Ein schweizerischer Nazi-Kriegsheld

Mit Franz von Werra machen Sie eine mythische Figur des Nationalsozialismus zum Protagonisten Ihres neuen Dokumentarfilms, «von Werra». Ist der kritische Filmemacher Schweizer der Männerherrlichkeit der Kriegsfliegerei erlegen?

Werner Schweizer: Nein, keineswegs. Aber interessiert hat mich die Begeisterung dieser ehemaligen Jagdpiloten schon, die über von Werra Auskunft geben. Für sie war der Zweite Weltkrieg eine tolle Sache und zumindest in den ersten Kriegsmonaten haben sie ein Herrenleben in Saus und Braus geführt. Diese verführerischen Aspekte des Krieges, die Sicht der ehemaligen «Täter», das wollte ich auch zeigen.

Diese Zeitzeugen reden im Film wirklich erstaunlich offen.

Bei einem deutschen Interviewer wären sie vielleicht zurückhaltender gewesen. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass wir ihnen die Zunge lösen konnten mit teilweise naiven Fragen, in denen nicht von vornherein Kritik oder Verurteilung mitschwang. Wir fragten immer zuerst nach Franz von Werra, nicht nach ihrer Biografie, nach Hitlerjugend oder Faschismus.

Sie sprechen von «wir».

Ich habe alle Interviews zusammen mit dem Historiker Wilfried Meichtry geführt, der den Film ursprünglich anregte und seine Forschungen 1998 in der Dissertation über «Die Walliser Adelsfamilie von Werra» veröffentlicht hat. Meichtry hatte jeweils die genauen Fakten im Kopf. So konnte ich mich auf Filmisches konzentrieren, auf die allgemeine zeitgeschichtliche Stimmung und auf den Zusammenhang zu «Einer kam durch» – den englischen Spielfilm von 1957, der von Werras Flucht aus der englischen Kriegsgefangenschaft zum Thema hat.

Verschiedene Sequenzen dieses Spielfilms sind nun in Ihren Film hineingeschnitten.

Ja, für mich wurde dieser Spielfilm zum Transmissionsriemen, über den ich ein heutiges Publikum für die tragische Geschichte der beiden «verkauften» von Werra-Kinder zu interessieren versuche. Gleichzeitig stellten sich mit dem Spielfilm neue spannende Fragen: Wie war es zum Beispiel möglich, dass Engländer gut zehn Jahre nach Auschwitz einen Film machten, in dem das Wort «Nationalsozialismus» kein einziges Mal vorkam und einen Wehrmachtsoffizier als positive Identifikationsfigur zeigte? Der deutsche Jagdflieger in Lederjacke, lässig wie James Dean, als sauberer Held auf der Flucht: Das traf damals nicht nur den Zeitgeist, sondern tat vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs, von Nato und DDR auch seine weltanschauliche Wirkung.

In diesem Spielfilm spielt Hardy Krüger Franz von Werra. In Ihrem Film tritt Krüger, 45 Jahre älter geworden, ebenfalls auf. Weshalb?

Ich habe mich für Krüger zu interessieren begonnen, als ich begriff, dass es in seiner und von Werras Biografie interessante Parallelen und gegenläufige Bewegungen gibt. Beide wurden zum Beispiel als Jugendliche von den Nazis zu Piloten ausgebildet, aber während von Werra ein Verführter geblieben sei, so sagt es Krüger im Film, habe er sich immer stärker distanziert. Es gelang dann, Krüger für das von Werra-Projekt zu interessieren. Das gab mir natürlich neue Möglichkeiten bei der Finanzierung des Films. Krügers Name war in dieser Phase ein Türöffner. Ohne ihn hätte ich das nötige Geld wohl nicht zusammenbekommen.

Die verschiedenen Ebenen des Films – von der Familiensaga bis zur Jagdfliegerei und Krügers Darstellung von Franz von Werras Flucht – sind brillant montiert. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb: Ist der Film stofflich nicht überladen?

In knapp 100 Minuten werden tatsächlich viele Geschichten erzählt. Aber ich habe diese Montage gewagt, weil ich grundsätzlich die einfache, menschliche, emotionale Geschichte des Geschwisterpaars Emma und Franz erzähle, bei der man mitgehen und miterleben kann. Um all die Ebenen zu organisieren, haben wir zudem bereits vor den Dreharbeiten intensiv am Drehbuch gearbeitet, was für einen Dokumentarfilm eher ungewöhnlich ist.

Der Film hat nun an den Solothurner Filmtagen Premiere. Warum nicht am Dokumentarfilmfestival in Nyon oder im Sommer in Locarno?

Es gibt mehrere Gründe: Zuerst einmal wird der Film wirklich in diesen Tagen fertig. Dann ist für mich Solothurn als Filmfestival wichtig – ich habe es seit 1972 nie verpasst –, weil es dort ein breites und spannendes Publikum gibt. Dann hat das Solothurner Kuratorium für Kunst und Kultur Recherche und Herstellung des Films mitfinanziert. Zudem bin ich Solothurner, Bürger von Oensingen. So kann ich jetzt all meinen Bekannten am Jurasüdfuss, von Ligerz, wo ich heute lebe, bis nach Oensingen, sagen: Ich habe jahrelang an diesem Film gearbeitet, kommt doch mal anschauen, was ich gemacht habe.

 

[Kasten 1]

von Werra

1915 gibt der konkursite Baron Leo II. von Werra in Leuk (VS) seine beiden jüngsten Kinder Emma und Franz zur Adoption frei. Sie wachsen bei Stiefeltern in Deutschland auf. Auch diese Familie verarmt und zerbricht, als die Ehefrau hinter das Verhältnis ihres Mannes mit der Stieftochter kommt. Gleichzeitig erfahren Franz und Emma von ihrer wirklichen Abstammung. Als junge Berufsfrau unterstützt Emma ihren Bruder, der sich zum Jagdflieger der deutschen Wehrmacht ausbilden lässt. In den ersten Monaten des Zweiten Weltkriegs von Erfolg und Anerkennung verwöhnt, wird Franz im September 1940 über England abgeschossen und nach Kanada deportiert. Von dort flieht er und kehrt via USA und Südamerika nach Europa zurück. Nach Deutschland zurückgekehrt empfängt ihn Adolf Hitler persönlich. Am 25. Oktober 1941 stürzt er nach einem «Feindflug» in die Nordsee. Seine Schwester kommt nach dem Krieg in die Schweiz und arbeitet bis zu ihrer Pensionierung in der Psychiatrischen Klinik Münsingen. Danach kehrt sie nach Leuk zurück, wo sie 1992 stirbt. Von Werras tollkühne Flucht, die die Weltpresse beschäftigte, wurde 1957 Vorlage für den Spielfilm «The One That Got Away» («Einer kam durch») des Briten Roy Baker, in dem Hardy Krüger die Hauptrolle spielte.

 

[Kasten 2]

Schweizer

Der Dokumentarfilmer Werner «Swiss» Schweizer (* 1955) war Mitbegründer des Zürcher Videoladens und 1994 zusammen mit Samir auch der Filmproduktionsfirma Dschoint Ventschr AG. «Von Werra» ist nach «Dynamit am Simplon» (1989) und «Noël Field – der erfundene Spion» (1996) sein dritter Dokumentarfilm und mit einem Budget von 1,2 Millionen Franken seine bisher teuerste Produktion. Teilzeitlich arbeitet er übrigens am Bielersee als Weinbauer, weshalb er eine nicht alltägliche Berufsbezeichnung hat: «Filmautor und Produzent von Filmen und Wein».

 

[WoZ, Nr. 27 / 2001]

Walliser Clankrieg

Aufstieg und Fall der Adelsfamilie von Werra: So spektakulär wie Franz von Werras Biographie ist auch die Vorgeschichte seiner Adoption durch deutsche Eltern.

Franz von Werra wurde als Sohn von Baron Leo II von Werra in Leuk im Wallis geboren. 1915 gaben seine Eltern den 15-monatigen Buben, zusammen mit seiner zwei Jahre älteren Schwester Emma-Charlotte, zur Adoption frei. Danach wuchs er bei Oswald und Louisa Carl-von Haber in der Schwäbischen Alb auf und wurde dort zum Deutschen erzogen.

Der Historiker Wilfried Meichtry, auf dessen Recherchen sich Werner Schweizers Film stützt, hat in seiner Dissertation nicht nur die Folgen dieser Adoption dargestellt – und zur gesonderten Buchpublikation weiterbearbeitet –, sondern auch ihre Gründe. Diese Vorgeschichte zeigt anschaulich, wie unzimperlich die herrschenden Familienclans des Oberwallis um die politische und soziale Hegemonie stritten.

Anfang des 19. Jahrhunderts war Franz von Werras Ururgrossvater Ferdinand Werra zu sagenhaftem Reichtum gekommen, indem er einerseits einen steinreichen Wiener Grossonkel beerbte und sich andererseits dank einer handfesten Intrige gegen deren Willen in die Briger Familie von Stockalper einheiratete. Ein fähiger Aristokrat, dachte sich daraufhin der österreichische Kaiser Franz II und verlieh Ferdinand den Titel eines «Freiherrn». Danach zählten die von Werras zu den reichsten und mächtigsten Familien des Wallis und waren während hundert Jahren mit ihrem feudalen Leben auf repräsentativen Landsitzen beschäftigt.

Leo II von Werra hatte dann das Pech, dass um 1900 das Geld des Ferdinand zur Neige ging und er sich trotz grossem Besitz an Ländereien und Liegenschaften immer mehr verschuldete. Seine Schritte in die nachfeudale Zeit misslangen: Eine Gipsfabrik und ein Elektrizitätswerk brachten so wenig Geld wie eine ganze Reihe von Erfindungen, die er patentieren liess. Zum Verhängnis wurde ihm aber, dass er im Alter von 42 Jahren noch heiratete und Kinder hatte. Damit machte er sich seine Schwester Lina Loretan-von Werra zur Feindin, die bis dahin darauf hoffen durfte, dass ihre Kinder den Onkel beerben würden.

Wie die Sippen Zen-Ruffinen und Loretan mit einem gefälschten Dokument den Konkurs von Leo II in die Wege leiteten, wie sie seine Familie sozial und ökonomisch in den Ruin trieben und wie sie mittels einer «Beiratsschaft» seine Handlungsfähigkeit beschränkten, damit er sich juristisch noch schlechter wehren konnte – all das hat kafkaeske Dimensionen. Als Leo II nach 20-jährigem vergeblichem Kampf um sein Recht schrieb: «Überdies haben wir in diesem Land auch eine ‘Mafia’», wusste er, wovon er sprach.

Nach seiner Flucht aus englischer Kriegsgefangenschaft wurde Franz von Werra im Frühjahr 1941 für einen Moment zum prominentesten Jagdflieger in Hitlers Wehrmacht. In diesen Monaten begann sein betagter Vater im Wallis ein letztes Mal zu hoffen: Vielleicht würde der berühmte Sohn kommen, und ihm doch noch zu seinem Recht verhelfen? Auch diese Hoffnung zerschlug sich: Am 25. Oktober 1941 stürzte Franz von Werra mit seinem Flugzeug in den Ärmelkanal, ohne seinen leiblichen Vater persönlich kennengelernt zu haben.

Wilfried Meichtry: Du und ich – ewig eins. Die Geschichte der Geschwister von Werra. Frankfurt am Main (Eichborn). 2001. 

Wilfried Meichtry: Die Walliser Adelsfamilie von Werra. Zwischen Ancien Régime und Moderne. Dissertation. Visp (Mengis Druck). 2001. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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