Listige Schweiz

Nein, kein Mensch wird «Die Schweiz in Listen» von vorn bis hinten durchlesen. Aber wer das Buch zur Hand nimmt, wird vor- und rückwärts blätternd die Zeit vergessen. Denn Hannes Bertschi, ansonsten der Kreuzworträtselmacher von Work, hat den unterhaltenden Versuch gewagt, die notorisch ordnungsliebende Schweiz endgültig aufzuräumen.

Entstanden ist ein gut 300seitiges Buch mit Aberdutzenden von Listen, von Zahlenkolonnen und Namensreihen. Ein wirklich listenreiches Nachschlagewerk voll systematisiertem Undsoweiter, samt Personen- und Sachregister sowie den Links für weiterführende Informationen im Internet.

Zum Schmunzeln und zum Nachdenken

Selbstverständlich findet man in diesem Buch die höchsten Berge der Schweiz, die längsten Gletscher und die grössten (und kleinsten) Seen. Man findet aber auch die häufigsten Strassennamen, die bekanntesten Volksbräuche, die kältesten (sowie wärmsten) Orte, die ältesten Birnensorten, die erfolgreichsten Fussball-Torschützen, die kleinsten Gemeinden, die konkurrenzlosen Wasserfälle, die teuersten Haustiere und die beliebtesten Sex-Stellungen (von Männern und von Frauen).

Manchmal wird man beim Blättern nachdenklich. Etwa wenn man liest, dass 36,7 Prozent der über 50jährigen, aber nur noch 11,1 Prozent der 18- bis 29jährigen Tageszeitungen für das wichtigste Medium halten. Oder dass 2008 1511 junge Frauen Künstlerinnen, aber bloss 163 Informatikerinnen wurden; 938 junge Männer Künstler, aber bloss 237 Sozialarbeiter. Oder wenn man auf die Liste der «22 Grundrechte» des Landes stösst: Unglaublich, wie viele Rechte man hätte, wenn man sie nutzen würde.

Manches ist zum Schmunzeln. Etwa, wenn als «typischste Spirituose» der Wertmutschnaps Absinth erwähnt wird, der in der Schweiz zwischen 1910 und 2005 verboten gewesen ist. Oder wenn unter «einmalige Tiergärten» an zweiter Stelle das betongraue High-Tech-Hochsicherheitsgefängnis aufgeführt wird, das Berns Touristikbranche unter dem Namen «Bärengraben» als Attraktion vermarktet. Oder wenn in der Liste der «15 gefährlichsten Nebenbeschäftigungen» das «Umhergehen in Haus und Garten» als die mit Abstand gefährlichste Tätigkeit identifiziert wird.

Die Lücken und das Kreuz mit den Quellen

Listen erzeugen den Anschein, das Ganze zu zeigen. Erst auf den zweiten Blick merkt man, dass in Bertschis Schweiz vieles fehlt: Zwar gibt es eine Liste der «grössten Arbeitgeber», aber keine der grössten Gewerkschaften. Zwar gibt eine Liste der «10 Reichsten» im Land, aber von den 500000 Ärmsten fehlt jede Spur. Zwar gibt es eine Liste von «10 visionären Unternehmern», aber keine der visionärsten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter. Mehr als eine Liste von fünf «aufsehenerregenden Streiks» (in hundert Jahren) und der Hinweis, dass der «Gewerkschaftsführer» unter den «vertrauenswürdigsten Berufen» den Rang 15 belege, gibt es zur Welt der Lohnabhängigen nicht. Nicht nur in diesem Bereich merkt man, dass Bertschi auf den Philippinen lebt und seine Schweiz-Listen vor allem im Internet zusammengesucht hat: Am greifbarsten ist im Netz eben immer der Mainstream.

Zudem verlockt das Netz dazu, mit Quellen unkritisch umzugehen. Probe aufs Exempel: Bertschi nennt auf Seite 82 als ältesten Baum der Schweiz eine zirka 1500jährige «Lärche in Obergesteln» im Goms, und zwar im «Hittu-Wald». Ein Anruf an Fredy Zuberbühler, Leiter des Forstbetriebs Mittelgoms, genügt, um zu wissen: Die älteste Lärche, die er im ganzen Goms in seinen 27 Berufsjahren gesehen hat, ist ungefähr 700 Jahre alt und steht nicht in Obergesteln, sondern in Blitzingen. Und der Hittuwald liegt eine Autostunde südwestlich des Goms, oberhalb Sempione auf der Südseite des Simplonpasses. Welchen Baum Bärtschi meinen könnte, weiss Zuberbühler nicht.

Listen sind ein Mittel gegen «die Furcht, nicht alles sagen zu können» angesichts der unendlich vielen Namen und Dinge dieser Welt, hat Umberto Eco in seinem Buch «Die unendliche Liste» (2009) geschrieben. Das stimmt: Niemand kann alles sagen. Auch mit Listen nicht. Darum sagen sie immer auch etwas über den, der sie anlegt, nicht nur über das, was sie ordnen. 

Hannes Bertschi: Die Schweiz in Listen. 2000 Antworten auf das Phänomen Schweiz. Lenzburg (Faro im Fona Verlag) 2012.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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