bei Coast war schwierig. Die Form war weg, die Moral war weg. Aber jetzt bin ich sehr glücklich. Ich war schon lange nicht mehr in einer derart seriösen Mannschaft wie Phonak.» – «Und Alexandre Moos?», fragt ein welscher Kollege. Der Walliser Phonak-Fahrer Moos hatte Zülle an der letztjährigen Tour de Suisse als Gegner das Leben schwer gemacht, diesmal starten sie in der gleichen Mannschaft. Zülle findet freundeidgenössische Worte: «Alexander hat eine grosse Zukunft. Er kann die Tour gewinnen. Wenn meine Chancen weg sein sollten, würde ich ohne Probleme für ihn fahren.»

Obschon die Schurni-Traube allmählich kleiner wird, ist nach wie vor das Stichwort Festina nie gefallen, nie die Tour de France 1998 und nie EPO. Dafür nimmt nun ein älterer Kollege Schwung und fragt mit radiophoner Schönwetterstimme: «Alex Zülle, wenn man die Tour de Suisse als Vorjahressieger in Angriff nimmt: Ist das eine zusätzliche Motivation oder eher eine Belastung?»

Was hier im Moment auch die eingeweihtesten Sportjournalisten und -journalistinnen noch nicht wissen: Gut drei Stunden zuvor hat an diesem 3. Juni der französische Radrennfahrer Sébastien Chavanel im «Holiday Inn» von Dresden eine schlimme Entdeckung gemacht. Beim Aufstehen findet er Fabrice Salanson, seinen Kollegen aus dem Team Brioches La Boulangère, mit dem er heute zur Deutschland-Tour hätte starten sollen, tot neben seinem Bett am Boden. In der Folge ergeben weder Salansons Obduktion noch die Analyse von Urin-, Blut- und Haarproben Hinweise auf Doping, obschon beim Toten eine «Tasche mit einer auffallend grossen Menge von Ampullen und Tabletten» gefunden worden ist. Klaus Müller, der Leiter des zuständigen Doping-Labors, sagt, dass ein Leistungssportler so plötzlich sterbe, sei «absolut ungewöhnlich». Salanson hat am Samstag zuvor mit dem vierten Rang bei «A travers Morbihan» sein bisher bestes Ergebnis als Profi herausgefahren und sein Sportlicher Leiter, Jean-René Bernaudeau, betont, er sei «in grosser Form» gewesen, bevor ihn jetzt ein so genannter «Sekundentod» ereilt habe. 

Untersuchungsgefangener in Lyon

Zülle spricht ins Mikro der Schönwetterstimme: « Man schaut nicht zurück. Deshalb ist der Toursieg weder Motivation noch Druck. Am 16. Juni in Egerkingen ist wieder ein neuer Anfang.» Er weiss noch nichts von Salansons Tod und wenn er’s wüsste, würde er dazu nichts sagen wollen. Über Doping hat er nur einmal öffentlich gesprochen, im Sommer 1998. Damals gehörte er zum Festina-Team, das während der Tour de France disqualifiziert wurde. Ins Rollen gebracht hatte den grössten Dopingskandal der Radgeschichte die Verhaftung des Festina-Pflegers Willy Voet, aus dessen Auto bei einer Zollkontrolle die Festina-Hausapotheke beschlagnahmt worden war: 234 EPO-Flakons, 60 Kapseln eines blutverdünnenden Präparats gegen die Thrombose-Gefahr bei zu hohen EPO-Dosen, 80 Ampullen Wachstumhormone, dazu 160 Einheiten Testosteron. Voet war unterwegs gewesen zum Tourstart in Dublin. Nach der Disqualifikation musste Zülle zusammen mit seinen Festina-Kollegen zur Polizeibefragung nach Lyon. Dort wurden die Stars behandelt wie normale Untersuchungsgefangene und in Zellen gesperrt, «die nach Urin und Exkrementen stanken», so damals Zülle-Manager Marc Biver. 24 Stunden genügten. Danach lagen die Geständnisse vor, mit dem Hormon Erythropoietin (Epo) die körpereigene Produktion von roten Blutkörperchen stimuliert zu haben, um die Sauerstoffaufnahme in den Lungen und damit die Leistungsfähigkeit zu verbessern. 

Vor dem nächsten Mikrofon gerät Alex Zülle unterdessen in grosse Fahrt: «Am Albulapass habe ich auf Pascal Richard geschaut und in diesem Moment, ehrlich gesagt, nicht einmal gemerkt, dass Tonkow weg ist. Richard ist dann eingebrochen und nachdem ich alle eingeholt hatte, hiess es plötzlich, es sei noch einer vorn. Da war es zu spät.» Diese Tour de Suisse 1995 hat er schliesslich um 11 Sekunden an Pawel Tonkow verloren.

Der «Festina»-Pfleger Voet veröffentlichte 1999 ein Buch mit dem Titel «Gedopt», in dem er zum Beispiel schrieb: «Seit jeher war Doping, ganz gleich in welcher ‘Form’, mit dem Hochleistungsradsport eng verbunden.» Es gebe ein «organisiertes Dopingsystem», dem, so ergänzte am 9. Juni 2000 in der NZZ ein anonymer Radprofi, kaum einer widerstehe: «Wer pur fahren wollte, war nach zwei Jahren mangels Erfolgen weg vom Fenster.» Von einem «System» sprach im Juli 1998 auch der Festina-Fahrer Armin Meier: Dieses habe «die Rahmenbedingungen» festgelegt und Epo sei «eben Teil dieses Systems» gewesen. Dieses System, sagte Zülle damals, habe einen gezwungen, zum Lügner zu werden, wenn man «kein Verräter sein wollte». Zwar sei er der Meinung, er würde mehr Rennen gewinnen, wenn es kein Doping gäbe, «weil ich Talent habe, weil ich leiden kann und einen starken Willen habe». Aber in diesem System sei er vor der Alternative gestanden: «Entweder machst du im Geschäft Radsport mit – oder du gehst wieder arbeiten.» Weil das so funktioniert, konnte Voet in seinem Buch schreiben: «Die Fahrer wollten nichts sehnlicher, als die neuen Dopingmittel zu testen.»

Ein ganz kleines Exklusivinterview

Unterdessen konfrontiert die Reporterin mit dem Bündner Dialekt und dem DRS-Mikrofon Alex Zülle mit der verblüffenden Frage nach seinen stärksten Gegnern bei der diesjährigen Tour. Alexandre Moos? Camenzind? Tonkow? Zülle bleibt dabei: Winokurow und Ullrich.

In diesem Frühjahr, bei seinem Wechsel zu Phonak, war Zülles Dopinggeständnis von 1998 noch einmal kurz ein Thema, denn beim neuen Team gibt es einen Dopingkodex, wonach kein Fahrer mit einer Dopingvergangenheit verpflichtet wird – und eben im Februar hatte Phonak Reto Bergmann entlassen, weil er zugegeben hatte, ein Anabolikum verwendet zu haben. Aber Bergmann ist nicht Zülle. Phonak-Besitzer Andy Rihs, der sich mit Zülle – vergeblich – Chancen ausrechnete, an der Tour de France teilnehmen zu können, rechtfertigte seinen Entscheid als Ausnahme wegen Zülles «Verdiensten um den Schweizer Radsport»: «Er hat deshalb einen würdigen Abgang verdient.» 

Jetzt, da nur noch ein einzelner Kollege einige Tische weiter drüben in sich versunken in sein Laptop hämmert, setzt sich Alex Zülle zum kurzen Exklusivgespräch mit der WoZ an den Referententisch. Es ist kein Zweifel möglich: In seinen kurz geschnittenen dunkelblonden Haaren sind erste graue Fäden zu erkennen. Er steht vor dem Ende seiner Karriere. Am Ziel der 3. Etappe der Valancia-Rundfahrt – damals noch als Coast-Fahrer – hat er Ende Februar gegenüber spanischen Journalisten gesagt, dass er «Ende Jahr mit Sicherheit aufhören» wolle. Jetzt sagt er: «Mein Vertrag bei Phonak würde auch noch nächstes Jahr laufen, aber davon möchte ich jetzt nicht sprechen. Nach Saisonende im Oktober sehen wir weiter.» Was sich denn in seinen bisher dreizehn Jahren als Radprofi am meisten verändert habe im Sportzirkus? «Ich bin mit Stars wie Fignon, Indurain, Rominger oder Delgado gefahren. Die haben alle schon vor Jahren aufgehört. Und ich bin immer noch dabei. Manchmal denke ich: Ou, du wirsch langsam e chly alt.» Wie es denn nach seiner Radkarriere weitergehen solle? «Ich mache mir schon Gedanken.» Er habe ja auch schon gesagt, danach müsse er wieder als Flachmaler arbeiten. «Das war eher zum Spass.» Wie er sich denn erkläre, dass an dieser ganzen Pressekonferenz das Wort Doping nicht ein einziges Mal gefallen sei. «Über diese Fragen spricht man nicht. Das gilt auch für mich: Darüber rede ich nicht.» Der Mann vom Fernsehen kommt: Man warte draussen.

Wie gross denn die Wahrscheinlichkeit sei, dass er seinen Titel an der Tour de Suisse verteidigen könne. «Eine gute Frage», sagt Alex Zülle, «jetzt, wo ich hier sitze, sage ich hundert Prozent. Aber wenn man dann fährt, sagt man sich manchmal schon: Ou läck doch mir, itz ma n i de nümm. Ich denke einfach: Gewinnen wäre schön.»

Die Tour de Suisse 2003 wurde von Alexander Winokurow vor Giuseppe Guerini und Oscar Pereiro gewonnen. Zülle wurde mit 11 Minuten 48 Sekunden Rückstand 22ster. Als Radprofi zurückgetreten ist er nach der Saison 2004. 

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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