Moralischer Idiot, lebenslänglich haftfähig

 

          Geboren 1913.

          1919-1926: Knabenerziehungsheim Oberbipp.

          1926-1930: Knabenerziehungsheim Erlach.

Ernst Hirschi ist heute knapp siebzig Jahre alt. Er lebt im Pflegeheim Kreuzweg am Rand des weitläufigen Areals der Psychiatrischen Universitätsklinik Waldau bei Bern, direkt an der Hauptstrasse, die vom Berner Wankdorf hinüberführt nach Bolligen im Worblentälchen.

          1930-1933: Erziehungsanstalt Tessenberg.

          1933-1934: Armenanstalt Bärau.

Direkt an dieser Hauptstrasse liegt auch das Bolliger Bahnhofrestaurant, ein niedriger Betonklotz. Drinnen kleine Tischchen mit netten Blumensträusschen, schwarz gebeizte Balken an der Decke, als Träger viereckige, nackte Betonpfeiler. Freitagnachmittag: Kaffeetrinkende, ab und zu eine Gruppe Arbeiter in Überkleidern, sich aufwärmend. Draussen weht die Bise Schneewolken übers schmale Geleise. Dann kommt Ernst Hirschi: klein, hager, in dunklem Kittel. Begrüssung mit Händedruck. Er bestellt Kaffee, später Bier.

          1934-1936: Strafanstalt Witzwil.

          1936-1937: Erziehungsanstalt Tannenhof.

          1937-1938: Psychiatrische Klinik Waldau.

«I ha mi geng eso chly benoo, wi wen i dr Wichtigscht wär. Drum bin i öppe gschtrooft worde», beginnt er zu erzählen auf die Frage, wie ihn das dünke, dass er nun sein ganzes Leben lang interniert gewesen sei. «Dr Diräkter z’Witzwiu het gseit: ‘Werum düet Dr nech de nid so benäh, wi Dr sit? Das heig doch ke Wärt. ‘Wen i aagriffe wirde, de tuen i mi wehre’, han i zuenim gseit. Jo, das miech är ou, het är gseit.» Weil es Hirschi sporadisch nicht mehr aushielt und er sich zu wehren begann, war er schon in den dreissiger Jahren für den damals behandelnden Arzt ein «moralischer Idiot». Im Kampf gegen Mauern, Gutachten, Verordnungen und Urteile hatte Hirschi zeitlebens keine Chance. Er erzählt von seiner militärischen Aushebung, 1931: «Mir hei si denn es Guetachte gmacht. I by achzäni gsy. Me het mir nüt gseit vo däm Guetachte, wi’s luttet. De han i d’Regrutteushebig gmacht, ha di beschte Note gha im Turne. Dört han i gfrogt: ‘Chum i itz ids Militär?’ Nei, het’s gheisse, i chöm nid drzue, wüu i es Guetachte heig drnaa. Sägen i: ‘Wi luttet das?’ Nächär hei si mer’s vorgläse: ‘Unzurechnungsfähig und gemeingefährlich, idiotisch veranlagt’. I ha nüt chönne mache.» –«Dir wärit gärn zum Militär?» – Ja, als Mitraiöör.»

          1938: Aufenthalt im Arbeitslager Sundlauenen.

          1938-1939: Psychiatrische Klinik Waldau.

Schon früh haben Professoren den Hirschi ihren Studenten vorgeführt, als Anschauungsmaterial. Mit dem Professor K. habe er einmal Krach gehabt: «Dä het mi vor de Schtudänte aus Mörder und Brandschtifter beurteilt und i ha ggrännet vor Ufregig. Nächär, won er fertig gsy isch, het er mi gfrogt, werum dass i ggränne. Säg i: ‘Du bisch e Fotzuhung, e Gouner, e verdammte.’ D’Schtudänte hei gglachet. ‘Jää, me mues säge, was Dr sitt.’ Sägen ii: ‘I ha bis itz no kene töt und Brandschtiftig han i o keni ggmacht.’ Dasch ersch schpeeter choo.» Verurteilt war Hirschi, bevor er zum ersten Mal delinquierte: Der Vater Alkoholiker, auch die Mutter liess das Kind im Stich, Pflegeeltern, die den Ernst früh abschoben: lebenslänglich. Er ist halt einer, der nicht in die Gesellschaft passt, da gibt’s keinen Drittel bei guter Führung. Dafür gibt’s Psychiater, die für solche wie Hirschi den richtigen Schlämperlig parat haben. Ob er nicht gern in «Freiheit» gelebt hätte? «Das hätt i scho wöue, einisch i d’Schtadt go wohne. Dr Vormund het gäng gseit: ‘Das het ke Wärt für Öich, i dr Schtadt z’wone, Dir sitt nüt wärt.’ Druf han i gseit: ‘I cha mi scho dürebringe, cha doch zale, Choscht und Loschii ha amnen Ort.’ Seit är: ‘Das chöit dr, aber was weit Dr de schaffe?’ Säg ii: ‘Irgendöppis, i chönnt doch aus Chäuner goo, oder Husputzer oder e soo.’ Dasch nid ggange. Är het überhoupt nüt probiert mit mr.»

          1939-1944: Strafanstalt Thorberg.

          1944-1945: Psychiatrische Klinik Waldau.

Max Frisch hat’s auf seine Art gezeigt, im Theaterstück «Andorra», dass man aus jedem das machen kann, was man in ihm sehen will: Man muss es ihm nur lange genug einbläuen. Hirschi wurde 1948 zum Brandstifter, Jahre nachdem ihn der Professor K. vor den Studenten als solchen tituliert hatte. Wegen Wohlverhaltens wurde er damals vom Thorberg nach Sankt Johannsen versetzt. Gegen die Versetzung protestierte er, weil er nicht einsah, was er in einer Arbeits- und Trinkerheilanstalt sollte. War er etwa so einer wie sein Vater? Dann kam dieser gewittrige Sommerabend: «Äs isch esoo ggange: Mir hei sächzä Fueder Höi abgglade. S’sibezääte hei mer nid a Schärme pprocht. Het’s gheisse, mir müessi das no ablade. S’isch füf vor sibni gsy. Am sibni wär Ässe gsy. Het’s gheisse: ‘S’wird no abgglade.’ I ha bim Ufzug s’Höi ggnoo und ufe Höischtock ufeggää, u dobe hei si mer’s nid abggnoo. Bi toube gsy. Druf seit dr Ufseher: ‘Ja, we Dr toube sit, müesst Dr bim Diräkter reklamiere, nid bi mir.’ Nächär han i e Sigerette aazüntet u dr Höischtock aazüntet. Dasch mi Reklamazion gsy. Nächär han i no ghoufe lösche. D’Schüür isch abebrönnt. Nächär het mi eine gfrogt: ‘Heit Dir se aazündet?’ – ‘Ja.’ – ‘Wiso?’ – ‘Wüu i reklamiert ha. Wen i bim Diräkter reklamiert hätt, wär i übere Sundig ids Gascho gfloge, und am Mändi hätte si mi wider usegnoo für witterzschaffe.’ Letschthin bin i se go psueche, z’Sanktjohannse. Seit dr Diräkter: ‘Hirschi, dir heit rächt gha, dass dir di Schüür aazüntet heit.’ Säg ii: ‘Werum?’ – ‘Dr Schtaat hät is süsch ke nöii Schüür zaut.’ Denn hei si nächär uf Münsige gheit.»

          1945-1948: Strafanstalt Thorberg.

          1948-1949: Arbeitsanstalt Sankt Johannsen.

          1949-1954: Psychiatrische Klinik Münsingen.

Hirschi verbrachte gegen zwanzig Jahre auf dem Thorberg, in Münsingen und der Waldau zusammen ein Vierteljahrhundert, in anderen Anstalten und Gefängnissen noch einmal um die zwanzig Jahre. Manchmal ging’s ihm schlecht. Dann wussten die Pfleger, Aufseher, Ärzte und Direktoren schon warum: Weil Hirschi ein Psychopath sei, oder ein Idiot, oder ein Krimineller, oder alles zusammen. Hirschi versuchte zu überleben: «Und en Ärztin het vo kaschtriere prichtet. Nächär han i gseit: ‘Finisch du das eigentlich blööd, wen i onaniere?’ – ‘Ja, das macht me nid.’ Säg ii: ‘Wen is nid mich, wurd i ja verruckt.’» Auf dem Thorberg: «Dört han i gschaffet, i dr Buechbinderei, mängisch han i tuusig Papierseck gemacht im Taag. Wen i mi schtroofbar gmacht hat, han i Gedicht gemacht, im Gaucho.» Manchmal hörte er Stimmen, fühlte sich verfolgt: «Druf hei si mi id Waudou too. Nächär hei si mi füf Johr im Vieri hing gha, hei mi beobachtet, wi ni mi benime und wi ni schaffe. Und nächär hei si mi i ds Zwöi füretaa. I ha bau Angscht überchoo, i ha gmeint, i wärd erschosse, es passi öpper uf mi. Aber sy hei mi la sy, s’isch niemer choo.» In Ermangelung einer Welt erfand er sich eine eigene, Teil für Teil. Von einer Erfindung erzählt er, einer Art Röntgenapparat, mit dem er durch die Mauern schauen kann, in anderen Zimmern die Leute nackt im Bett sieht: «Pär Zuefau entdeckt. Dasch es gwöhnlechs Glas, es Schibeglas. Uf dr einte Sitte schtriicht mes aa, mit Atom. De darf me nid ad Heiteri drmit, me muess i dr Fiischteri luege. We me ad Heiteri geit, geit’s kaputt. U rouke chasch drby öppe o nid, süsch chönnt’s de dumm usechoo, we’s würd explodiere.»

          1954-1956: Strafanstalt Thorberg.

          1956-1960: Psychiatrische Klinik Münsingen.

Dass einer nach über vierzig Jahren Inhaftierung in Anstalten aus nichtigem Anlass durchdreht und ein wirkliches Unglück anrichtet, man kann sich das vorstellen: «Druf hei mer im Füfi Hädöpfu grüschtet, und eine het frommi Lieder gsunge und de lutt, dasch eim dür d’Ohre düregschosse. Do säg i, är söu ane angere Tisch go schaffe. Er isch ggange und het dert wittergsunge. Nächär gsehn i, dass mer fautschi Hädöpfu uf em Tisch hei, mir hätte söue grossi ha, nid chliini. I ha’s em Ufseher gseit. Seit dä: ‘Tüet se iisammle.’ Han i se iigsammlet u bi ou zu däm Tisch ggange, wo dr anger gsunge het. Nächär: Är sou doch schwige, do heige mir nüt drvoo. Seit är: ‘I cha singe, win i wot.’ Druf bin i toube worde, nime s’Mässer und han im’s wöue zeige u schtiche ne i Haus. I ha d’Adere preicht. S’Bluet isch cho, i Schtröme. Si si i Schpitau mitim, und i bi is Sächsi hingere gfloge. Si hei mi nid so schlimm behandlet, wi angeri Paziänte. I by öppe zwe Monet dert gsy, wo dr Oberufseher cho isch und gseit het, me mües mi iischpeere. Druf han i däm grad e Chlapf gää. Dr Ufseher pfifft, hei mi sibe Pfleger aaggriffe. Drei drvoo han i machtlos gmacht. Em einte han i dr Arm pproche, am angere han i id Ouge inegreckt, dr dritt han i id Backe bisse. Di angere hei du möge pchoo u hei mer e Schprütze gmacht. Druf bin i im Sibni hing inere Zäue erwachet.»

          1960-1968: Strafanstalt Thorberg.

          1968-1978: Psychiatrische Klinik Waldau.

Wie man das gewöhnlich begründet habe, wenn man ihn wieder versorgt habe? Ob man gesagt habe, er sei kriminell, oder er sei «verrückt»? – «‘Haftfähig’. Jo, i meine, we me sech wehrt, we me sech wehrt gäge Pfleger, de isch me verruckt.» Mehrmals kommt er selber auf das zu sprechen, was er für seine Krankheit hält: «Chrank bin i scho gsy, das gib i zue: I by ufgregt gsy. Wen i ufgregt bi, wehren i mi meistens, das isch d’Sach.» Und die Leute draussen, ob die nie aufgeregt seien? «Ganz normau si die ou nid. Es isch jede Mönsch es bitzli chrank, ufgregt, das tüe si meischtens vergässe, di Normale. We sech eine ufregt, isch er äbe chrank, oder?» – «Das säget Dir. Sött me de di angere nid ou i d’Aaschtaut tue, we si ou chrank si?» – «Es isch eso: D’Aaschtaut isch z’chlii.» Gegen Schluss des Gesprächs erzählt Hirschi beiläufig von seiner Rehabilitierung: «Si hei mit mer e Tescht gmacht da, vor vierzä Tag: ‘Hirschi, Dir sit ganz normau’, hei si gseit. I sig ganz normau, sig nümme chrank. Het mi no gfröit.» Er lacht.

          1978-1980: Pension für ehemalige Anstaltsinsassen Adelmatt, Aeschi.

          Seit 1980: Psychiatrische Klinik Waldau.

Als wir nach knapp zwei Stunden im Bahnhofrestaurant in Bolligen aufbrechen meine hilflose Geste, indem ich ihm fürs Wochenende ein Paket Zigaretten aus dem Automaten flippere. Dann gehen wir die Hauptstrasse entlang übers Feld zum Pflegeheim Kreuzweg am Rand des Waldau-Areals hinüber. Heute fühle er sich frei, erzählt er. Er arbeite und verdiene einen Franken fünfzig in der Stunde. Einmal hat Hirschi ein Gedicht gemacht mit dem Titel «Dr brav Kari»:

«Nüme rouke, nüme trinke
Böde schone mit de Finke,
nüme über ds Ässe flueche,
kener aute Schätz meh bsueche,
nüme cheigle, nüme jasse
öppedie dr Miuch ufpasse,
aui Zimmerböde flume,
ds Chatzechischtli useruhme,
Blueme sprütze, Wösch ufhänke,
immer lose, nüme dänke,
das isch öppe so dä Ma,
wiene d’Waudou gärn wett hat.» 

Rechtzeitig zum Abendessen treffen wir beim Pflegeheim ein. Hirschi hat jetzt keine Zeit mehr für mich: Wie jeder hier hat auch er ein Ämtchen beim Abendessen. Wir verabschieden uns. Händedruck. Alles Gute. Im Vorraum fasst mich Herr Wirth ab, Oberpfleger hier, kurz vor der Pensionierung, zeigt mir das Haus, sein Werk; nimmt mich dann in sein kleines Büro, erwähnt Zeitungsartikel über Hirschi. Man müsse auch schreiben, wenn man schon von einer Zeitung hierherkomme, dass es Hirschi hier gut gehe. Er kenne Hirschi jetzt seit 40 Jahren, und er müsse leider sagen, er sei nicht zu Unrecht hier. Heute allerdings sei er gut zu führen, jetzt sei er medikamentös gut eingestellt. Während ein Patient vom Abendessen kommt und Herrn Wirth bittet, ihm die harte Haut an den Füssen zu schneiden, diktiert dieser mir sein pflegerisches Credo: «Wenn man raten kann, kann man helfen. Wenn man nicht raten kann, muss man helfen.» 1960 wurde Ernst Hirschi operiert, «e Närv haubiert», hat Hirschi am Nachmittag gesagt. Die Fachbücher sagen Leukotomie oder Lobotomie oder Defrontalisation oder Frontotomie und meinen damit die Durchtrennung des Präfrontallappens vom übrigen Gehirn. Verlauf der Operation: in zwei bis sechs Prozent tödlich. Nebenwirkungen: Verflachung der Persönlichkeit, allgemeine Verlangsamung, Interesselosigkeit ecetera. «Glücklich werden heisst glücklich machen», sagt mir Herr Wirth noch, bringt mich dann zur Türe, bevor er sich daran macht, die harte Haut des Patienten abzufeilen.

Was soll die Polemik? Einen Nachmittag mit Ernst Hirschi verbringen und dann sich auf die Brust hauen: Seht das Unrecht. «S’nützt nüt, sech ufzrege. We sech eine ufregt, isch er äbe chrank, oder?» Ruhig gehe ich durch das Betonchaos der Autobahnauffahrten hinüber zur Wyler-Busendstation, tief einatmend: frische Luft. Es hat eingenachtet.

1988 erhielt Ernst Hirschi noch einmal ein neues Zuhause. Innerhalb des Wohn- und Pflegeheims Riggisberg lebt er heute in der Wohngemeinschaft «Landhaus 2. Stock». Laut deren Leiter, Paul Dängeli, beschäftigt sich Hirschi nach wie vor mit seinen Erfindungen und – wie auch früher schon – mit dem Bau von Geigen. Er habe heute «ein relativ freies Leben» und nutze es oft für einsame Spaziergänge. Letzthin habe Dängeli den Ernst Hirschi wieder einmal auf seine Biographie angesprochen und gesagt, er selber hätte das nicht ausgehalten. Hirschi habe widersprochen: Er habe kein schlechtes Leben gehabt, er habe immer das beste daraus gemacht. (21.12.1994)

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 101-108. (Dokumentiert wird die Buchversion. – Ausgangspunkt der Reportage in der WoZ war Ernst Hirschis Buch «Denn wir Menschen gewöhnen uns ja an alles», Zürich [Rotpunktverlag] 1982, das auf einem Hirschi-Radioporträt des Journalisten Heinz Reber beruhte.)

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