1996

 

[60: leer; 61: Titel; 62]

kinderverse

 

elementarunterricht

ein tier geht still und schleicht allein

auf einem hohen goldnen bein

geht unsichtbar stadtaus landein

und frisst und frisst in wald und hain

das böse menschenwörtlein nein

 

wie loben und wie feiern da

die guten menschen fern und nah

das tier das keiner jemals sah

und suhlen sich mit jupeida

in einem ozean aus ja

 

märchenstunde

dass ich rumpelstilzchen heiss?

dass ich keinen schatten schlage!

weil ich tage überrage

und die schattenwege wage!

            ach wie gut dass niemand weiss

            dass in schwarzem widerlicht

            ich mein spiegelbild ertrage

            und mir blindgestiert entsage

nur ich weiss: mich gibt es nicht

ich verliere schicht um schicht

mich als riesen und als wicht

            an die leere meiner tage

            weil ich sieben masken trage

            und dahinter kein gesicht

 

[63]

kleines einmaleins

kreise sind rund

neunundneunzigecke sind neunundneunzigeckig

neunecke sind neuneckig

dreiecke sind dreieckig

zweiecke sind zweieckig

einecke sind eineckig

menschen sind keine tiere

 

logik: grundkurs

komm mama dieses rehlein schau

ruft laut ein kind und eine frau

kommt her schaut durch den zaun und denkt

was wohl das arme tier hier denkt

das tier denkt: traurig hinterm zaun

sind doch die menschen anzuschaun

 

himmelskunde

die bäume stehen schön entlaubt

und quietschen froh mit den scharnieren

im astwerk sehr exakt verschraubt

sitzt einer still und leergeglaubt

und simuliert den ruf von tieren

 

das wasser stürzt vom katarakt

von pumpen talwärts fortgetrieben:

der alte rufer ist verkackt

und kalt zum steingrund abgesackt

und wird zu wahn und traum zerrieben

 

[64]

der wind steht industriell geweht

vor keuchenden fabrikgebläsen

solang nicht wer den schalter dreht

 

hier irgendwo ist gott gewesen

 

kunstgeschichte 

das unübersichtliche?

fragt das gras

und sieht das licht

und die nacht

 

das unübersichtliche?

fragen die kühe

und sehen peitsche

und zaun

 

das unübersichtliche?

fragen die kinder

und sehen den tod

hinterm leben

 

das unübersichtliche

beschwören die grossen

und sehen nichts

als sich selbst

 

[65]

kleine poetik

ein dichter erhielt vom publikum hiebe:

so viele verse und nirgends die liebe

 

da sagte der dichter: gesucht hab ich sie

in den wörtern gefunden allerdings nie

 

von volk und heimat 

früher hatten wir hier unseren dorfladen

alle sagten: wir kaufen im dorfladen

dann kam die migros und dann mac donalds

 

langezeit kauften wir nie dort ein

wir kauften weiterhin im dorflädeli

wir liebten unser dorflädeli

 

wir stehen zu unserem dorflädeli

wir sind hier nur ein dorflädeli

dafür sind wir unabhängig und frei

 

staatsbürgerkunde

glaub nicht

was die eltern sagen

schau was sie tun

 

glaub nicht

was die lehrer sagen

schau was sie tun

 

[66]

glaub nicht

was du sagst

schau was du tust

 

glaub nicht

was ich sage

(Zyklus: 1991-2004)

v11.5