So vergeht die Zeit

Die Medienmitteilung war kurz: «Dass sich die Reitschule in den letzten zehn Jahren als Brennpunkt nicht-kommerzieller Kultur und kulturpolitischer Dauerbrenner behauptet hat, ist wesentlich der Beharrlichkeit und der Unbestechlichkeit der prämierten kulturellen Veranstaltungsgruppen zu verdanken.» Mit dieser Begründung hat die kantonale deutschsprachige Kommission für allgemeine kulturelle Fragen neben der Stiftung «documenta natura» drei Arbeitsgruppen der Berner Reitschule ausgezeichnet: das «Spontantheater», das «Kino in der Reitschule» und den Konzertveranstalter «Dachstock».

Zwölf Jahre sind eine lange Zeit: Als im Herbst 1987 von der aufmüpfigen Jugend der damals leerstehende Gebäudekomplex beim Berner Bahnhof als Kulturzentrum besetzt wurde, war die erste Forderung ihrer Vollversammlung an die Stadtbehörden: «Autonomie für die Reitschule. Kein Geld von der Gemeinde, aber Baumaterial.» Unterdessen hat «die Gemeinde» an der Urne einen 7,5-Millionen-Franken-Kredit zur Sanierung des Reitschulareals gutgeheissen, die Sekretärin der kantonalen kulturellen Kommissionen, Anina Barandun, rühmt an den Kulturpreisträgern der Reitschule den «anarchistischen Kulturbegriff» und der bürgerlich-liberale «Bund» die «Gratisarbeit, die dort […] von vielen erbracht wird» (27.11.1999).

Dass die «verträumten UtopistInnen und hartgesottenen ErmöglicherInnen» – wie das «megafon», die «Zeitung aus der Reithalle Bern» sie in einer Laudatio in eigener Sache nennt – den Preis verdient haben, werden in Bern nur aufrechte Rechte bestreiten. Da ist das «Spontantheater» – dieser «eigentümliche Haufen begabter Freaks» – das in der legendären Liveinszenierung «Jukebox» von Trudi Gerster bis vom städtischen Kultursekretär Peter J. Betts schillernde Prominenz präsentiert hat und zur Zeit mit dem Märchen «Bärner Stadtvagante» im «tojo» der Reitschule gastiert. Da ist die Kinogruppe, die ein Programm hartnäckig neben dem Mainstream bietet, intern als «eine der solidesten, kontinuierlichsten und verlässlichsten Arbeitsgruppen» gilt und mit dem Kollektentablett am Ende der Vorführungen bis heute ein Stück geldkritischer 87er-Utopie verteidigt. Und da ist der «Dachstock», der einerseits schräger Musik und ungewohnten Sounds eine Bühne bietet, dem andererseits «Discos und horrende Gagen heute so selbstverständlich» sind «wie ‘Hoch die internationale Solidarität’ an einer Demo» (alle Zitate aus «megafon» Nr. 220 vom Februar 2000).

Verdiente Preise also, zweifellos. Man könnte sich höchstens fragen, warum der kantonale Kulturpreis 1999 nicht auch an das «megafon» gegangen ist, das sich seit November 1987 vom gefalteten A 4-Blatt zur knapp 40seitigen Monatszeitschrift mit einem «Schwerpunkt», einem Programmteil und aktuellen politischen Informationen gemausert hat. Oder an die Reitschul-Beiz «Sous le pont». Oder an den Frauenraum. Oder den Infoladen. Kurzum: Warum erhielt nicht die Reitschule als Ganzes, als kulturpolitisches Projekt, die Auszeichnung? Ist sie zwar so gedacht, aber aus realpolitischen Überlegungen anders begründet, um im Kanton einen absehbaren konservativen Sturmschrei der Entrüstung zu vermeiden? Oder sind tatsächlich diese drei Arbeitsgruppen gemeint? Das hiesse dann: In der Reitschule hat die Arbeit der einen mehr mit Kultur zu tun als die Arbeit der anderen. Weniger Kultur wäre dann zum Beispiel die Buchhaltung für den Pool der Arbeitsgruppen, der Telefondienst im Reitschulbüro oder die Knochenarbeit in der Betriebsgruppe. «Aufrechterhalten wird der Betrieb jedenfalls nicht durch den Dachstock, das Kino oder das Spontantheater», schreibt das «megafon» und sagt damit: Gäbe es in der Reitschule nur kulturelle Anlässe, gäbe es auch die nicht. Zwischen den Gärtchen der einzelnen Arbeitsgruppen liegt ein quasi-öffentlicher Raum, der zunehmend öde wird. Die Vollversammlung – dieses Symbol der 80-er Gegenkultur – wird vor allem deshalb nicht endgültig aufgelöst, weil sich die VV nur selber abschaffen könnte, dies also nicht kann, wenn sich niemand mehr für sie interessiert.

Vor zwölf Jahren hätten einzelne Reitschul-Arbeitsgruppen den Preis wohl noch mit Todesverachtung abgelehnt – weil Staatsgeld stinke; vor sechs Jahren hätten sie ihn vermutlich in einem demonstrativen Akt der Solidarität an den Pool weitergegeben – weil Eigentum Diebstahl sei. Die drei nun ausgezeichneten Arbeitsgruppen haben beschlossen, die Preissumme von insgesamt 20’000 Franken zu je einem Drittel zu «privatisieren». So vergeht die Zeit.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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