Die zeitlose Erregung in den Augen des Fähnrichs

 

Sonntagvormittag im Herbst: Pünktlich um zehn Uhr steigt blechern erscheppernd die Kavallerie-Bereitermusik glanzstieflig marschblasend aus dem Grund der versenkbaren Bühne empor ins Scheinwerferlicht. Empor in die halbrund sanft ansteigende Konzerthalle des Berner Kursaals: Dort sitzen an Tischen die ernsten Greise, die würdigen Greisinnen, heben an zerknitterte Lippen mit zittriger Hand Rivella blau und Café crème, während der Dirigent dirigiert und die Posaunisten posaunen. Mindestens 84 ist einer heute, wenn er 1918 alt genug war, um an den Grenzen aktivzudiensten, überlege ich, im Kaffee rührend, allein an einem Tischchen mit weissem Tischtuch, auf dem ein gediegen gemaltes Kärtchen grätscht: PRESSE. Im Gegenlicht begrüsst der Präsident: seit 1980 seien nun auch die Kameraden von 1939-45 zu den Schweizer Aktivdienst-Veteranen gestossen.

«Er hielt sich stumpf und mechanisch im Schritt. Seine Kehle war trocken, seine Sohlen brannten, der Tornister drückte ihn schwer aufs Kreuz, und die Riemen rissen so zwängerisch an seinen Schultern, dass ihm vor Anspannung am Halsansatz die Adern schwollen. […] Er nahm nur das Notwendigste und Nächste wahr, den Takt der Trommel, das monotone Schritteklopfen des Zuges, die laufenden Beine seiner Nebenmänner und die rastlos enteilenden Beine seines Vordermannes.»

Der Präsident sagt: «Pflichtbewusstsein, Wachsamkeit und Treue zum Vaterland.» Gleich rechts von mir am Tisch der Ehrengäste und Festredner tuschelt der Regierungsrat mit dem Tagungsältesten, dem 100jährigen Burgdorfer. «Wir wollen trotz allen Anfechtungen stolz darauf sein, dass wir alle ein grosses Mass an Pflichterfüllung geleistet haben.» Ich öffne den Knopf an meinem Kittel für feierliche Anlässe und suche meinen Fotoapparat hervor. «Heute steht für uns Alte die Wachsamkeit an erster Stelle im Pflichtenheft. Von allen Seiten dringen Sirenentöne in unser kleines Land. Präsumtive Verräter und Kollaboristen wollen die Armee abschaffen und uns damit den ewigen Frieden garantieren. An uns Veteranen ist es heute, wachsam an der inneren Front zu sein.» Klick. Dann merke ich, dass ich die Blende falsch eingestellt habe. Ein präsumtiver Verräter ist mit Sicherheit kein rechter Schweizer, stelle ich mir vor und öffne die Blende. Vor einem hehren Schweizerkreuz auf schwarzem Grund fährt nun auf einer zweiten aufsteigenden Bühne das Rednerpult empor, woran, flankiert vom erstarrten Fähnrich – seine Fahne zittert nur ein ganz klein wenig –, hochaufgerichtet, der Hauptmann Feldprediger steht und sagt: «Ich bin der allmächtige Gott, wandle vor mir und sei fromm.» Dann sagt er: «D'Schwiz.» Der Fähnrich blinzelt. «D'Schwiz vertritt dür ihri Exischtänz d'Idee vonere Gmeinschaft, wo dürs Rächt verbunde isch.» Mit beiden Händen auf dem Spazierstock verharrt hinter mir ein Tagungsteilnehmer. Atmend. Seine Augen verlieren sich im Ungewissen. «E Gmeinschaft vo freie Völker, e Gmeinschaft vo freie Mönsche.» Schwer ruhen die Hände seines Tischnachbarn auf dem weissen Tischtuch. «Es isch e Gmeinschaft vo verantwortleche Bürger i dr Gmeind über die suveräne kantonale Rächtsschtaate bis zu dr Vereinigung vo de Kantön im Bund.» Trocken und hart hustet eine Greisin einen Tisch weiter hinten.

«Er stand […] Schildwache, den Kragen des verschneiten Mantels hochgeschlagen, das Gewehr unter dem Arm, und starrte wachen Sinnes über die Grenze. Es schneite in harten, feinen Körnern, die ununterbrochen und dicht wie geschleuderter Sand von einem bissig kalten Winde schräg zur Erde getrieben wurden. Eine fahle Helligkeit herrschte, bei ruhigem Wetter hätte man wohl den Hügelzug erkannt, hinter dem der deutsche Posten lag.»

Der Hauptmann Feldprediger hat «Amen» gesagt. Beim «Unservater» dürfen wir sitzenbleiben. Taa-taa-tara-daa macht die Blechmusik, dann singen wir alle vier Strophen des Beresinalieds: HINTER JENEN FERNEN HÖHEN WARTET UNSER NOCH EIN GLÜCK. Mit erhobener Stimme suchen die Tagungsteilnehmer bebend den Ton. Auf Zehenspitzen verlässt der Hauptmann Feldprediger die Bühne nach der ersten Strophe. Langsam verschwindet der Fähnrich zeitlos in der Tiefe. Nein, wirklich: Ein präsumtiver Verräter kann kein rechter Schweizer sein.

«Der rechte Schweizer kann Bankier sein, das muss er aber nicht sein; auch als Hauswart kann man ein rechter Schweizer sein, als Lehrer. Wer nicht wissen sollte, was ein rechter Schweizer ist, lernt es spätestens beim Militär. Die rechten Schweizer sind in der Mehrheit. Nicht zu vergessen die Auslandschweizer; manche jodeln über viele Generationen.»

Unterdessen, seit punkt 10 Uhr 30, ist die Landsgemeinde im Gang: Zuerst redet der Präsident vom Revisorenbericht, dann heben alle Veteranen einen Arm, dann kommen die Wahlen, und der Vorstand wird bestätigt, weil alle Veteranen den Arm heben, und dann wird der Oberst und alt Ständerat zum Ehrenveteran gemacht, indem man ihm das goldene Abzeichen überreicht. Dann werden die Tagungsältesten geehrt und der hundertjährige Burgdorfer sagt: «Mit mir Generation schliesst es Zytauter aab.» Mittlerweile frage ich mich, was das überhaupt heisst: präsumtiv.

«Er legte sich hinter sein schussfertiges Gewehr und blickte in das vernebelte, noch immer vom fernen Brandschein begrenzte Land hinaus, wo die Schüsse regelmässiger knatterten, aber von kurzen Maschinengewehrsalven unterbrochen und plötzlich von aufbellenden Feldgeschützen übertönt wurden.»

Nun ist die Landsgemeinde fertig und der Regierungsrat, der sonst der Chef aller Polizisten im Kanton ist, betritt im schwarzen Anzug die Bühne und sagt: «Viele scheuen sich heute ja, den Begriff 'Vaterland' noch zu gebrauchen. Es wurde sogar geschrieben, die Schweiz sei nicht unser Vaterland.» Die beiden zitternden Hände auf dem Spazierstock. Atmend. «Es gab auch Leute, die das besonders geistreich fanden, weil es offenbar modern ist. Aber.» Die schweren Hände auf dem weissen Tischtuch. «Aber ich stehe noch dazu und sag's auch, dass wir mit innerer Überzeugung für unser Vaterland einstehen.» Trockenes Husten weiter hinten.

«In der Mannschaft wurde das Wort 'Vaterland' kaum ausgesprochen, es gehörte den höheren Vorgesetzten. Es wirkte überzeugend und selbstverständlich, wenn ein Major oder ein Oberst sagte: EUSES VATTERLAND. Selbstverständlicher, als wenn ein Kanonier zu einem Oberst sagen wollte: EUSES VATTERLAND.»

Die zitternden Hände legen den Stock weg, die schweren Hände heben sich vom weissen Tischtuch: Plätschernder Applaus verabschiedet den Regierungsrat, während schon stramm der Divisionär als Hauptfestredner in Vertretung des leider verhinderten Korpskommandanten hinter das rote Tuch des aufgestellten Sargs tritt und sagt: «Unsere Aktivdienstzeit war geprägt von fundamentalen Mustern: Etwa zum Beispiel, dass zuoberst die Pflichterfüllung für die Gemeinschaft steht, und dass Härte, körperliche wie geistige, gegen sich selber verlangt ist, weil sonst dieser Dienst an der Gemeinschaft nicht zu leisten ist, und dass diese Leistung gebracht wird, weil das Gesetz es befiehlt, um mit den alten Griechen zu sprechen, und nicht weil geschickte Führungspraxis oder Motivation zu dieser Leistung geführt haben.» In Schlucken: Rivella blau und Café crème. Ein grauer schnauzbärtiger Mund flüstert zum Nachbarn, eine Hand weist zu den Fenstern: Es hat zu regnen begonnen, über dem verdüsterten Altstadtpanorama ist der Föhn haltlos in sich zusammengebrochen.

«Er blieb unbemerkt liegen, die Rechte noch am Gewehr, den Tornister etwas seitlich abgerutscht, die Stirn auf dem linken Handgelenk. Er war allein auf dem weiten weissen Feld, der Tornister und ein Stück des Käppi verrieten, wo er im Schnee lag wie ein gefallener Soldat. Er wollte endlich nichts mehr als hier liegenbleiben und elend verhungern oder erfrieren. Ein verbissenes, bitteres Weinen zuckte durch sein Gesicht.»

«Damals», ruft der Divisionär in Vertretung des Ausbildungschefs der Armee. «Damals war es einfacher, weil der richtige Weg offensichtlich und gegeben war: steil, beschwerlich, steinig, aber man kannte die Hindernisse und traute sich zu, sie zu meistern.» Am zitternden Stock die atmenden Hände. «Und heute?» Die schweren Hände auf dem Kursaaltischtuch. «Heute ist es sehr viel schwieriger geworden.» Der Regierungsrat nickt heftig, der 100jährige Burgdorfer nickt ein wenig, ich drehe wieder an meiner Blende. «Wo ist die offensichtliche Bedrohung, die mit aller Deutlichkeit unsere Existenz in Frage stellt? Wo liegen die Ursachen? Wer sind die Schuldigen? Anbauschlachten allein helfen bei Ölkrisen nicht weiter und der härteste militärische Widerstand stösst bei strategischen Nuklearwaffen ins Leere.» Nach dem Divisionär wird die Fahne geehrt werden, das Absingen der Landeshymne den offiziellen Teil der Tagung beschliessen. Der Divisionär fragt: «Wo aber sind die neuen Kräfte, die das Vaterland gegen die neuen Bedrohungen schützen?» Das Menü des Banketts: Spargelcrèmesuppe, Gulasch nach Wiener Art, Spätzli in Butter, Saisonsalat, Schwarzwäldertorte, 1 Kaffee. Die Tagungskosten: Pro Person mit Bankett Fr. 25.- (einschliesslich Bedienung, jedoch ohne Getränke). Präsumtiv: mutmasslich, wahrscheinlich (Duden).

Unter Verwendung von Zitaten von Meinrad Inglin («Schweizerspiegel», 1938) und Max Frisch («Dienstbüchlein», 1974). 

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 263-268. (Dokumentiert wird die Buchversion.)

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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