Mexiko ist auch im Marzilibad

Zum Journal B-Originalbeitrag.

Dienstagabend. Auf der Wiese des Marzilibads stiehlt eine riesige Kinoleinwand dem Bundeshaus die Show. Dunkle Wolken über der Silhouette der Altstadt. Aber regnen wird es nicht. Bei der Eröffnung des Openairkinos Marzili Movie hat das Organisationsteam sogar das Wetter im Griff. Die langen Reihen der Liegestühle jetzt, eine knappe Stunde vor Filmbeginn, schon fast zur Hälfte besetzt. Ein junges Paar turnt vor dem ausgestreckten Handy hin und her, damit im Hintergrund Leinwand und Bundeshaus schön ins Bild kommen. Gleich daneben begrüssen sich zwei Frauen überschwänglich.

Tags zuvor nimmt sich Hüseyin Matur im Stress der Vorbereitungsarbeiten Zeit, um Auskunft zu geben. «Hüssu» stellt er sich vor, als wir Duzis machen. Nein, sagt er, Filmemacher sei er nicht: «Aber Macher. Ich liebe Projekte: das Organisieren, das Veranstalten. Der Applaus am Schluss, nach der grossen Arbeit, erfüllt mich. Das ist mein Leben.» Seit drei Jahren betreibt er als Gérant das Restaurant Fischerstübli in der Matte. Und bereits zum 15ten Mal hilft er nun hier Marzili Movie auf die Beine zu stellen. Auf die Idee ist er selber gekommen, als er um 2000 einige Zeit in Sydney gelebt und dort im Queens Park mehrtägige Kinoopenairs miterlebt habe. Zurück in der Schweiz habe er seinen Kollegen Jorim Schäfer für die Idee begeistert, im Marzilibad etwas Ähnliches zu machen: Jedes Jahr ein Länderschwerpunkt, bestehend aus Openairfilmen, Livemusik und Essen aus dem jeweiligen Land. Dieses Jahr ist Mexiko dran.

Neun Uhr. Die Wiese füllt sich. Neben und hinter den Liegestühlen richten sich Leute auf Tüchern und Aufblasbarem bequem ein. In rotem T-Shirt eilt Jorim Schäfer vorbei. Seit fünf Jahren lebt er im thurgauischen Bischofszell. Anfang dieses Monats hat er als zugezogener Grünliberaler im zweiten Wahlgang der SVP einen Sitz in der Regierung des historischen 6000’Seelen-Städtchens abjagen können. Aber wenn in Bern Marzili Movie ansteht, dann ist fertig mit Regieren in Bischofszell. Freundlich nimmt er die Gratulation zur Wahl entgegen und eilt weiter.

Er wisse es nicht, sagt Matur, ob es anders gegangen wäre, wenn er statt Hüssu Matur Housi Matter geheissen hätte. Aber für Marzili Movie sei die Zusammenarbeit mit der Stadt jahrelang schwierig gewesen: Nach zwei Jahren Pickeln endlich die Bewilligung für einen Pilotversuch. Auf das Argument, zwei Tage seien zu wenig, um beim nötigen Riesenaufwand kostendeckend veranstalten zu können, sei die Direktion für Bildung, Soziales und Sport erst eingegangen, als sich für Marzili Movie ein Anwalt gemeldet habe. Bis zu Edith Olibets Abgang als Direktionsleiterin durften es dann drei Tage sein, seither sind’s fünf. Unterdessen geben Stadt, Kanton und Burgergemeinde nebst privaten Sponsoren Durchführungsbeiträge. «Unser Traum wäre», sagt Matur, «für den grossen administrativen Aufwand eine 20 Prozentstelle bezahlen zu können. Vorderhand ist das nicht möglich.» Aber es werde doch sicher einiges umgesetzt bei durchschnittlich sechs- bis siebenhundert BesucherInnen pro Abend? «Klar», sagt Matur, «aber davon nimmt der Filmverleih je nach Film 30 bis 50 Prozent und die Stadt für die Miete des Bades, Pikettdienste und das Leeren der Container 20 Prozent.»

Gegen halb zehn dämmert’s. Längst spielt vor der Leinwand unverstärkt die Mariachi-Gruppe Chona, von der mexikanischen Botschaft eingeladen und für die Openairtage extra eingeflogen: Vier Geiger, ein Gitarrist, ein Vihuela-Spieler, ein Trompeter. Viel Gesang, viel Spielfreude, und rechts vorne singen die Leute die Melodien mit, einige tanzen. Dann wird begrüsst. Ein Vertreter der mexikanischen Botschaft wünscht gute Unterhaltung, und der Stadtpräsident Alec von Graffenried dankt Hüssu, Jorim und dem ganzen Team, das mit ehrenamtlichem Engagement Jahr für Jahr das abends sonst tote Marzilibad für einige Tage belebt.

Und dann geht’s los: «Nosotros los nobles». Eine Filmkomödie mit sozialkritischem Tiefgang: Ein sehr reicher Vater versucht seine drei wohlstandsverwahrlosten Kinder durch die Simulation des eigenen Ruins zur Arbeit und zu einer minimal sozialen Weltsicht zu bringen. Bestens unterhalten versinkt man langsam im Liegestuhl und denkt sich: Guter Stoff, eigentlich merkwürdig, dass der in der Schweiz nicht allpott neu verfilmt wird. Ab und zu in den dunklen Wolken über der Stadt ein Wetterleuchten, einmal eine Pause – erneut mit Livemusik, Happyend ist gegen viertel vor zwölf. Der Regen ist programmgemäss erst später in der Nacht gekommen. Und am nächsten Vormittag vertreibt die Sonne ehrenamtlich die Restwolken. Kein Zweifel: Auch heute ist Marzili Movie-Wetter.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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