Das Klavier auf der Station 43-2

Zum Journal B-Originalbeitrag.

Eben wird das Mittagessen serviert. Der Klinikdirektor grüsst einen weissbärtigen Alten, der sich von seinem Platz im Esssaal erhebt und lebhaft zu sprechen beginnt. Gar nicht gut sei das gewesen, beschwert er sich, mit dieser Spritze letzthin. «Warum laat me mi nid la wärche?» «Wärche» heisst für ihn, im Auftrag des Herrgotts das Böse zu bekämpfen, wo es sich zeigt. Und es zeigt sich oft. Der Direktor hört zu, fragt nach, nickt und wünscht dann einen guten Appetit.

Wir verlassen die Station 43-1 und steigen im Seitentrakt des Münsinger Anstaltsbaus von 1895 das breite Treppenhaus empor. Einen Stock höher liegt die Station 43-2.

Erfolgreiches und erfolgloses Lobbying

In der Debatte um das Budget 2014 setzte sich der Grosse Rat im letzten November zum Ziel, rund 450 Millionen Franken einzusparen. Stark bluten musste die Gesundheits- und Fürsorgedirektion. Für verschiedene Subventionsabhängige ging es ans Eingemachte: Die Behinderten lobbyierten, die Spitex-Organisationen lobbyierten, die Manager der Alters- und Pflegeheime lobbyierten.

Und auch die Geschäftsleitungen der psychiatrischen Kliniken lobbyierten. Bloss wurden ihr Anliegen nicht gehört: Sie wurden angewiesen, zusätzliches Geld zu sparen, das Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) für 2014 allein 4,6 Millionen Franken. Konkret strich der Grosse Rat die «Mitfinanzierung des Aufenthalts nicht spitalbedürftiger Personen». Die PZM-Geschäftsleitung entschied deshalb, bis zum 30. Juni 2014 eine Station mit 18 Langzeitpatienten und -patientinnen zu schliessen. Betroffen waren dadurch auch 20 Mitarbeitende. Der VPOD sprach von «Raubbau in der Psychiatrie».

Glimpfliche Umsetzung der Sparmassnahme

Im Rückblick kann Klinikdirektor Rolf Ineichen sagen, dass die Schliessung der Station glimpflich über die Bühne gegangen ist. Man habe innert nützlicher Frist für alle Patienten und Patientinnen Anschlusslösungen in Alters- und Pflegeheimen gefunden. Ende Mai ist die Station geschlossen worden. Soweit Ineichen weiss, gelingt es bisher – mit wenigen Ausnahmen – die Leute am neuen Ort einzugewöhnen.

Zum glimpflichen Verlauf der Schliessung beigetragen hat ein Aufruf, den Ineichen im Rahmen eines Interviews Anfang Jahr im «Bund» gemacht hat. «Das Parlament hat in zwei Richtungen entschieden», sagte er damals: «Bei den Langzeitpatienten zu sparen, aber nicht bei den Alters- und Pflegeheimen. Die Heime müssen jetzt ihren Teil des politischen Entscheids übernehmen.» Ineichen ist gehört worden. Viele Heime haben einen Platz angeboten, die «Heimstätte Bärau» in Langnau sogar mehrere. Ein Glücksfall war, dass die Bettenauslastung in den bernischen Alters- und Pflegeheimen zurzeit leicht rückläufig ist.

Allerdings gehen die Entlassungen im PZM weiter: «Wir haben den Auftrag, bis Ende 2014 hier keine Langzeitpatienten mehr zu betreuen.» Vor drei Jahren hätten in der Klinik noch bis zu 120 solcher Menschen gelebt. «Am Tag des Ratsentscheids im November 2013 waren es noch 52. Heute sind es 28. Mittelfristig sollen es nur noch 6 bis 10 sein.»

Nein, der lebenslänglichen Internierung in «Irrenanstalten» soll man keine Träne nachweinen. Psychiatriepolitisch ist es richtig, wenn die Kliniken von der faktischen Heimfunktion entlastet und noch vermehrt zu psychiatrischen Akutspitälern gemacht werden. Leben langjährige Patienten und Patientinnen lange genug hinter verschlossenen Türen, beginnen sie sich auch dort zuhause zu fühlen.

«La vita è bella» in Münsingen

Die Androhung, sie müssten in ein Alters- und Pflegeheim umziehen, habe viele der betroffenen Patienten und Patientinnen destabilisiert, erzählt Ineichen. Es sei zu Dekompensationen gekommen, bis hin zu Gewalttätigkeiten: «Diese Menschen sind ja nicht deshalb zum Teil jahrzehntelang hier gewesen, weil es ihnen konstant miserabel gegangen wäre, sondern weil die Entlassungsversuche jeweils in Eruptionen geendet haben. So hat man diese Versuche mit der Zeit aufgegeben.»

Ende Mai ist eine 91-jährige Patientin in ein Heim im Berner Oberland umgesiedelt worden, die seit 1953 in Münsingen gelebt hat. Ihr Beistand hat sie in den Wochen des Umzugs eng begleitet und schreibt an Ineichen, die Frau sei in diesen Wochen ständig hin und her gerissen gewesen. Einmal habe sie gesagt: «Ich bin froh, endlich von hier wegzukommen». Und dann wieder: «Man kann mich doch nicht einfach wegschicken, ich bin doch hier daheim.»

Ein älterer Patient, den man umplatziert hat, ist im Mai aus dem neuen Heim ausgerissen und später von der Polizei in der Stadt Bern aufgegriffen worden. Ein Polizist habe dann angerufen und gefragt, ob man etwas über einen Herrn X. wisse. Er sage, er habe keine Ahnung, wo er jetzt wohne. Es wisse bloss, dass er früher in Münsingen zuhause gewesen sei.

«Die Mitarbeiterinnen auf der Station 43-2 haben im letzten halben Jahr grossartige Arbeit geleistet», sagt Ineichen. Und dies, obschon sie Leute loslassen mussten, die sie zuvor nicht selten jahrelang eng betreut hatten und obwohl sie selber in dieser Zeit eine neue Arbeit suchen mussten. Er habe mehr als einmal an Roberto Benignis Film «La vita è bella» denken müssen: Darin wird der Vater Guido zusammen mit seinem Buben Giosuè in ein nationalsozialistisches Konzentrationslager gebracht. Um seinen Sohn von der Ausweglosigkeit der Situation abzulenken, erzählt der Vater dem Sohn, sie würden an einem Spiel teilnehmen, das sie möglichst exakt mitmachen müssten, um es zu gewinnen. «In diesem Sinn hat das Personal versucht, die Dramatik des Schliessungsentscheids von den Leuten fernzuhalten.»

Die verlassene Station 43-2

Unterdessen hat Ineichen oben im Treppenhaus die Türe zur Station 43-2 aufgeschlossen. Sie liegt verlassen: ein langer, jetzt, da die Deckenlichter ausgeschaltet sind, düsterer Gang voller offener Türen. In den Zimmern Betten mit nackten Matratzen, zusammengeschobene Möbel, die Böden blitzblank geputzt. Und das Personal? Alle haben neue Arbeit gefunden. Vier extern, bei der Spitex und in Pflegeheimen, die restlichen klinikintern, vor allem in der Alters- und der Erwachsenen-Akutpsychiatrie.

Der Sparauftrag des Kantons sei unbestritten, sagt Ineichen, der voran geht. Was er aber feststelle, sei «ein Zerfall der politischen Kultur»: «Die Schliessung dieser Abteilung war Resultat eines populistischen Schwarz-Peter-Spiels. Die Schwächsten der Schwachen hat es getroffen. Klar kann man im Grossen Rat nicht im Detail wissen, worüber man entscheidet. Aber in diesem Fall hatte man wirklich keine Ahnung, was der Entscheid für die Menschen bedeutet.»

Ineichen geht durch den Esssaal mit den exakt ausgerichteten Stühlen an den Tischen hinüber in den Aufenthaltsraum. «Soll Demokratie funktionieren», sagt er, «braucht es einen Minderheitenschutz. Mit vielen guten Helfern und Helferinnen ist uns hier zwar eine passable Lösung gelungen. Aber der Minderheitenschutz ist in diesem Fall ausgehebelt worden.»

Der ehemalige Aufenthaltsraum ist bis auf einige Stühle leer. Nur an der gegenüberliegenden Wand steht ein schwarzes Klavier. Für einige Menschen ohne Lobby bedeutete sein Klang so etwas wie das Zuhause, das sie nun endgültig verloren haben.

*

P.S. Am 21. November 2013 hatte der BDP-Grossrat Mathias Tromp als Sprecher der Finanzkommission vor dem Parlament unter anderem jenen Sparantrag zu begründen, der die Schliessung der Station 43-2 bedeutete. Er begann sein Votum mit dem Satz: «Wenn wir jetzt die einzelnen Bereiche diskutieren werden, geht es nie um Personen.» (Tagblatt des Grossen Rates, S. 1400)

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