«Da sagte ich einfach nein!»

Die Place Georges Gissy in Saint-Louis liegt kaum zwei Kilometer hinter dem Basler Grenzübergang an der Elsässerstrasse in einem Industrieareal. Hier hat das Grenzgängerkomitee, das «Comité de Défense des Travailleurs Frontaliers du Haut-Rhin» (C.D.T.F.) in einer Baracke seine Büros. Yves Sur ist mit dem Auto aus einem Tal in den Vogesen angereist, um zu erzählen. Seit er arbeitslos ist, kommt er kaum noch hierher.

Nach dem Patron kam der Manager

Jahrzehntelang war das anders: Als gelernter Fräser arbeitete Sur über dreissig Jahre lang in Aesch (BL) hinter Basel, bei der Stöcklin Logistik AG, an einem mechanischen «Bohrwerk», einer multifunktionalen Werkzeugmaschine zur Bearbeitung von grossen Metallstücken. Heute weiss er, dass die Stücke nicht nur gross, sondern auch schwer waren. Vor fünf Jahren musste er deswegen unters Messer: der Rücken. Dem Bohrwerk ist er treu geblieben. Bis am 26. Juli 2010. 

Als Sur nach Aesch kam, lernte er einen Patron kennen, der «fast wie ein Familienvater» gewesen sei: den Firmengründer Walter Stöcklin, der 1934 begonnen hatte, Sackkarren mit Holzrädern zu bauen. Sur erinnert sich: «Sicher einmal pro Woche kam er in die Werkstatt und hatte für jeden fünf Minuten, um zu fragen, wie es gehe.» Einmal im Jahr habe er jedem Arbeiter seinen 13. Monatslohn in Banknoten auf die Werkbank geblättert – «aus dem eigenen, nicht aus dem Firmenvermögen.»

1995 wird alles anders: Urs Grütter wird Mehrheitsaktionär, CEO und Verwaltungsratspräsident. Den neuen Chef sieht man in der Werkstatt kaum je. Dafür wächst die Firma. Es entstehen Niederlassungen in Europa und Übersee, und die Produktion wandert von einem Billiglohnland ins nächste. Heute werden die Gussteile vieler Stöcklin-«Logistiklösungen made in Switzerland» in China hergestellt. Die Werkstatt in Aesch ist bloss noch ein Servicebetrieb, für die kaufmännische Abteilung «un boulet», ein Klotz am Bein.

Am jenem 26. Juli 2010 erhalten alle 120 Grenzgänger des Betriebs einen Brief: Auf 1. September werde ihr Lohn wegen der Euroschwäche um sechs Prozent gekürzt, zugunsten des Firmenwohls und der Schweizer Kollegen, die nicht von der Abwertung des Euro profitierten. Schriftlich soll man sich mit Grütters Fait accompli einverstanden erklären. 114 der 120 Grenzgänger tun es. Für Sur ist klar: «Viele konnten sich ein Nein nicht leisten, weil es Kündigung, Entlassung und Arbeitslosigkeit bedeuten konnte.» Sechs sagen trotzdem «Nein». Unter ihnen Yves Sur.

Im Recht, aber arbeitslos

Als er Ende August aus seinen Sommerferien zurückkehrt, hat er die Kündigung im Briefkasten. Er fährt trotzdem noch einmal nach Aesch, wird aber freigestellt. Die letzten drei Monatslöhne werden mit seinen rund 520 Überstunden verrechnet. 520 Überstunden? Ja: Seit 1999 hat die Stöcklin-Belegschaft ununterbrochen 41 statt 40 Stunden gearbeitet – ein Verstoss gegen den Gesamtarbeitsvertrag der Mem-Industrie.

Sur sagt, langjährige Kollegen hätten ihn am Schluss wie ein Verräter behandelt, der den Lohn über das Firmeninteresse stelle. «Und die Arbeitnehmervertretung im Betrieb stand auf CEO Grütters Seite.» Unterstützung kommt dafür vom Grenzgängerkomitee C.D.T.F. und von der Unia. Sie entscheiden, die sechs entlassenen Kollegen bei einer Klage wegen missbräuchlicher Kündigung zu unterstützen. C.D.T.F.-Präsident Jean-Luc Johaneck reist nach Paris und erreicht, dass der französische Arbeitsminister Xavier Bertrand in Brüssel brieflich interveniert wegen der «diskriminierenden Praktiken gewisser schweizerischer Unternehmen». Eine Kopie des Briefes geht am 18. November 2011 an der zuständigen Schweizer Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann.

Am 31. Januar 2012 gibt das Bezirksgericht Arlesheim Yves Sur und seinen fünf Kollegen recht: Ihre Entlassung war missbräuchlich, die Ungleichbehandlung von Angestellten aufgrund ihrer Staatszugehörigkeit ist ein Verstoss gegen das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU. Die Stöcklin AG wird zu Entschädigungszahlungen von rund 190’000 Franken verurteilt, insbesondere von je sechs Monatslöhnen. Das ist die Maximalstrafe. Grütter will voraussichtlich gegen das Urteil appellieren. Zurzeit warten die Parteien auf die schriftliche Urteilsbegründung.

Seit September 2011 arbeitet man übrigens bei der Stöcklin Logistik AG übrigens 42,5 Stunden pro Woche. Die Unia hat eingeschrieben interveniert, «die Arbeitszeiterhöhung sofort rückgängig zu machen». Offenbar müssen immer weniger Leute immer mehr arbeiten. Sur weiss, dass seit dem Sommer 2010 mehrere Grenzgänger entlassen worden sind, obschon sie zur Lohnkürzung Ja gesagt haben.

In Frankreich kann er längstens drei Jahre lang Arbeitslosengeld beziehen. Als 61jähriger mit Rückenproblemen, die er sich in der Schweiz geholt hat, findet er wohl kaum mehr eine Stelle. Die Stöcklin AG hat ihn in ein ungewisses Alter entlassen.

 

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Der Bohrwerkspezialist

Yves Sur (* 1951) kommt aus dem elsässischen Städtchen Guebwiller. Hier ist er zur Schule gegangen, hat eine Ausbildung als Fräser gemacht und anschliessend zwölf Jahre auf dem Beruf gearbeitet. In dieser Zeit erlebt er in seiner Stadt den Untergang einer grossen Textilfirma mit 2’700 Angestellten und sieht, was Arbeitslosigkeit bdeutewt. «Damals haben Schweizer Firmen in Frankreich nach Handwerkern gesucht.»

1980 lässt er sich in Aesch (BL) von der Walter Stöcklin AG – seit 1991 Stöcklin Logistik AG – als Bohrwerkspezialist anstellen. Etwas mehr als dreissig Jahre arbeitet er an dieser Maschine – bis er sich Ende Juli 2010 gegen eine illegale und diskriminierende Lohnkürzung wehrt und entlassen wird.

Yves Sur ist Unia-Mitglied und hat am Schluss 5’800 Franken brutto im Monat verdient. Er lebt mit seiner Frau in Guebwiller und hat zwei erwachsene Kinder. Als Hobby nennt er Wandern und Velofahren.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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