Dialektik der Bildung

«Die Verkünder einer glücklichen globalisierten Welt sehen in den wachsenden Ungleichheiten, der Flexibilisierung der Arbeit und der Zerschlagung des Sozialstaates den Preis, der für eine höhere Effizienz der Wirtschaft zu zahlen ist.» Gegen diese «neoliberale Illusion» hat der französische Historiker Emmanuel Todd seinen grossen Essay «Über die Stagnation der entwickelten Gesellschaften» geschrieben. Originell und für ökonomische Laien leicht lesbar ist die Arbeit, weil sie nicht mit fachchinesischer Sprache in die innerökonomischen Glaubenskriege einzugreifen versucht, sondern mit ein bisschen spekulativer Logik der Diskussion um die Globalisierung einen überökonomischen Rahmen gibt. Dieser Ansatz ist dann nicht willkürlich, wenn man Todds These teilt, dass «das Wirtschaftssystem […] keineswegs Motor der Geschichte oder deren primäre Ursache» sei: «Es ist selbst nur eine Folge der Kräfte und Bewegungen, die auf tieferen Ebenen der gesellschaftlichen und geistigen Strukturen wirken.» Um die Krise der industrialisierten Welt vollständig in den Blick zu bekommen, müsse sie gleichzeitig auf der wirtschaftlichen, kulturellen und anthropologischen Ebene betrachtet werden.

Diese drei Ebenen verknüpft Todd mit folgenden Argumenten:

1. Die Krise des Neoliberalismus sei «das Ergebnis eines langfristigen Wandels des Bildungsniveaus verschiedener Bevölkerungen». Konkret: Die USA als «höchst entwickelte Gesellschaft, die bis vor kurzem eine führende Rolle in der Menschheitsentwicklung einnahm», sei um 1970 an «ein kulturelles Limit» gestossen. Hinter der «universalisierend-arroganten Fassade des Ultraliberalismus» verberge sich «die intellektuelle Abnützung der mächtigsten Nation».

2. Die Bildungspotenziale verschiedener Gesellschaften korrelieren mit zwei unterschiedlichen anthropologischen Systemen: der individualistischen «Kernfamilie» der angelsächsischen Welt und der integrativen «Stammfamilie», wie sie zum Beispiel in Deutschland oder Japan vorherrscht.

Aber was haben Familienstrukturen mit dem Bildungsniveau zu tun? Todd weist nach, dass sich Kern- und Stammfamilien in Bezug auf ihre durchschnittliche Kinderzahl und damit auf die Bildungschancen der einzelnen Kinder signifikant unterscheiden: «Es ist, als zwinge eine absolute Grenze, ein Limit, die Gesellschaften zur Wahl zwischen der Stagnation im Bildungsniveau, verbunden mit einer ausreichenden Reproduktion der Bevölkerung (amerikanisches Modell) und weiterem kulturellem Fortschritt um den Preis einer schrumpfenden Bevölkerung (Stammfamilienmodell).»

Die Familienstrukturen beeinflussen also das Bildungsniveau und dieses wiederum die wirtschaftlichen Entwicklung. Bleibt, die Beziehung zwischen der anthropologischen und der ökonomischen Ebene zu klären. Hier postuliert Todd zwei Formen des Kapitalismus, die Strukturelemente der jeweiligen Familientypen übernehmen: einerseits den «individualistischen Kapitalismus» (kurzfristige Optimierung der Unternehmensprofite, Überkonsumtion etc.), andererseits den «Stammkapitalismus» (Eroberung von Marktanteilen und Perfektionierung und Ausweitung der Produktion, Unterkonsumtion etc.). Die beiden Kapitalismen stehen sich als gleichermassen kohärent, aber unausgeglichen gegenüber.

In der Folge arbeitet Todd die widersprüchliche Wirkung heraus, die die Bildung als Motor des Kapitalismus hat: Fortschritt der Bildung treibt nicht nur den Kapitalismus an, er führt gleichzeitig zu einer Umwälzung der Gesellschaften «in eine inegalitäre Richtung», und zwar in den letzten Jahrzehnten in einem Ausmass, dass Todd von «einem gesellschaftlichen Ungleichheitswahn» spricht, «der sich an einer ungezügelten Umschichtung der Einkommensverteilung» ausdrücke. Diese Zerstörung des Gleichheitsideals durch die Bildungseliten hat auch staatspolitische Folgen – insbesondere führt sie geradewegs zu einem «Antinationalismus», dem «die Nation, die Arm und Reich in ein Solidaritätsnetz einbindet, […] ein permanentes Ärgernis» ist.

Der antinationalistische Impuls des Neoliberalismus wird nach Todd nicht zuletzt von einen antisozialen Impuls nationaler Bildungseliten genährt, deren Ideologie als «Nulldenken» sei, ein Denken, bei dem es «im Wesentlichen» um die «Anbetung des Geldes, die Beteuerung der Toleranz und die Ablehnung der Nation» gehe und das sich damit begnüge, «die Unvermeidlichkeit dessen zu proklamieren, was ist oder was sein wird». Dieses Denken hat verheerende Folgen: Es führt soziologisch zum «Zusammenbruch der Gruppe» und als Konsequenz zum «Zusammenbruch des Individuums» und zum «Passivismus», der durch die «Glorifizierung der Machtlosigkeit» die Unterwerfung unter den Freihandel erst erzwinge. Das Beunruhigende an dieser unbezweifelbar realitätshaltig geschilderten Denkperversion ist ihre Eigenschaft, trotz (oder gerade wegen) ihrer allseitigen Verleugnung zu wirken: «Die wirtschaftlich privilegierten Schichten unterstützen das Nulldenken, ohne so recht daran zu glauben oder es zu verteidigen, während es diejenigen, die darunter leiden, mit all der Zwiespältigkeit ablehnen, die der Verweigerung von etwas eigen ist, das es gar nicht gibt.»

Mit seiner ganzen Argumentation zielt Todd schliesslich auf die Umkehrung des landläufigen Vorurteils, dass die neoliberale Globalisierung die Nationen auflöse: Im Gegenteil führe die «Selbstauflösung der Nationen» zur Globalisierung und nur ihre «Wiederherstellung» könne jene überwinden. Not tue deshalb «ein radikaler Überzeugungswandel, der den Glauben an eine vernünftige Gemeinschaft, die Nation, wieder belebt».

Das Buch ist nicht zuletzt eine brillant vorgetragene Antithese gegen jede Art blauäugiger linker Europa-Euphorie – auch gegen jene in der Schweiz. Es mag zwar sein, dass der EU-Beitritt als politischer Nachvollzug neoliberaler Zwänge aus linker Sicht alles in allem wünschbar ist – aber blauäugig ist es, ihn herbeizuwünschen, ohne von der dadurch ausgelösten Einebnung von kleinräumigen anthropologischen und bildungspolitischen Strukturen zu sprechen, die den Neoliberalismus erst als das zeigt, was er ist: eine ökonomische Macht mit unabsehbarer kulturpolitische Destruktionskraft.

Emmanuel Todd: Die neoliberale Illusion. Über die Stagnation der entwickelten Gesellschaften. Zürich (Rotpunktverlag) 1999.

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