«Es durfte ganz sicher nichts hinunterfallen»

Der Auftrag für Paulo Pereira und seine Gruppe hat gelautet, um den obersten Teil, den «Helm» des Berner Münsterturms, ein Gerüst zu bauen, damit die Steinmetze der «Münsterbauhütte» den an jener Stelle vor 117 Jahren eingebauten Sandstein renovieren können. Der Architekt der Auftraggeberin, der «Berner Münsterstiftung», garantierte: Weil der Auftrag schwierig ist, können die Gerüstbauer ohne jeden Zeitdruck arbeiten. Pereiras Firma, die Lawil Gerüstbau AG, garantierte im Gegenzug perfekte Arbeit. Und das hiess zweierlei: ein perfektes Gerüst und garantiert kein Unfall.

Je höher, desto komplizierter

Auf genau 603,72 Meter über Meer, knapp siebzig Meter über dem Kopfsteinpflaster des Münsterplatzes, hat Pereiras Gruppe Ende März mit der Arbeit begonnen. Gewöhnlich zu fünft, bei gewissen Arbeitsgängen zu siebt, bei den Abschlussarbeiten noch zu dritt.

Auf dieser Höhe ist der Münsterturm achteckig. Über eine im Turminnern verankerte, strahlenförmige Stahlkonstruktion beginnt man Gerüstetage auf Gerüstetage zu bauen. Gestänge und Bretter werden mit einem Baulift heraufgeschafft. Als Materiallagerraum und Arbeitsplatz, etwa für das Zuschneiden von Holzbrettern, steht eine Fläche von einem Meter fünfzig im Durchmesser zur Verfügung. 

Pereira: «Die ersten dreizehn Meter, bis zum Ende des achteckigen Turms, waren einfach.». Dann steht man am Fuss des Turmhelms, der gut zwanzig Meter hohen, sich verjüngenden Spitze, die 101 Meter über dem Boden in ein metallenes Kreuz ausläuft. Nun wird es komplizierter: Gestänge und Bretter müssen vom Baulift auf einen Seilaufzug umgeladen und heraufgezogen werden. Platz, um zu arbeiten und Material zu deponieren, gibt es kaum noch. Zudem verlangt die fragile Statik des durchbrochenen Sandsteinbaus besondere Massnahmen: Verankerungen im Stein sind nicht möglich. Das gesamte Gerüst am Turmhelm muss deshalb mit heruntergespannten Stahlseilen am achteckigen Turm gesichert werden. Um das Gerüst so leicht wie möglich zu halten, arbeitet man jetzt statt mit Auffangnetzen mit leichterem Drahtmaschengeflecht. Und statt mit Brettern aus Holz oder Stahl mit solchen aus Aluminium.

Und irgendeinmal hat es Paulo Pereira auf dem Gerüst zum ersten Mal erlebt: Immer um 9, 11 und 15 Uhr läuten weit unten im Münsterturm die Glocken – im Wind oben sind sie kaum zu hören. Aber der ganze Turm beginnt leicht zu schwingen – je weiter oben, desto stärker –, und verstärkt noch durch das Gewicht des angehängten Gerüsts. Pererira ist schwindelfrei, aber: «Bis ich begriffen habe, warum sich der Turm bewegt, habe ich das gar nicht lustig gefunden.»

Sichern, sichern, sichern

Spricht Paulo Pereira von den Gefahren, dann nicht zuerst davon, dass er und seine Kollegen bis zu hundert Meter über Grund gearbeitet haben. Sondern davon: «Oft, wenn wir auf den Münsterplatz hinunterschauten, war er voller Leute, Passanten, Touristengruppen, Kinder. Von unserem Gerüst durfte einfach ganz sicher nichts hinunterfallen.»

Das war die grösste Herausforderung: ruhig und konzentriert arbeiten; Arbeitsmaterial immer bewusst ergreifen und deponieren; so schnell wie möglich Auffangnetze montieren; die leichten Aluminiumböden bei der Montage immer sofort fixieren: «Eine Windböe hätte genügt, um ein solches Brett wegzuheben.»

Nicht der kleinste Unfall ist passiert. Das gute Frühlingswetter hat mitgeholfen. Als allerdings ein-, zweimal gewittriger Regen aufgezogen ist, hat Pereira sich mit seinen Leuten sofort in den Turm zurückgezogen. Alle haben sie ja das Metallkreuz zuoberst gesehen: «Wegen der Blitzeinschläge ist teilweise geschmolzen und sieht aus wie eine halb abgebrannte Wachskerze.»

Die schönste Baustelle

Das fertige Gerüst wurde nicht nur von zwei Ingenieuren, dem Architekten der Münsterstiftung und Pereiras Chef, sondern auch von einem Suva-Mann abgenommen: «Diese Experte hat gesagt: ‘Ich gratuliere dir, Paulo, ich habe alles genau angeschaut und mit den Plänen verglichen und von zuunterst bis zuoberst nichts aufschreiben müssen.» Ein grosses Kompliment für einen Gerüstbauer, der vor neun Jahren als Handlanger angefangen hat und seither zum Spezialisten für schwierige Aufträge geworden ist. «Ich habe es einfach gern, wenn die Aufgabe neu und ein bisschen kompliziert ist», sagt er.

Der untere Teil des Münstergerüsts soll 2014 demontiert werden, der obere Teil aber bereits Ende dieses Jahres. Pereira rechnet damit, dass wieder seine Gruppe zum Einsatz kommt. «Bei der Demontage gibt es zwar weniger zu studieren als bei der Montage. Dafür ist bei Frost der Materialtransport vom Turm hinunter extrem gefährlich.» Vermutlich wird auch diese Arbeit wieder «ein bisschen kompliziert» – so wie er es liebt.

Gegen den Schluss des Gesprächs hat er übrigens gesagt: «Das Münster ist die schönste Baustelle, die ich bis jetzt gemacht habe. Was man bei gutem Wetter alles sieht von dort oben…»

 

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Gerüste statt Gemüse

Aufgewachsen ist Paulo Pereira (* 1976) in der portugiesischen Kleinstadt Marco de Canaveses. Hier absolvierte er neun Schuljahre und ging danach für sechs Jahre als Maurer und Schaler auf den Bau.

Anfang 1999 kommt er mit seiner Frau in die Schweiz, weil sie beide Verwandte hier haben. Drei Jahre arbeiten sie für einen Gemüsebauer in Treiten bei Müntschemier im Seeland. 2002 nimmt Pereira eine Stelle an bei der Lawil Gerüstbau AG Bern/Westschweiz, wo bereits ein Bruder von ihm als Gruppenführer arbeitet. Er lernt den Gerüstbau von der Pike auf und arbeitet heute selber als Gruppenführer.

Mit seiner Familie lebt er in Bern. Er ist Vater eines fünfjährigen Sohns und einer dreijährigen Tochter. Als Hobby nennt er seine Familie. Vor allem geht er am Feierabend gern mit seinen Kindern auf den Spielplatz.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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