[60: leer; 61: Titel; 62]
kinderverse
elementarunterricht
ein tier geht still und schleicht allein
auf einem hohen goldnen bein
geht unsichtbar stadtaus landein
und frisst und frisst in wald und hain
das böse menschenwörtlein nein
wie loben und wie feiern da
die guten menschen fern und nah
das tier das keiner jemals sah
und suhlen sich mit jupeida
in einem ozean aus ja
märchenstunde
dass ich rumpelstilzchen heiss?
dass ich keinen schatten schlage!
weil ich tage überrage
und die schattenwege wage!
ach wie gut dass niemand weiss
dass in schwarzem widerlicht
ich mein spiegelbild ertrage
und mir blindgestiert entsage
nur ich weiss: mich gibt es nicht
ich verliere schicht um schicht
mich als riesen und als wicht
an die leere meiner tage
weil ich sieben masken trage
und dahinter kein gesicht
[63]
kleines einmaleins
kreise sind rund
neunundneunzigecke sind neunundneunzigeckig
neunecke sind neuneckig
dreiecke sind dreieckig
zweiecke sind zweieckig
einecke sind eineckig
menschen sind keine tiere
logik: grundkurs
komm mama dieses rehlein schau
ruft laut ein kind und eine frau
kommt her schaut durch den zaun und denkt
was wohl das arme tier hier denkt
das tier denkt: traurig hinterm zaun
sind doch die menschen anzuschaun
himmelskunde
die bäume stehen schön entlaubt
und quietschen froh mit den scharnieren
im astwerk sehr exakt verschraubt
sitzt einer still und leergeglaubt
und simuliert den ruf von tieren
das wasser stürzt vom katarakt
von pumpen talwärts fortgetrieben:
der alte rufer ist verkackt
und kalt zum steingrund abgesackt
und wird zu wahn und traum zerrieben
[64]
der wind steht industriell geweht
vor keuchenden fabrikgebläsen
solang nicht wer den schalter dreht
hier irgendwo ist gott gewesen
kunstgeschichte
das unübersichtliche?
fragt das gras
und sieht das licht
und die nacht
das unübersichtliche?
fragen die kühe
und sehen peitsche
und zaun
das unübersichtliche?
fragen die kinder
und sehen den tod
hinterm leben
das unübersichtliche
beschwören die grossen
und sehen nichts
als sich selbst
[65]
kleine poetik
ein dichter erhielt vom publikum hiebe:
so viele verse und nirgends die liebe
da sagte der dichter: gesucht hab ich sie
in den wörtern gefunden allerdings nie
von volk und heimat
früher hatten wir hier unseren dorfladen
alle sagten: wir kaufen im dorfladen
dann kam die migros und dann mac donalds
langezeit kauften wir nie dort ein
wir kauften weiterhin im dorflädeli
wir liebten unser dorflädeli
wir stehen zu unserem dorflädeli
wir sind hier nur ein dorflädeli
dafür sind wir unabhängig und frei
staatsbürgerkunde
glaub nicht
was die eltern sagen
schau was sie tun
glaub nicht
was die lehrer sagen
schau was sie tun
[66]
glaub nicht
was du sagst
schau was du tust
glaub nicht
was ich sage
(Zyklus: 1991-2004)