«Dann war es plötzlich totenstill»

Wie damals, nur jetzt ohne die roten Stiften-Overalls: rechts Peter Laib, damals seit kurzem Maschinenmechaniker-Lehrling; links Hermann Bättig, damals Maschinenzeichner im dritten Lehrjahr. Auf dem alten Bild beide selbstbewusst; stolz, bei der Wagi zu arbeiten, bei der Schweizerischen Wagons- und Aufzügefabrik AG Schlieren-Zürich, von der alle gewusst haben: Die Wagi nimmt nicht jeden.

Stolz, aber auch empört: Das Bild ist kurz nach dem 16. Mai 1983 entstanden. An jenem Montag kamen die Manager des Schindler-Konzerns, zu dem die Wagi seit Jahren gehörte, nach Schlieren und verkündeten den 750 Arbeitern und Arbeiterinnen, ihr Betrieb werde auf Ende Jahr geschlossen. Laib und Bättig gehörten zu den rund neunzig Stiften, die im achten Stock des Wagi-Hochhauses vom Personalchef speziell informiert wurden. Bättig: «Es war totenstill. Wir waren völlig überrascht. Wir konnten es nicht fassen.»

Der Weg aufs Rednerpult

Dann, von der Gewerkschaft SMUV organisiert, die Betriebsversammlung in der grossen Halle. Man beschliesst eine Demonstration durch Schlieren. «Wir haben in der Arbeitszeit Transparente gesprayt», sagt Laib. Seine Parole lautet: «No gaat Schliere/ nid uf allne Viere.» Bättig, damals Sprecher der Wagi-Stifte, brütet derweil über einer Rede. Denn, habe ihm einer von der Gewerkschaft gesagt, vielleicht müsse auch er etwas sagen.

Die Demo beginnt im Quartier als «verlorener Haufen». Im Zentrum dann immer mehr Leute am Strassenrand. Viele schliessen sich an. Der Bahnhofplatz, wo die Kundgebung stattfindet, füllt sich immer mehr. Plötzlich habe es geheissen: «Bättig, itz muesch ufs Rednerpult», und er, im Schreck, habe zum nächststehenden Kollegen gesagt: «Chumm mit, da gan ich nid eläigen ue.» Sie steigen hinauf, rechts steht Laib mit dem «Aarafat-Lumpe», links Bättig am Mikrofon: «Auch wir, die Stifte der Wagi», zitiert er sich jetzt, fünfundzwanzig Jahre später, mit erhobener Stimme selber, «solidarisieren uns mit den Arbeitern und fordern die Geschäftsleitung auf, den Schliessungsentscheid zurückzunehmen.»

Das lange Sterben der Wagi

Beim Work-Fototermin in der Halle des Zürcher Hauptbahnhofs stellen sich Bättig und Laib vor einen Eisenbahnwagen älteren Jahrgangs. Laib, abschätzig: «Das ist ein Schindler-Wagen.» Bättig, trotzig: «Aber von der Wagi entwickelt und wahrscheinlich zum Teil bei uns gebaut.» Bis heute sind die beiden auf den Schindler-Konzern nicht gut zu sprechen. «Abteilung um Abteilung haben sie uns weggenommen.» Der Rolltreppenbau ging nach Wien, der Liftbau nach Ebikon (LU), der Eisenbahnwagenbau nach Pratteln (BL), der Bau der Drehgestelle nach Neuhausen (SH). Was blieb, waren Revision und Reparatur der Wagons. Bättig: «Ich säuberte mit Hammer und Meissel Drehgestelle von Flugrost und – ich kann’s nicht anders sagen – von harten Belägen von Scheissdreck.»

Nach dem 16. Mai 1983 entwickelt sich Widerstand gegen die Schliessung: Die Zürcher Kantons- und Gemeindebehörden setzen Schindler mit einem Boykott bei öffentlichen Aufträgen unter Druck. Der Smuv sitzt massgeblich am Verhandlungstisch: Die endgültige Schliessung kann auf den 31. August 1985 hinausgeschoben werden; der Sozialplan bietet schliesslich Umschulungsbeiträge, namhafte Abgangsentschädigungen und zwei Millionen Franken für Härtefälle.

Aber für die, die bis am Schluss weiterarbeiten – zum Beispiel Laib und Bättig – wird’s «es truurigs Luege»: Die Produktionshallen leeren sich, Bereich um Bereich wird geschlossen. Die Stanzmaschinen verschwinden in die Türkei, die elektrischen Anlagen nach China. Und einiges nehmen die Wagi-Arbeiter selber mit. Laib sagt: «Ich habe noch einen Schraubenschlüssel der Wagi zuhause.» Und Bättig lächelt: «Ich auch.»

Schliessungsgrund Spekulation

Beda Moor, heute Mitglied der Sektorleitung Industrie bei der Unia, war damals zuständiger Sektionssekretär des Smuv. Er sagt: «Die vollständige Schliessung der Wagi wäre nicht nötig gewesen. Zumindest der Rollmaterialbereich hätte in Schlieren weitergeführt werden können. Ein Aspekt der Schliessung war für Schindler eben auch die Spekulation mit dem attraktiven Wagi-Areal, auf dem heute zum Beispiel das Druckzentrum der NZZ steht.»[1]

Laib erinnert sich insbesondere an Familienväter, die von der Schliessung existentiell getroffen worden seien: «Hart war es etwa für einen Wagi-Abteilungsleiter, der in einer anderen Firma als einfacher Angestellter in der Qualitätskontrolle weiterarbeiten musste. Oder für die Dreher und Fräser, die zwanzig oder mehr Jahre für die Wagi gearbeitet und kaum ein Wort deutsch gesprochen haben.» Bättig sagt: «Was damals in Schlieren ausgelöscht worden ist, war für viele ein Stück Heimat.»

Aber, auch das sagt Bättig, unterdessen sei in der Berufswelt Veränderung zur einzigen Konstanten geworden. Tatsächlich: Der Sozialarbeiter Laib ist heute nebenbei Offizier der Feuerwehr Turbenthal-Wila-Wildberg und schweizerischer Feuerwehrinstruktor; Bättig ist Verkaufsleiter einer Firma für Feuerwehrtechnik. Bald einmal beginnen die beiden ehemaligen Wagi-Stifte zu fachsimpeln. Beim Abschied tauschen sie Ihre Visitenkarten.

[1] Dieses Druckzentrum ist im Zuge des Niedergangs der Printmedienbranche am 30. Juni 2015 geschlossen worden.

 

[Kasten 1]

Hermann Bättig

Geboren 1965. Maschinenzeichnerlehre in der Wagi Schlieren. Ab 1985 neun Jahre bei Siemens, vom Zeichner bis zum Projektleiter im Sicherheitsbereich, Abteilung Schulung und Dokumentation. Militärische Karriere bis zum Hauptmann. Handelsschule mit Wirtschaftsdiplom und Weiterbildung in der Marketingplanung. Karriere als Key Account Manager (Alusuisse Allega; Schweizerische Teletext AG; Telekurs). Wegen Managementwechsel kündigt er 2005 selber und wird für zwei Jahre arbeitslos. Heute Verkaufsleiter bei der Interspiro (Feuerwehrtechnik). – Bättig ist in keiner Berufsorganisation. Er lebt mit seiner Familie in Hedingen (ZH).

 

[Kasten 2]

Peter Laib                                                                                                    

Geboren 1967. Beendet die Maschinenmechanikerlehre nach der Wagi-Schliessung bei der Schlatter AG (Schweissmaschinen). Ab 1987 Servicemonteur von Fotokopiergeräten bei der Messerli AG. 1989 Sozialpraktikum und Ausbildung zum Psychiatriepfleger, Arbeit vor allem im Drogenentzug und in der Altenpflege. Danach Arbeitslosenberater in der Stadt Winterthur. Fünf Jahre Jobsharing mit seiner Frau, in dieser Zeit Nachtwache in der psychiatrischen Klinik Will (SG). Seit zwei Jahren stellvertretender Betriebsleiter im Projekt «Sicherheit Intervention Prävention-SIP Züri» des Sozialdepartements der Stadt Zürich. – Laib ist VPOD-Mitglied. Er lebt mit seiner Familie in Wila (ZH).

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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