«Die gründliche Sanierung des Zigeunerunwesens»

«Wer die Vagantität erfolgreich bekämpfen will, muss versuchen, den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen, er muss, so hart das klingen mag, die Familiengemeinschaft auseinanderzureissen. Einen anderen Weg gibt es nicht.»

(Alfred Siegfried, 1943, vgl. Fussnote 3)

Vor einiger Zeit hatte die Schriftstellerin Mariella Mehr, selber ein Opfer des «Pro Juventute»-«Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse», ein Paket Papier in der Post. Was ihr anaonym zugeschickt wurde, stammte aus dem Keller des «Pro Juventute»-Zentralsekretariats an der Seefeldstrasse in Zürich und war der Aktenordner Nr. 4, ihre Person betreffend. Auf mehreren hundert Seiten sind acht Jahre aus dem Leben des Mündels M. M. pingelig genau dokumentiert, die perfekte professionelle Schnüffelarbeit der Fürsorgerin Clara Reust: Briefe von M. M., Reusts Briefe und Gutachten an Private und Institutionen über M. M. , ärztliche Befunde, psychiatrische Gutachten, Gesprächsabschriften, Telefonprotokolle, interne Notizen, Rechnungen, Indiskretionen, Bespitzelungen, Verleumdungen, üble Nachreden, Ehrverletzungen, fürsorgerische Projektionen. Beim Durchblättern dieses enormen Dossiers sind nicht die krassen Formulierungen das Erschreckende, sondern die bürokratische Akribie, mit der der erschnüffelte Alltag eines institutionell unmündig gehaltenen Menschen dokumentiert und fast von Tag zu Tag die sich selbsterfüllende Prophezeiung belegt wird, dass sich die Institution nicht irren kann. Dabei waren der «Hilfswerk»-Gründer Alfred Siegfried und Clara Reust nicht zwei bedauernswerte Wildgewordene, die ganz für sich fürsorgerischen Wahnsinn als Selbstbefriedigung betrieben. Die Zielvorstellung einer möglichst zigeunerfreien Schweiz stammt noch aus dem letzten Jahrhundert.

Anarchie täglich in der Tat

Seit dem Spätmittelalter bekämpften die Sesshaften der Eidgenossenschaft die Fahrenden mit Niederlassungs- und Durchgangsbewilligungen. 1471 beschloss die Tagsatzung, «dass man die Zeginer fürderhin hausen noch beherbergen soll». Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich die Tagsatzung immer wieder mit den Fahrenden zu beschäftigen. Aber erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als das Bürgertum mit dem Aufbau der frühkapitalistischen Wirtschaftsstruktur zur normgebenden Instanz der sesshaften Gesellschaft wurde, wurden die Fahrenden in ihrem kulturellen Selbstverständnis wirklich existentiell bedroht. «Das wichtigste Prinzip des bürgerlichen Normsystems bestand in der Unterscheidung von produktiven (positiv bewerteten) und unproduktiven (negativ bewerteten) Teilen der Bevölkerung, wobei die Fahrenden aufgrund ihrer unregelmässigen, ausschliesslich für die Deckung des aktuellen Bedarfs bestimmten, handwerklichen Arbeit, d. h. auch ihrer voraussehbaren Ablehnung gegenüber Lohnarbeit in städtischen Grossbetrieben, als unproduktive ‘Müssiggänger’ definiert und sanktioniert wurden.» [1]

Dazu standen die Zigeuner als Volk ohne Staat, das nie den Wunsch hatte, einen solchen zu bilden, im Widerspruch zum ausgeprägten nationalstaatlichen Denken der damaligen Zeit, so der Historiker Franz Egger. In einem «Programm betreffend Bekämpfung der Zigeunerplage» schrieb der Bundesbeamte Eduard Leupold im Herbst 1911: «Die Zigeuner sind somit refraktär [unempfänglich, fl.] gegen jede bürgerliche Ordnung und staatliche Autorität, und zwar nicht nur theoretisch, wie viele Bekenner anarchistischer Theorien, sondern täglich in der Tat.»[2]

In seiner Funktion als Adjunkt der Polizeiabteilung des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) beschäftigte sich Eduard Leupold ab 1905 in besonderem Masse mit der Zigeunerfrage. Nach einem Besuch der bayrischen Zigeunerzentrale in München schrieb er 1907 in seinem Bericht: «Wir haben in den letzten Jahren derart unter der Zigeunerplage gelitten (…), dass eine Zentralisation des bezüglichen Nachrichtenwesens für das Gebiet der Gesamt-Schweiz dringend nottut. Ich möchte auch für unser Land die Errichtung eines Zigeunerregisters empfehlen.» (Himmler hat ab 1938 dieses Münchner Zigeunerregister als Grundlage für die totale Erfassung und planmässige Ausrottung der Zigeuner im Dritten Reich verwendet.) Neben dem zentralen Zigeunerregister forderte Leupold vier Jahre später im bereits erwähnten «Programm» eine Anzahl Anstalten, wo die Zigeuner gegen Kostgeld interniert werden sollten; dazu Anthropometrie (Körpervermessung) und Daktyloskopie (Fingerabdruckverfahren) zur eindeutigen Identifizierung und Führung lückenloser Strafregister; dazu die Ausweisung der schriftenlosen Fahrenden.

Bereits 1912 wurden Leupolds Vorschläge in die Tat umgesetzt. Im EJPD wurde eine Zigeunerregistratur geschaffen, die Strafanstalt Witzwil nahm die männlichen Fahrenden in «Identifikationshaft». War diese Identifikation abgeschlossen, schob man die Leute über die deutsche oder die französische Grenze ab. Egger schreibt: «Auf der ideellen Ebene ging es um die Vernichtung des Zigeunertums, auf praktischer Ebene um die Fernhaltung der Zigeuner vom Gebiet der Eigenossenschaft. Mit dem Abschieben von schriftenlosen Personen setzte sich die Schweiz in Widerspruch zu internationalen Verträgen. Sie strebte deshalb eine Zwangseinbürgerung der Zigeuner an, verteilt auf die verschiedenen europäischen Staaten, um dadurch ihre Haltung zu legitimieren.» Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzte diesen Plänen ein Ende.

Bund bittet um sanierendes Einschreiten

«Die Zigeuner führen eine gesetzlose Existenz, sie (…) bilden eine beständige Belästigung unserer Bevölkerung, leben vom Betteln, verbotenen Wandergewerben und von Frevel und Diebereien aller Art. Sie sind eine Landplage, deren Sanierung die Behörden bisher vergeblich versuchten.» So sagte es 1911 Leupold. «Die Besonderheit und Schwierigkeit liegt aber bei den Fahrenden darin, dass sie (…) auf Grund [ihrer] Verwahrlosung einen engen Verband bilden, dass nicht nur ganze Familien, sondern bis zu mehreren Hunderten zählende Sippen diese negative, gesellschaftsfeindliche, amoralische Haltung und Lebensweise einnehmen und sie bewusst und absichtlich auch ihren Nachkommen einpflanzen.» So sagte es Siegfried 1943.[3]

Trotz der geschlossenen Grenzen während des Ersten Weltkriegs hatte sich das «Vagantenproblem» nämlich in der Schweiz nicht gelöst. Zwar hatte man bereits zwischen 1833 und 1850 versucht, Fahrende mittels Einbürgerung in die sesshafte Gesellschaft zu integrieren. Diese Fahrenden erhielten zwar schweizerische Papiere, versuchten jedoch weiterhin das Unmögliche, in der Schweiz zu überleben ohne Standplätze, ohne im mindesten tragfähige ökonomische Grundlagen, ohne jede kulturelle und soziale Akzeptanz, ohne Zukunft. nach der Jahrhundertwende schien die Zeit reif für die «gründliche Sanierung des Zigeunerunwesens», wie es der Bundesrat 1906 in einem Kreisschreiben an die Kantonsregierungen formulierte.

Über die Anfänge des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» 1926 hat sein Mitbegründer Siegfried später geschrieben: «[Eines Tages langte] bei Pro Juventurte ein hochamtlicher Brief aus dem Bundeshaus an, in welchem die Stiftung auf die Gefährdung der Kinder fahrender Familien aufmerksam gemacht und der Erwartung Ausdruck gegeben wurde, die Stiftung werde Mittel und Wege finden, um da sanierend einzuschreiten.[4] Die «Pro Juventute» fand den Weg: das «Hilfswerk», das sie willfährig ins Leben rief. Und sie fand die Mittel: Von den 1,317 Millionen Franken, die das «Hilfswerk» zwischen 1926 und 1948 aufwendete, waren 218000 Franken Bundesubventionen, 689000 Franken Beiträge von Gemeinden, Kantonen und Vereinen und 410000 Franken Spenden von «Freunden und Gönnern», wie Siegfried 1948 im «Hilfswerk»-Mitteilungsblatt auflistete. Mit freiwilligen Beiträgen hat darüberhinaus eine Anzahl von Bezirkskassen das «Hilfswerk» unterstützt[5]. Unbestreitbar ist, dass das «Hilfswerk» in der damaligen Gesellschaft dem Zeitgeist entsprach, der im Geist der Eugenik das als minderwertig erkannte Leben ausmerzen wollte. Die «Sanierung der Zigeunerplage» war in der sesshaften Öffentlichkeit derart breit abgestützt, dass sie in der Schweiz noch mehr als zwei Jahrzehnte über den Niedergang des Hitler-Faschismus hinaus als gute Tat an Kindern verkauft werden konnte.

1936 hat Siegfried das Ziel des «Hilfswerks» so umschrieben: «Aus der Erkenntnis heraus, dass das Herumziehen ohne festen Wohnsitz, das Vagieren mit Frau und Kind in unseren komplizierten modernen Verhältnissen an und für sich ein Übel ist und eine Quelle sich fortpflanzender Verwahrlosung, haben wir uns vorgenommen, einen möglichst grossen Teil der heranwachsenden Generation an eine sesshafte Lebensweise und an geregelte Arbeit zu gewöhnen.»[6] Die Methode, die das «Hilfswerk» wählte, bedeutete für die Fahrenden auf die Dauer entweder totale Integrierung in die sesshafte Lebensweise (also: «Beton-Zigeuner» zu werden) oder Kriminalisierung respektive Pathologisierung – in beiden Fällen Vernichtung der eigenen Identität.

Entscheidend für Siegfried war, dass er den Eltern die Kinder so früh wie möglich wegnehmen konnte, damit «die ungünstigen Einflüsse ihrer Umgebung ihnen noch keinen bleibenden Schaden haben zufügen können»[7]. Werden die Kinder zu spät erfasst, wird «die von klein auf eingepflanzte Abneigung gegen ehrliches Handwerk» so gross, dass «ohne dauernde Internierung kein Erfolg zu erwarten ist». War es erst gelungen, den Eltern – gestützt auf die Artikel 283 bis 285 des Zivilgesetzbuches – die Kinder wegzunehmen, so war wichtig, den Kontakt zwischen Eltern und Kindern sofort und vollsträndig unterbinden zu können, denn «die Vaganten reissen in einer Stunde nieder, was in jahrelanger Erziehungsarbeit an ihren Kindern aufgebaut worden ist». Die Kinder verschwanden deshalb in Heimen und Anstalten oder, oft unter falschem Namen, bei Pflegeeltern, die vornehmlich in einfachen Verhältnissen gesucht wurden, denn «wir wissen doch, dass die meisten unserer Schützlinge den Anforderungen eines gehobenen Milieus später nicht gewachsen sein werden.»

Ein Steckenpferd von Siegfried war es, seine Erfolgsquoten öffentlich darzulegen und zu kommentieren. 1936 zum Beispiel zählte er von den 92 Jugendlichen, die er damals umerzog, 30 zu Dressurerfolgen, 34 seien «wenig zuverlässig» und 28 «unverbesserlich». Um die hohe Zahl der Misserfolge zu begründen, bastelte Siegfried dauernd an Erklärungsmodellen: «Die vielen Erfahrungen erzieherischer und juristischer Art wurden sorgfältig ausgewertet, Kartotheken und Stammbäume über ganze Familien wurden angelegt (…).» Als Siegfried dann 1964 sein Zigeunerregister – zwar mit verstellten, aber rekonstruierbaren Namen – in seinem Buch «Kinder der Landstrasse» teilweise veröffentlichte, wurde an Beispielen klar, was er schon früher theoretisch gesagt hatte, dass nämlich bei einer derartigen Ansammlung von «Schwachsinnigen oder offensichtlichen Psychopathen» oft nur die «dauernde Bevormundung oder Internierung» den «Rückfall in die frühere Lebensart vermeiden» konnte. Diese «Hoffnungslosen» wurden «wenn auch nicht eigentlich gebessert, so doch versorgt, so dass die Gefahr der Familiengründung durch diese ausgesprochenen Idioten nicht mehr besteht». So konnte dann zum Beispiel bei einem Mädchen «Erfolg wenigstens insoweit» verzeichnet werden, als es «ohne Aufsicht ganz bestimmt einem reichlichen Nachwuchs das Leben geschenkt hätte!»

Das war Siegfrieds «Sanierung der Zigeunerplage»: Wer nicht integrierbar war, wurde daran gehindert, Kinder zu haben. So müssten sich doch die Fahrenden mit der Zeit ganz von selbst in Luft auflösen, ohne dass auch nur ein Mensch vergast und durch den Kamin geschickt werden müsste, oder?

Keine Rede von Wiedergutmachung

Nein, Siegfried hat sich nichts vorzuwerfen. Er wurde 1958 pensioniert und schrieb danach über sein Lebenswerk das 1964 erschienene Buch, das vom Zentralsekretariat der «Pro Juventute» herausgegeben worden ist[8]. Im Klappentext steht: «Die Schweizerische Stiftung Pro Juventute freut sich, das vorliegende Buch ihres ehemaligen, hochgeschätzten Mitarbeiters, Dr. phil. Alfred Siegfried, herausgeben zu können. (…) [Das «Hilfswerk»] ist sein Lebenswerk. In ihm erfüllte sich wohl am ausgesprochensten sein Beruf als Fürsorger. (…) Es darf ihn denn auch mit grosser Genugtuung erfüllen, dass von den insgesamt rund 600 in seiner Obhut gestandenen Abkömmlingen fahrenden Volkes etwa die Hälfte sesshaft geworden ist und sich im Leben bewährt hat. (…)» Gezeichnet: E Frei, Präsident der Stiftungskommission und Dr. A. Ledermann, Zentralsekretär. – 1958 hat die Fürsorgerin Clara Reust Siegfrieds Arbeit im «Hilfswerk» übernommen. Sie führte sie weiter bis 1973, als aufgrund öffentlichen Drucks[9] die Abteilung aufgelöst werden musste. In einer Erklärung gab die «Pro Juventute» damals immerhin indirekt zu, dass die fortgesetzte Zerschlagung aller Familienstrukturen von Fahrenden und damit das darauf fussende Konzept Siegfrieds ein Fehler gewesen war: «Die Stiftung Pro Juventute ist bereit, auch noch weitere fürsorgerische Leistungen, beispielsweise die Zusammenfassung von Familienmitgliedern, gegenüber ehemaligen Schützlingen der aufgelösten Abteilung zu erfüllen.»

Heute, zwölf Jahre später, sind die Fahrenden nicht weiter. Es gibt Leute unter ihnen, die heute noch nicht einmal ihren richtigen Namen wissen; Leute, die weder Eltern noch Geschwister kennen. Die Akten, die Dokumente ihres Leidens, liegen immer noch im Keller jener, die ihnen das Leiden zugefügt haben. Von Wiedergutmachung war bis jetzt noch nicht die Rede. Die «Pro Juventute» hat sich bis heute nicht distanziert von den in ihrem Namen fast fünfzig Jahre lang praktizierten Unmenschlichkeiten.

[1] Maria Lombardi-Maassen: Die vormundschaftliche Fürsorge des Hilfswerks «Für die Kinder der Landstrasse», Dissertation, Zürich 1982.

[2] Vgl. hierzu und im folgenden: Franz Egger: Der Bundestaat und die fremden Zigeuner in der Zeit von 1848 bis 1914, in: Studien und Quellen des Schweiz. Bundesarchivs, Bern 1982.

[3] Alfred Siegfried: Über die Bekämpfung der Vagantität in der Schweiz, Vortag vor der Cadonafonds-Kommission, 9.7.1943 (Manuskript). 

[4] Mitteilungen des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse, Nr. 42, Oktober 1958.

[5] Alfred Siegfried: Zehn Jahre Fürsorgearbeit unter dem fahrenden Volk, Zürich 1936, 14.

[6] wie (5), 16f.

[7] Zitierte Formulierungen im folgenden aus (3).

[8] Alfred Siegfried: Kinder der Landstrasse, Zürich 1964.

[9] Vgl. «Schweizerischer Beobachter» Nrn 7, 16, 17, 18, 19 und 23/1972, sowie 11/1973.

(Redaktionelle Bearbeitung 1994). 

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