Das gerettete Konzept

«Der Eintretende sollte saubere Kleidung und Wäsche sowie Turn- und Badezeug mitbringen. Besuche von Angehörigen, Verwandten, Bekannten und Betreuern müssen vorangemeldet und mit dem Team besprochen werden. Selbstgebackene Esswaren, offene oder alkoholhaltige Lebensmittel sind auf unserer Station nicht erlaubt, sie werden dem Spender zurückgegeben oder weggeworfen. Es werden regelmässig Urinuntersuchungen auf Suchtmittel durchgeführt.» Sätze aus dem «Konzept» der Drogenentzugsstation K2, einer Abteilung der psychiatrischen Klinik Waldau bei Bern. Gleichzeitig bis zu zwölf Entzugswillige unterzogen sich diesem mehrstufigen «Punkteverstärkungsprogramm», einem Regelwerk aus Normen, Handlungsanweisungen und Verboten, die das K2 zu einem Mittelding zwischen Spital, Knast und Klapsmühle machten. Angeboten wurden den Drogenabhängigen hier der «kalte Entzug» mit Sauna, Bädern, Massagen und Kräutertee. Motivationsverstärkend drohte das «Konzept»: «Jeglicher Konsum von Drogen (inkl. Alkohol, Tabletten, Haschisch) hat Deinen Austritt zur Folge.»

Letzte Instanz Arzt?

Im Sommer 1988 kam das 1981 gegründete K2 in eine Krise. Die bis dahin angebotene «hochschwellige» Therapie, die stark motivierte Entzugswillige voraussetzte, war mangels Nachfrage gescheitert. Nach einer Bedarfsabklärung bei verschiedenen im Drogenbereich arbeitenden Institutionen wurde auf dem K2 neu «Niederschwelligkeit» und Methadonentzug angeboten. Nun hielt die Drogenszene von der Gasse Einzug in die Waldau. Die Station wurde mit Arbeit überhäuft und das Therapiekonzept laufend dem schwächeren Motivationsgrad der Entzugswilligen angepasst.

Nach dieser Krise übernahm Joachim Nelles als frischgebackener Oberarzt das K2. Ihm zur Seite stand eine elfköpfige Pflegegruppe, der auf dem Papier ein Stationsleiter und dessen Stellvertreter vorgesetzt war, gegen innen aber als gleichberechtigtes Team funktionierte. Im Dauerstress des 24-Stunden-Betriebs spitzten sich verschiedene Probleme zwischen dem Oberarzt und dem Team zu.

Umstritten waren die Teilzeitanstellungen auf der Station. Nelles bekämpfte sie. Die Informationsübermittlung werde zu kompliziert, die Rapporte seien zu unvollständig: «Man konnte zum Teil den therapeutischen Faden gar nicht mehr richtig aufnehmen.» In diesem Punkt war die Pflegedienstleitung der Waldau anderer Meinung, die vor dem Problem stand, dass sich immer weniger Leute im Pflegebereich überhaupt noch zu 100 Prozent anstellen lassen.

Umstritten war immer mehr die «Professionalität der Pflege». Der «Konzept»-Satz, «das Team behält sich im Einzelfall Entscheidungen vor», gab dem Team einen gewissen Spielraum, im Einzelfall menschlich zu entscheiden. Nelles kritisiert dagegen heute die «permanente Missachtung des Konzepts». Zwei therapeutische Haltungen standen sich gegenüber. Eine Teamerin: «Wir sind der Meinung, Drogenarbeit sei Beziehungsarbeit. Für Nelles dagegen sind Drogenabhängige Kranke, die mittels therapeutischer Härte geheilt werden sollen.» Dagegen Nelles: «Es wurden zum Teil Leute, die hier rausgeflogen oder weggegangen sind, draussen weiterbetreut oder sogar zu Hause aufgenommen. Es geschah eine Vermischung von Privatsphäre und Arbeitssphäre, die per se a-therapeutisch ist.»

Umstritten war schliesslich die Teamstruktur. Als Vertreter der psychiatrischen Institution forderte Nelles immer deutlicher eine hierarchische Strukturierung der Pflegegruppe mit klaren Verantwortlichkeiten. Das Team dagegen strebte ein demokratisches Teamleitungsmodell an. Nachdem im September 1989 die regelmässige Supervision, die immerhin jeweils die Fortführung der Auseinandersetzungen ermöglicht hatte, aus Budgetgründen kurzfristig gestrichen worden war, kam es an einer Retraite im November 1989 zur Konfrontation. Das Team forderte einen Oberarzt mit lediglich konsultativer Funktion, eine Teamleitung mit demokratischer Arbeitsweise, Mitbestimmungsrecht für alle, Supervision als unumstössliche 14tägige Einrichtung und externe Weiterbildung. Nelles: «Wir von der ärztlichen Seite haben dargelegt, dass der Arzt in letzter Instanz die Möglichkeit haben muss, ja oder nein zu sagen, wenn er letztendlich die Verantwortung trägt.» Die TeamerInnen ihrerseits betonen, dass sich ihre Forderung der demokratischen Mitsprache auf den therapeutischen Bereich beschränkt habe: «Aber beim kalten Entzug sind, abgesehen von den Eintretensuntersuchungen und von Blutproben, kaum medizinische Entscheidungen im engeren Sinn zu treffen. Der kalte Entzug ist weitestgehend ein therapeutisches Problem.»

Fehlende menschliche Qualifikationen

Nach der Retraite schicken zehn von elf TeamerInnen eine Kollektivkündigung ab: «Seit einigen Monaten fanden auf dem K2 immer wieder Teamgespräche, Sitzungen mit den Ärztinnen und Ärzten und Retraiten statt. Wir formulierten Vorschläge, Wünsche und Forderungen nach Mitbestimmungsrecht und demokratischer Arbeitsweise. Diese Bemühungen waren erfolglos. […] Um gute politische Drogenarbeit zu leisten, sind strukturelle Veränderungen nötig, die bisher auf dem K2 verhindert wurden. Wir könnten uns unter andern Bedingungen vorstellen, als gut eingespieltes und kompetentes Team auf diesem Sektor weiterzuarbeiten.»

Auf dieses Angebot verzichtete die Klinikleitung. Sie, wie später auch die Gesundheitsdirektion des Kantons Bern, befand, das Vorgehen des K2-Teams sei «erpresserisch» und deshalb keine Diskussionsgrundlage: Darüberhinaus seien «klare Verantwortungs- und Führungsstrukturen» in der Waldau unabdingbar. Nelles sagt heute, «dass es nötig ist, sich von Leuten, die sich in einem bestimmten Rahmen nicht integrieren wollen, trennen zu können.» – Also Kündigung? – «Ja.»

Klar Stellung bezogen hat Nelles auch in seinem verwaltungsinternen Bericht an die Kantonale Gesundheitsdirektion, in dem er seine MitarbeiterInnen pauschal disqualifizierte: «Auf fehlende fachliche und menschliche Qualifikationen einzelner Mitarbeiter für eine solch anspruchsvolle Arbeit mit Drogenabhängigen möchte ich an dieser Stelle nicht eintreten.» Die Gesundheitsdirektion hat vom Team keinen Gegenbericht verlangt.

Selbständig denken und arbeiten

Seit dem 23. Februar 1990 ist das K2 geschlossen. Oberarzt Nelles, der auf dem ersten Bildungsweg Polizist gelernt hat, darf sich bis zur Wiedereröffnung frühestens in vier bis sechs Monaten – die Suche von neuem Pflegepersonal gestaltet sich äusserst schwierig – einem Forschungsprojekt im Bereich der Gefängnispsychiatrie widmen. Daneben plant er nach der Wiedereröffnung der Station einen Versuch am «Patientengut», der bestätigen soll, dass der warme Methadonentzug mit dem Antiepileptikum Tagretol medizinisch erfolgversprechender ist als der therapeutische Wildwuchs mit Bädern, Massagen und einem Team, das mitentscheiden will.

In einer öffentlichen Stellungnahme schreiben die vorläufig letzten Entzugswilligen des K2: «Wir alle hatten grosse Mühe, das Entzugskonzept zu akzeptieren, traten aber ein, weil wir nur durch unsere Unterwerfung das Ziel, drogenfrei zu werden, erreichen konnten, denn es gibt keine vergleichbare Möglichkeit, einen Entzug zu machen […] Für Entzugs- und Therapiestationen braucht es Menschen, die selbständig arbeiten und denken können. Die neuen Anstellungsbedingungen werden dies noch mehr verhindern als bisher. Wieder einmal werden die Süchtigen die Unfähigkeit der mit Drogenarbeit Beschäftigten, gemeinsam zu arbeiten, umzudenken und neue Wege zu beschreiten, am meisten zu tragen haben.»

Das Pflegeteam hat den Arbeitskampf, der von den wenigsten in dieser Gesellschaft überhaupt als solcher anerkannt werden wird, verloren. Es ist an der institutionellen Gewalt der Waldau gescheitert. Hätte es den Kampf für die Demokratisierung ihres Pflegebereichs weitergeführt, statt kollektiv zu kündigen, wäre vielleicht mehr möglich gewesen. Ein von der Drogenberatungsstelle «Contact» Bern federführend verfasster Bericht über «Drogenentzug und Übergangsstationen für den Kanton Bern» sieht neben «regionalen niederschwelligen Entzugseinrichtungen» in Thun, Biel, den Regionen Oberaargau/Emmental und dem Seeland eine Berner Entzugsstation von zwölf Plätzen vor, die das K2 ersetzen und unabhängig von der Waldau funktionieren würde. In diesem neuen, von der psychiatrischen Grossklinik unabhängigen «K2» wird die Idee des Teamleitungsmodells möglicherweise eine Chance haben.

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