«Der Röbu macht alles»

Aufenthaltsraum in der Reha-Pflegeklinik «Eden» in Ringgenberg über dem Brienzersee: Robert Balmer kommt im Anzug und mit Schiebermütze aus seinem Zimmer und sagt gleich zu Beginn: «I ha Päch ghäbe mit emne Unfall», er habe Pech gehabt und Unfall gemacht.

Dass ging so: Am 1. Dezember 2013 ist er in seiner Wohnung in Wilderswil gestürzt. Die Spitex-Mitarbeiterin hat ihn gefunden. Der rechte Oberschenkel war entzwei. Im Spital hat man ihn lokal anästhesiert und operiert. «Es hat getönt wie in einer Schreinerei», erinnert er sich. «Aber weh getan hat es nicht.» Jetzt, vier Monate später, geht er bereits wieder am Stock und spricht von der Rückkehr in seine Wohnung.

49 Jahre bei Raeuber & Co. AG

Im Frühling 1929 kam Robert Balmer als 16jähriger in die Firma Raeuber & Co. AG in Interlaken, die mit Kolonialwaren, insbesondere mit Kaffee, handelte. Zuerst wurde er Ausläufer in der Filiale Wengen, später Chauffeur. «In den dreissiger Jahren», sagt er, «haben wir hartes Brot gekaut».

Während des Zweiten Weltkriegs gehörte die Brot-Tour zu seinen Aufgaben. Am Morgen belud er in der firmeneigenen Bäckerei in Unterseen den Lastwagen mit Brot und belieferte damit die Geschäfte von Wilderswil über Interlaken bis Bönigen und Ringgenberg. Gegen Ende des Kriegs rüstete er nach diesem «Cheer» jeweils Kartoffeln, die man dem Brotteig beigab, um die Mehlvorräte zu strecken. Oder er buckelte im Lagerhaus Speiseölkanister und Säcke mit Zucker oder brasilianischem Kaffee. (Bis heute röstet die Firma – heute unter dem Namen «H&R Gastro» – eigene Kaffeesorten.)

Im Betrieb galt Balmer als «urchiger Oberländer» und besonders «Gschaffiger». Das bestätigt Fritz Michel, der ab 1945 sein Arbeitskollege war: «Man wusste: Der Röbu macht alles.» In dieser Zeit hat Balmer um die 200 Franken pro Monat verdient. In einer Firmenchronik von 1947 liest man, dass damals 60 Mitarbeiter in neun Filialen, zwei Bäckereien, einer Drogerie und «dem Vertrieb für die Standardprodukte» arbeiteten. Und: «Drei Camions vermittelten den Warenvertrieb.» Einen davon fuhr Robert Balmer.

Unterwegs war er in allen Tälern des Berner Oberlands. Er fuhr aber auch durchs Haslital über den Grimselpass bis ins Oberwallis. Begleitet wurde er stets von einem Gehilfen, der ihm beim Abladen half. Bis in die 1960er Jahre arbeiteten Balmer und seien Kollegen normalerweise an sechs Tagen, von sechs Uhr früh bis abends um sieben. Freilich waren nicht alle Tage normal. Balmers Tochter Esther Steiner erinnert sich, dass sie mit Mutter und Schwester oft abends zu Hause in Sorge wartete, bis sie draussen endlich das Knattern von Vaters Mofa hörte.

Geschichten aus einem Berufsleben

Dann kommt Balmer ins Erzählen: Davon, wie in den 1930er Jahren beim Manövrieren im Motor des neuen Opel Blitz mit einem «Chlapf» die Kurbelwelle brach. Oder wie beim Laden in der Treibstoff- und Heizölanlage Interlaken Ost ein ungesicherter Hahn durch den Druck weggerissen wurde und der Ölstrahl aus dem grossen Lagertank in hohem Bogen in die Aare spritzte. Robert Balmer: «Und einmal, als ich unterwegs war zum Hotel Griesalp zuhinterst im Kiental, brach plötzlich der Fahrweg unter dem Gewicht des Lastwagens weg. Der Camion kippte talwärts weg und überschlug sich. Mein Gehilfe und ich kamen beide mit dem Schrecken davon. Aber nur, weil der Aufbau unseres Lastwagens so robust gebaut war.»

Robert Balmer kann verschmitzt lächeln. Etwa, wenn er erzählt, mitten im Winter sei es hinten in Adelboden einmal so kalt gewesen, dass er mehr als einen Café fertig habe trinken müssen, um die Kälte in der Kabine auszuhalten. Auch Urs Reinhard, inzwischen Firmenchef von H&R Gastro, erinnert sich an die zugige Fahrerkabine: Als Stift sei er Mitte der 1970er Jahre im Herbst vor dem Einschneien einmal mitgefahren, als sie Restaurants in der Jungfrauregion mit Lebensmitteln belieferten: «Robert und sein Gehilfe haben während der Fahrt mit ihren Stumpen derart gequalmt, dass ich kaum mehr auf die Strasse hinaus gesehen habe.»

Seit seiner Pensionierung 1978 war Robert Balmer am liebsten unterwegs. Bei den Ausflügen seiner Firma, seiner Kirchgemeinde und natürlich der Musikgesellschaft Wilderswil war er regelmässig dabei. In der Dorfmusik hat er über fünfzig Jahre lang selber mitgespielt. Eine grosse Freude hat sie ihm zum hundertsten Geburtstag gemacht. Sie brachte ihm ein Ständchen und spielte dabei den Marsch «Ä bsundrige Tag», den der ehemalige Dirigent Christian Kipfer zu seinen Ehren komponiert hat. Auf die Frage, wie ihm das Stück gefallen habe, schwärmt er: «Wunderbar!»

Seinen Hundertundersten wird Robert Balmer am 15. April im Kreis seiner Familie in Wilderswil feiern. Die Dorfmusik hat sich wieder zum Ständchen angemeldet.

 

[Kasten]

Der Musikant

Robert Balmer kommt am 15. April 1913 in Wilderswil zur Welt. Nach der Schulzeit tritt er 1929 in die Firma Raeuber & Co. AG in Interlaken ein, die in verschiedenen Berner Oberländer Gemeinden Kolonialwarenläden betreibt. Balmer wird zuerst Ausläufer in Wengen. In den frühen 1930er Jahren kommt er nach Interlaken zurück und arbeitet seither als Chauffeur von Opel-, Saurer- und Mercedes-Lastwagen. Am 1. April 1946 tritt er der Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel (VHTL) bei. Was ihn dazu bewog, weiss er nicht mehr. «Aber ein Aprilscherz war’s nicht.» Heute ist er Unia-Mitglied.

Robert Balmer war verheiratet und hat zwei Töchter. Seine Ehefrau Josy starb 1975, drei Jahre vor seiner Pensionierung. Seither führte er in der eigenen Wohnung im Wohnhaus seiner Tochter Esther ein weitgehend selbständiges Leben, konnte aber jederzeit an ihrem Tisch essen. Zurzeit lebt er in der Reha-Pflegeklinik Eden in Ringgenberg. Sein Hobby ist die Musik. In der Dorfmusikgesellschaft Wilderswil spielte er nacheinander Flügelhorn, Trompete, Es- und B-Bass und schliesslich die Pauke. Heute ist er Ehrenmitglied dieses Vereins.

Robert Balmer ist am 7. März 2015 gestorben. Seine Familie hat folgendes Motto über die Todesanzeige gesetzt: «Das Schönste, was ein Mensch hinterlassen kann, ist ein Lächeln im Gesicht derjenigen, die an ihn denken.»

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5