Nachbubenstreich mit Todesfolge

Beim Ausgang eines Restaurants, so meldeten die Agenturen, seien in der Altstadt von Fribourg nachts um viertel vor eins Asylbewerber und angeheiterte, pöbelnd herumziehende Schweizer Jugendliche «aneinandergeraten». Es sei zu einem «Handgemenge» («Blick») resp. zu einer «tabassage», einer «Keilerei», gekommen («24 heures»), in deren Verlauf der 44jährige Kurde Mustafa Yldirim «mehrere Schläge auf den Kopf» erhalten habe («Tages-Anzeiger»). «An den Folgen der Gehirnverletzungen» («Berner Zeitung») sei er dann gestorben, wobei man «zur Stunde» nicht wisse, «ob der türkische Asylbewerber direkt an den Folgen der Faustschläge starb oder ob er sich beim Niederfallen die tödlichen Verletzungen zuzog» («Freiburger Nachrichten»). Exklusiv in der letztgenannten Zeitung durften die einheimischen Schläger, 17- bis 19jährige Lehrlinge, unwidersprochen behaupten, der ganze Fall habe «nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun»: «Wir sind keine Rassisten oder Rechtsextreme.» In ihrer Darstellung des Tathergangs suggerieren sie, sie hätten versucht, einer Prostituierten zu helfen, die sich mit Tränengasspray gegen das Masser eines Türken gewehrt habe. In Fribourgs Altstadtbeizen hört man, endlich sei einer weniger von denen, die nichts arbeiteten, viel verdienten und erst noch hiesige Frauen belästigten.

Im kaum zwölf Quadratmeter grossen Mansardenzimmer direkt unter dem Dach des Rotkreuz-Flüchtlingsheims stehen zwei Betten, ein Schrank, eine Kommode, ein Tischchen. Einer von Yldirims Begleitern in der Nacht auf den 25. November lehnt vor den sitzenden Gästen an der Kommode, neben ihm, ebenfalls stehend, zwei Kollegen. Bisher habe mit ihm nur ein einziger Journalist sprechen wollen, sagt Yldirims Begleiter. Dann erzählt er: Nach einem Betriebsfest, an dem sie in Düdingen teilgenommen hätten, seien sie um halb zwölf nach Fribourg zurückgekehrt und zu dritt in die Unterstadt gegangen, um in einem Restaurant nach Kollegen zu schauen. Sie hätten keine getroffen und das Restaurant gleich wieder verlassen. Draussen habe Yldirim einen Wortwechsel gehabt mit einer Prostituierten, die ihn angesprochen habe. Gleichzeitig habe sich eine Gruppe von acht bis zehn Jugendlichen genähert.

Diese seien zwar noch sehr jung gewesen, aber er habe gespürt, die suchten Streit. Er habe Angst bekommen, sie hätten sich durch die Anpöbeleien nicht provozieren lassen und sich die Stadt hinauf zurückgezogen. Die Jugendlichen hätten sie verfolgt und schliesslich angegriffen, teils mit Holzstöcken. Der eine Kollege habe flüchten können. Yldirim und er hätten sich gegen je vier Angreifer zu verteidigen versucht. Der Kampf habe nicht länger als fünf Minuten gedauert. Er habe dann nach Mustafa gerufen, ihn gesucht und hinter einem Auto zusammengebrochen gefunden, mit völlig zerschlagenem Gesicht. Der Kurde deutet auf Wangen, Schläfen, Augen und Stirnpartie.

Untersuchungsrichter André Piller nennt als Ursache für Yldirims Tod eine «Hirnblutung» und bezeichnet das, was vorgefallen ist, vorsichtig als «schwere Körperverletzung mit tödlicher Folge». Für ihn ist klar, dass die Episode mit der Prostituierten und das, was danach folgte, «keinen Zusammenhang» habe. Gesichert sei, dass Yldirim unter «drei Boxserien» zusammengebrochen sei; zweimal habe er versucht, wieder aufzustehen, das dritte Mal sei er liegengeblieben. Er habe sich nicht gewehrt. Yldirims Kollege sagt: «Wir haben gemeint, die Schweiz sei ein demokratisches Land, hier gebe es Menschenrechte.»

Während des Gesprächs in der Mansarde geht plötzlich die Tür auf. Zwei Bürokraten des Rotkreuzzentrums machen Kontrolle: Der eine zählt die Anwesenden, diktiert die Anzahl der Asylbewerber und der Gäste: «Trois turcs, deux suisses»; der zweite trägt die Zahlen auf einer Liste ein. Ein wenig sei es hier wie im Gefängnis, sagen die Asylbewerber. Die Provokationen und Anmachereien von Jugendlichen in der Stadt seien in letzter Zeit, vor allem jeweils abends, schlimmer geworden. Auf dem Bahnhofplatz würden sie immer öfter auch von alten Leuten beschimpft. In den Beizen verweigerten ihnen die Gäste den Platz an halbleeren Tischen.

Die Schildbürger und -bürgerinnen der Stadt Fribourg legen Wert darauf, dass die Jugendlichen, die die Kurden gejagt und Yldirim getötet haben, keiner organisierten Gruppe von Rechtsextremen angehören. Das mag stimmen. Und: Hier gebe es keine Rechtsextremen. Das stimmt sicher nicht: Im Café de l’Espérance an der Rue du Progrès tagt regelmässig die «Nationale Koordination», die Dachorganisation der gesamtschweizerischen militanten Rassisten und Rassistinnen (inklusive «Nationale Aktion»). Den nicht organisierten Ausbruch von militantem Rassismus beschönigen sie als Nachtbubenstreich mit dummerweise tödlichem Ausgang. Das ist gutbürgerliche Politik: Einerseits wird Rassismus als gesellschaftstragende Kraft immer salonfähiger gemacht, andererseits distanziert man sich von den Auswüchsen des Herbeigewünschten von Fall zu Fall. Die Spanne zwischen latentem und tödlichem Rassismus ist klein geworden.

Diese Reportage ist eine Gemeinschaftsarbeit, die ich mit der damaligen Kollegin Marie-Josée Kuhn gemacht habe.

(Redaktionelle Bearbeitung: 1994. Die WoZ-Version trug den Titel: «Tödlicher Rassismus».)

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