1994


 

[42: leer; 43: Titel; 44]

live-übertragung

 

wurf dämmrigen lichts dann wieder der

fremde ton hinter der store ein trauernder

laut noch schweigt der wecker was ist? ein

schmerzschrei vorm fenster ein trüber tag

 

ein stadtmorgen grau im miethaus drüben

ein fenster geöffnet ein erster vogel

zwischen dem singsang der trostlosen

klage ein aufschrei aus haltlosem weinen

 

zweifellos genau jetzt versinkt eine welt in

der strasse der zeitungsverträger zu tun ist

nichts davongekommen für diesmal mich

erwartet ein normales tagwerk und kaffee

(1996; in der Druckversion Blocksatz)

 

[45]

über zimmerwald hinaus

 

und wenn du von der welt hinunter

müsstest und hättest nichts erreicht und all

das gutgemeinte kapriolenschlagen

wäre nichts als ein bakterienschiss

im darm der weltmaschine

sie aber frässe weiter mensch

und material ununterschieden und spuckte

leichengold auf leichengold und türmte es

gebirgehoch und wüstenweit

 

und auf der bahnstation in kaufdorf unten

gehts links nach bern und rechts nach

thun und einer wartet schon im weissen

sonntagslicht am leeren gleis man

nickt sich zu und ungefragt schnarrt

seine automatenstimme: und

wenn du von der welt hinunter

müsstest und hättest nichts

gesehn als was du weisst

 

im ungemähten hang bei falebach

ob toffen stand ungesehn das gras

bis an die knie: dort blühten kerbel

hahnenfuss skabiose günsel

gänseblümchen knöterich margeriten

löwenzahn und storchenschnabel und

im steilen wald entlang der sandsteinfluh

ob guetenbrünnen der herbe

bärlauch: weiss

(1991)

 

[46]

vorhofflimmern

 

die fluh bricht aus fliegt firnwärts weg

im grund des himmels steht der hall

rot kommt der fluss das tal herauf

zerbirst am fels als wasserfall

mein herz will nichts als schlagen

 

die sonne wirft ihr lautes licht

den taubgeträumten vor das ohr

der neue chef zieht fesseln an

und grüsst zur arbeitskraft empor

mein herz soll nichts als schlagen

 

das winken wird im stossverkehr

dem polizisten angetan

seit jeher fährt am tod entlang

der atemzug nach taktfahrplan

mein herz kann nichts als schlagen

 

ein uhrwerk stockt das zehnuhrlicht

versteift und bleibt dann plötzlich stehn

als wahrheit scheint ein flimmern auf

die sendezeit wird weitergehn

(1991)

 

[47]

mezzo del cammin’

 

I

als wäre ein gipfel erreicht: überblickbar

von hier das erstrittne und das zugefallene

freundlich gleissen die unbestiegenen gipfel

so vieles schon hat sich erübrigt

freundlich lösen die wolkenschiffe sich auf

freundlich der augenblick: doch

schattenwärts führen nun alle wege

 

II

das erstgehoffte versank

das versunkne ist weggekippt

schon blühen im kopf

die steinblumen der letzten bilder:

ein erster gang in die welt zwischen vater und mutter

ein verletzender tadel vor versammelter klasse

eine laufkontrolle auf dem kasernenplatz

eine lebensangst vor dem messer im schrank

getreulich jedoch bis hierher

trug mein körper eine fremde seele:

ertrug ich mich selbst

 

[48]

III

und die kämpferinnen des kalten feuers? verbrannt

die sänger der drehtürenwelt? verstummt

die augentänzerinnen und lichtkoserinnen? versunken und versengt

aber die tollkühnen geländergänger? abgestürzt alle

empfindungslos lockt die sonne vorwärts

zurückbleiben wozu? niemand folgt nach

den ich kennte

 

IV

hinter dem licht lacht immer

der tod: nur wenig trägt

was trägt macht träge

vom mittagsglanz blind:

leben soweit das auge reicht

(1995)

 

[49]

Monte Arbòstora

 

Blendende Inseln des Lichts: Umschlossen von schwankenden Schatten

leuchtet der grüne Farn durch den Kastanienwald.

Kühl ist hier der Morgen nach dem Gewitter des Abends,

zwischen nassdunklem Moos trocknet der weissliche Kalk.

Über Wurzeln und Blöcke windet sich hangwärts der Fussweg

erdig gepolstert mit dunkel verfaulendem Laub.

Trotzig hüten die Lorbeerbäume in Mulden die Stille

und den strengen Geruch einer verlorenen Zeit.

Pilze? Riecht es nach Pilzen? Im Laubwerk singen die Vögel

wie sichs gehört ihr Lied. Angenehm geht es sich hier.

Dann auf einer Terrasse eine Schonung mit jungen

Birken, flirrendes Laub vor dem verblauenden Dunst.

Bis an den Monte Lema unter Wolkengebirgen

geht von hier aus der Blick über die Wälder hinaus,

und in der Tiefe windet sich schmal der See um den Hügel.

Steil und strassengesäumt liegt das Ufer verbaut.

Vorn am Rande der Lichtung von Figino herauf jetzt

plötzlich hektischer Lärm. Eine Sirene schreit auf –

Stille. Nichts als der Atem. Das himmelwärts schattig Verwachsne

zittert in Wind und Schein. Trügt nicht das Sichtbare stets?

Nutzloses Wissen, dass die versteinerte Macht des Gewordnen

einmal aus Werdendem wuchs. Denken kommt immer zu spät,

ist die Landschaft erst restlos fertig gebaut als Gefängnis.

Dann geht zwar freundlich der Weg, führt aber endlos im Kreis

hin zu den Kassenhäuschen. Wer hier weilt, träumt keine Welt mehr,

glaubt ans Gewordne und sucht, wenn die Sirene ertönt,

 

[50]

nach den Rissen im Eignen. «Natur!» pfeifen munter die Vögel

ohne zu lügen ins Grün: Aufrichtig zwitschert ihr Lied

durch die kaschierte Parkwelt, preislich geeignet als Stauraum

für das floatende Volk, das sich hier reproduziert.

Unter dem Berg liegt die Piste, die Hamburg mit Reggio verbindet.

Niemand zwingt hier zum Glück: Zahlenden ist es erlaubt,

weiter zu gehen, als wäre ein Ziel am Ende des Waldwegs;

Atem zu schöpfen, als sei plötzlich das Ich wieder ganz.

(1998)

 

[51]

tropflochhöhle

 

in mulden schwärzlicher schnee soldanellen

daneben das niedergepresste gras

das föhnige licht: gleissendes glas

buckelnder kalkfels in stufen und wellen

die karrenfelder der sieben hengste

weiss über moorig federndem grund:

          hier supponiert abstrakt und wund

          ein lyrisches ich exemplarisch ängste

          vor skizzierten beständen an welt:

          bühne von serbelnden tannen umstellt

          die eine spielfigur umstellen

 

          seele-entblössende reden: belege

          wofür? leuchtet nicht weissrot die signatur

          für die seit jeher begangene spur?

          das eigne führt auf verwunschene wege

          als wortwahn der sich als lallen zeigt

          statt welt erkennbar und nennbar zu machen

der niedrig sich öffnende höhlenrachen

verschlingt das trotzig gewähnte und schweigt

lichtwärts aber aus kalksteinrissen

entrollen sich farne: weil sie es müssen

gelebt allein durch schicksalsschläge

 

der zwang zur lügenden wahrrede: nötige nacht

die stille im hochmoor: gebärde des seins

im schacht das klopfen der tropfen: herzschlag des steins

meine wörter: knechte der macht

 

[52]

das sehen über das sagbare treiben

die rede muss unabschliessbar bleiben

(1991)

v11.5