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live-übertragung
wurf dämmrigen lichts dann wieder der
fremde ton hinter der store ein trauernder
laut noch schweigt der wecker was ist? ein
schmerzschrei vorm fenster ein trüber tag
ein stadtmorgen grau im miethaus drüben
ein fenster geöffnet ein erster vogel
zwischen dem singsang der trostlosen
klage ein aufschrei aus haltlosem weinen
zweifellos genau jetzt versinkt eine welt in
der strasse der zeitungsverträger zu tun ist
nichts davongekommen für diesmal mich
erwartet ein normales tagwerk und kaffee
(1996; in der Druckversion Blocksatz)
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über zimmerwald hinaus
und wenn du von der welt hinunter
müsstest und hättest nichts erreicht und all
das gutgemeinte kapriolenschlagen
wäre nichts als ein bakterienschiss
im darm der weltmaschine
sie aber frässe weiter mensch
und material ununterschieden und spuckte
leichengold auf leichengold und türmte es
gebirgehoch und wüstenweit
und auf der bahnstation in kaufdorf unten
gehts links nach bern und rechts nach
thun und einer wartet schon im weissen
sonntagslicht am leeren gleis man
nickt sich zu und ungefragt schnarrt
seine automatenstimme: und
wenn du von der welt hinunter
müsstest und hättest nichts
gesehn als was du weisst
im ungemähten hang bei falebach
ob toffen stand ungesehn das gras
bis an die knie: dort blühten kerbel
hahnenfuss skabiose günsel
gänseblümchen knöterich margeriten
löwenzahn und storchenschnabel und
im steilen wald entlang der sandsteinfluh
ob guetenbrünnen der herbe
bärlauch: weiss
(1991)
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vorhofflimmern
die fluh bricht aus fliegt firnwärts weg
im grund des himmels steht der hall
rot kommt der fluss das tal herauf
zerbirst am fels als wasserfall
mein herz will nichts als schlagen
die sonne wirft ihr lautes licht
den taubgeträumten vor das ohr
der neue chef zieht fesseln an
und grüsst zur arbeitskraft empor
mein herz soll nichts als schlagen
das winken wird im stossverkehr
dem polizisten angetan
seit jeher fährt am tod entlang
der atemzug nach taktfahrplan
mein herz kann nichts als schlagen
ein uhrwerk stockt das zehnuhrlicht
versteift und bleibt dann plötzlich stehn
als wahrheit scheint ein flimmern auf
die sendezeit wird weitergehn
(1991)
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mezzo del cammin’
I
als wäre ein gipfel erreicht: überblickbar
von hier das erstrittne und das zugefallene
freundlich gleissen die unbestiegenen gipfel
so vieles schon hat sich erübrigt
freundlich lösen die wolkenschiffe sich auf
freundlich der augenblick: doch
schattenwärts führen nun alle wege
II
das erstgehoffte versank
das versunkne ist weggekippt
schon blühen im kopf
die steinblumen der letzten bilder:
ein erster gang in die welt zwischen vater und mutter
ein verletzender tadel vor versammelter klasse
eine laufkontrolle auf dem kasernenplatz
eine lebensangst vor dem messer im schrank
getreulich jedoch bis hierher
trug mein körper eine fremde seele:
ertrug ich mich selbst
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III
und die kämpferinnen des kalten feuers? verbrannt
die sänger der drehtürenwelt? verstummt
die augentänzerinnen und lichtkoserinnen? versunken und versengt
aber die tollkühnen geländergänger? abgestürzt alle
empfindungslos lockt die sonne vorwärts
zurückbleiben wozu? niemand folgt nach
den ich kennte
IV
hinter dem licht lacht immer
der tod: nur wenig trägt
was trägt macht träge
vom mittagsglanz blind:
leben soweit das auge reicht
(1995)
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Monte Arbòstora
Blendende Inseln des Lichts: Umschlossen von schwankenden Schatten
leuchtet der grüne Farn durch den Kastanienwald.
Kühl ist hier der Morgen nach dem Gewitter des Abends,
zwischen nassdunklem Moos trocknet der weissliche Kalk.
Über Wurzeln und Blöcke windet sich hangwärts der Fussweg
erdig gepolstert mit dunkel verfaulendem Laub.
Trotzig hüten die Lorbeerbäume in Mulden die Stille
und den strengen Geruch einer verlorenen Zeit.
Pilze? Riecht es nach Pilzen? Im Laubwerk singen die Vögel
wie sichs gehört ihr Lied. Angenehm geht es sich hier.
Dann auf einer Terrasse eine Schonung mit jungen
Birken, flirrendes Laub vor dem verblauenden Dunst.
Bis an den Monte Lema unter Wolkengebirgen
geht von hier aus der Blick über die Wälder hinaus,
und in der Tiefe windet sich schmal der See um den Hügel.
Steil und strassengesäumt liegt das Ufer verbaut.
Vorn am Rande der Lichtung von Figino herauf jetzt
plötzlich hektischer Lärm. Eine Sirene schreit auf –
Stille. Nichts als der Atem. Das himmelwärts schattig Verwachsne
zittert in Wind und Schein. Trügt nicht das Sichtbare stets?
Nutzloses Wissen, dass die versteinerte Macht des Gewordnen
einmal aus Werdendem wuchs. Denken kommt immer zu spät,
ist die Landschaft erst restlos fertig gebaut als Gefängnis.
Dann geht zwar freundlich der Weg, führt aber endlos im Kreis
hin zu den Kassenhäuschen. Wer hier weilt, träumt keine Welt mehr,
glaubt ans Gewordne und sucht, wenn die Sirene ertönt,
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nach den Rissen im Eignen. «Natur!» pfeifen munter die Vögel
ohne zu lügen ins Grün: Aufrichtig zwitschert ihr Lied
durch die kaschierte Parkwelt, preislich geeignet als Stauraum
für das floatende Volk, das sich hier reproduziert.
Unter dem Berg liegt die Piste, die Hamburg mit Reggio verbindet.
Niemand zwingt hier zum Glück: Zahlenden ist es erlaubt,
weiter zu gehen, als wäre ein Ziel am Ende des Waldwegs;
Atem zu schöpfen, als sei plötzlich das Ich wieder ganz.
(1998)
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tropflochhöhle
in mulden schwärzlicher schnee soldanellen
daneben das niedergepresste gras
das föhnige licht: gleissendes glas
buckelnder kalkfels in stufen und wellen
die karrenfelder der sieben hengste
weiss über moorig federndem grund:
hier supponiert abstrakt und wund
ein lyrisches ich exemplarisch ängste
vor skizzierten beständen an welt:
bühne von serbelnden tannen umstellt
die eine spielfigur umstellen
seele-entblössende reden: belege
wofür? leuchtet nicht weissrot die signatur
für die seit jeher begangene spur?
das eigne führt auf verwunschene wege
als wortwahn der sich als lallen zeigt
statt welt erkennbar und nennbar zu machen
der niedrig sich öffnende höhlenrachen
verschlingt das trotzig gewähnte und schweigt
lichtwärts aber aus kalksteinrissen
entrollen sich farne: weil sie es müssen
gelebt allein durch schicksalsschläge
der zwang zur lügenden wahrrede: nötige nacht
die stille im hochmoor: gebärde des seins
im schacht das klopfen der tropfen: herzschlag des steins
meine wörter: knechte der macht
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das sehen über das sagbare treiben
die rede muss unabschliessbar bleiben
(1991)