«Frauen, tretet hervor, sagt eure Meinung!»

Die Amcor Flexibles GmbH in Burgdorf (BE) produziert in einem flachen Gebäudekomplex zwischen der Hauptstrasse nach Kirchberg und der Emme. Auch für Besuch gibt’s Arbeitskleidung: Stahlkappenschuhe, ein weisses Überkleid und ein Haarnetz. Marlen Pauli erklärt: «Neben der Arbeitssicherheit wird hier auch die Hygiene grossgeschrieben. Wir produzieren Lebensmittel- und Pharmaverpackungen.» Am Ende eines langgezogenen Produktionsraums öffnet sie eine Türe. Das ist das Labor, in dem sie arbeitet.

Qualitätskontrolle von A bis Z

«Mit unserer Arbeit begleiten wir den ganzen Produktionsprozess», sagt Pauli. Bereits die angelieferten Rohmaterialien werden daraufhin getestet, ob sie die nötigen Anforderungen erfüllen. Die Produktion – zum Beispiel von bedruckten Lebensmittelverpackungen oder von Beutelfolien – wird vom Labor mit «Inprozesskontrollen» begleitet. Und schliesslich gibt es die Endkontrolle. «Nehmen wir diese dreilagig zusammengeklebte Folie: Wir ermitteln unter anderem den ‘Schälwert’, das heisst die Kraft, die nötig ist, um die Kraft des Klebstoffs zu überwinden.» Erreiche sie nicht den geforderten Wert, «zum Beispiel 70 Newton», so sperre das Labor die Auslieferung, «weil die Folie zu schwach ist, um zu garantieren, dass sie später als Beutel allen Belastungen standhält». Fällt die Qualitätskontrolle zufriedenstellend aus, wird das Verpackungsmaterial in der vom Kunden gewünschten Rollenbreite zur Weiterverarbeitung ausgeliefert.

Vieles hier sei Routinearbeit, sagt Marlen Pauli: «Aber laufend kommt aus den Abteilungen Forschung und Entwicklung des Konzerns Neues: Zurzeit wird viel an Möglichkeiten der Wiederverschliessbarkeit von Verpackungen herumgetüfelt.»

Ein bisschen Industriegeschichte

Obschon Marlen Pauli in einem Labor mit Verpackungsfolien arbeitet, ist sie Mitglied jener Unia-Verhandlungsdelegation, die im Moment für über 300’000 Beschäftigte den wichtigsten Gesamtarbeitsvertrag (GAV) der Schweiz, jenen der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM), neu aushandelt. Wie kommt sie in diese Delegation?

«Es ist so», sagt sie: «1946 ist hier das Aluminiumwalzwerk Schüpbach AG eröffnet worden. Es gehörte in den Zuständigkeitsbereich des Smuv und unterstand deshalb dem GAV der Maschinenindustrie.» Seither ist es zu mehreren Handänderungen gekommen und das Walzwerk wurde in den 1990er Jahren endgültig abgestellt. Aber der Betrieb blieb dem MEM-GAV unterstellt – auch als er vom australischen Verpackungskonzern Amcor übernommen wurde. Darum gehört Marlen Pauli zu jener Delegation, die vom Unia-Geschäftsleitungsmitglied Corrado Pardini angeführt wird.

Der Kernsatz von MEM-Chef Hess

Der neue GAV soll auf 1. Juli 2013 in Kraft treten, die Verhandlungen sind voll im Gang. Die drei gewerkschaftlichen Hauptforderungen fasst Marlen Pauli so zusammen:

• Endlich verbindliche Mindestlöhne für jede Qualifikationsstufe, wie dies in anderen Branchen auch der Fall ist. Die aktuelle Mindestlohn-Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds unterstützt diese Forderung.

• Der «Krisenartikel» 57 im GAV soll eingeschränkt werden. Er ermöglicht den Arbeitgebern, bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Arbeitszeiten zu verlängern, ohne mehr Lohn zu zahlen. So wird Gratisarbeit erzwungen und kalter Abbau von Überstunden betrieben.

• Der Kündigungsschutz für die gewerkschaftlichen Vertrauensleute sowie die Mitglieder von Personalkommissionen und Stiftungsräten soll möglichst weitgehend ausgebaut werden.

In den Verhandlungen hat Marlen Pauli unterdessen einen Satz gelernt, der vom Swissmem-Präsidenten Hans Hess gern eingesetzt wird: «Alles, was Mehrkosten generiert, muss mit Mehrarbeit abgegolten werden.» Dazu stimme er gern «das Hohelied auf die Personalkommissionen» an: Mit diesen vernünftigen Leuten könne man sich in der Praxis besser arrangieren als mit abstrakten GAV-Artikeln. «Niemand sagt jeweils dazu, dass Peko-Leute nicht selten erpressbar sind. Darum müssen wir die Dinge ja verbindlich festschreiben.»

Marlen Pauli respektiert die Mehrfachbelastung vieler ihrer Kolleginnen. Trotzdem bedauert sie, dass sich in der männerdominierten Maschinenindustrie so wenig Frauen gewerkschaftlich engagieren: «Ich möchte hier aufrufen: Frauen, tretet hervor, sagt eure Meinung!» Denn obschon sie selber für ihre Unia-Arbeit zurzeit Ferientage und Kompensationszeiten drangeben muss, sei es für sie «interessant, hier dabei zu sein».

Ob sie für den neuen MEM-GAV eine Prognose wage? «Sagen wir es so», antwortet Marlen Pauli: «In welchen Punkten wir was genau erreichen werden, weiss ich nicht. Aber ich bin zuversichtlich, dass es einen GAV gibt mit substantiellen Verbesserungen für die Arbeitnehmenden.»

 

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Die Aktivistin

Marlen Pauli (* 1958) ist in Burgdorf (BE) aufgewachsen. Nach der Schule möchte sie Floristin werden, findet keine Lehrstelle und macht deshalb in Bern eine zweijährige Verkäuferinnenlehre. In den nächsten Jahren reist und jobbt sie, zeitweise arbeitet sie im Ausland, vier Jahre erledigt sie in einem Copy Shop Druckaufträge, vier Jahre arbeitet sie in der Pflege. 1996 beginnt sie als Laborassistentin für die Amcor Flexibles Burgdorf GmbH zu arbeiten. Seither sind die Zielvorgaben und die Arbeitstechniken laufend anspruchsvoller geworden. Entsprechend hat sich die Zusammensetzung des Arbeitsteams verändert.

Für das, was sie an Berufsausbildungen vorweisen könne, sagt sie, habe sie heute «einen guten Lohn». Sie ist Peko-Mitglied bei Amcor sowie Mitglied des Sektions-, des regionalen Einheits- und des Branchenvorstands der Unia. Sie lebt mit ihrem Partner in Alchenstorf (BE). In diesen Monaten braucht sie viel Zeit für die Gewerkschaftsarbeit; bleibt etwas Freizeit, liebt sie das Bücherlesen, Waldspaziergänge und die Gartenarbeit.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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