Der Kopf im Zielfernrohr

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Sitzungsraum im Ausbildungszentrum der Kantonspolizei Bern in Ittigen. Hätte in den letzten Jahren bei einem Polizeieinsatz ein akut bedrohlicher Täter mit einem gezielten Schuss in den Kopf handlungsunfähig gemacht werden müssen, so wäre einer der beiden Männer hier am Tisch mitverantwortlich für dessen Tod. Links, das ist  C. A., Leiter der Polizeigrundausbildung und Vorgänger von R. S., der rechts neben ihm sitzt, heute Chef der Polizeisondereinheit «Enzian», früher Präzisionsschütze in dieser Einheit.

An einem anonymisierten Fall aus ihrer Berufspraxis zeigen die beiden Schritt für Schritt, was passiert, bis der Kopf eines Täters ins Visier eines Präzisionsschützen gerät.

Der Streit

Mai 2010, ein Wohnblockquartier am Rand des bernischen Provinzstädtchens X., ein milder Spätnachmittag. Aus dem Eingang am Mingerweg 17 rennt mit zerschlagenem Gesicht eine junge Frau. Auf den Balkon der Eckwohnung im ersten Stock tritt ein Mann und schreit ihr nach, sie solle sofort zurückkommen. Die Frau rennt weiter. Wenn sie nicht zurückkomme oder wenn sie ihm die «Schmier» an den Hals hetze, brüllt der Mann, dann sei Melanie dran. Die Frau rennt die Strasse entlang und verschwindet einige Häuserblocks weiter in einem Eingang. Ihre Mutter, die dort wohnt, ist zu Hause. Ausser Atem erzählt die junge Frau, ihr Mann tobe und drohe, die gemeinsame Tochter zu töten, wenn sie nicht zurückkehre. Aber sie habe Angst. Die Grossmutter von Melanie handelt. Sie geht ans Telefon und wählt die 117, die Notrufnummer der Kantonspolizei.

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Der Alarm

18.16 Uhr. In der Einsatzzentrale der Kantonspolizei am Nordring in Bern klingelt das Telefon. Der Polizist, der als Disponent arbeitet, hört eine ältere Frau, offensichtlich erregt. Die Stimme zittert, aber die Geschichte, die sie erzählt, klingt plausibel, auf Nachfragen antwortet sie klar. Auf den Disponenten wirkt die Frau glaubwürdig. Seine erste Lagebeurteilung: Die Meldung muss ernst genommen werden.

In den nächsten Minuten passiert Folgendes: Die Anruferin am Telefon wird, so gut es geht, beruhigt, die Polizei sei unterwegs; die Frau wird angewiesen, in der eigenen Wohnung zu bleiben und die Tochter auf keinen Fall in deren Wohnung zurückkehren zu lassen. Auch sollten es beide unterlassen, von sich aus mit dem tobenden Ehemann telefonischen Kontakt aufzunehmen.

Gleichzeitig geht ein Alarm an alle im Moment in der Nähe befindlichen Patrouillenwagen. Auftrag: So schnell wie möglich an den Mingerweg 17 in X. fahren. In diesen Momenten bewährt sich die «polizeiliche Grundversorgung». Die Kantonspolizei hat zu garantieren, dass sie innert nützlicher Frist an jedem Punkt des Kantons präsent sein kann. Deshalb sind dauernd mehrere Fahrzeuge unterwegs.

Um 18.27 Uhr werden folgende zusätzlichen polizeilichen Dienste aufgeboten und in das Wohnblockquartier beordert: die Verhandlungsgruppe, die Sondereinheit «Enzian», der Polizeioffizier des «Kommandopiketts», die Regionalfahndung und die Ambulanz. Es gehe, wird ihnen skizziert, um einen Fall von «häuslicher Gewalt» mit Risiko zur Eskalation. «Risiko zur Eskalation» heisst: Mit Schlimmerem muss gerechnet werden, es kann zu Verletzungen oder gar zu einer Tötung kommen. Gleichzeitig überprüft man auf der Polizeizentrale den Namen des tobenden Familienvaters und stellt fest, dass er wegen vergleichbarer Vorfälle aktenkundig ist. Solche sofortigen Überprüfungen seien wichtig für alles Weitere, sagt R. S.: «Zwar sind Ersttäter nicht einfach weniger gefährlich, aber bei Wiederholungstätern bekommen wir Hinweise, wohin der Konflikt, falls er eskaliert, sich ungefähr entwickeln könnte.»

Gerade bei häuslicher Gewalt, sagt C. A., habe man es nicht selten mit Wiederholungstätern zu tun: «Oft führen wirtschaftliche und emotionale Abhängigkeit und manchmal nichts anderes als die nackte Angst dazu, dass die Frau zum Mann zurückkehrt, obschon er sie immer wieder schlägt.» Entsprechend treffe er, sagt R. S., nicht selten folgende Situation an: «Wenn es nicht schon früher zu massiver Gewaltanwendung gekommen ist, neigen die Opfer dazu, sich mit dem Täter zu solidarisieren, sobald die Polizei auftaucht. Das ist die Folge eines Interessenkonflikts: Voraussichtlich wird das Opfer nach dem Ereignis ja mit dem Täter weiter zusammenleben wollen oder müssen.» Sei das Opfer hingegen akut an Leib und Leben bedroht, habe es gar Todesangst ausgestanden, dann sei eine solche Solidarisierung zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht sehr wahrscheinlich.

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Die Polizeipatrouille

Vorderhand haben mehrere doppelt besetzte Polizeiwagen das Blaulicht eingeschaltet und fahren von verschiedenen Seiten den Mingerweg 17 in X. an. In den nächsten Minuten, bis zum Zeitpunkt, da die erste Patrouille per Funk meldet: «Wir sind vor Ort, wir übernehmen», wird der Einsatz aller aufgebotenen Dienste von der Zentrale aus geführt.

Der Alarm ist kurz vor Schichtwechsel gekommen. Aus dem vorfeierabendlichen Geplauder im Patrouillenwagen wird blitzartig ein hochkonzentrierter Wortwechsel. Der Informationsstand, der über Funk hereinkommt: häusliche Gewalt, nicht verifiziert, ein mutmasslicher Täter bedroht sein eigenes Kind, will aktiv werden, falls er Polizei sieht. Klar ist somit, dass die beiden Polizisten so schnell wie möglich in die Nähe des Mingerwegs 17 kommen müssen, ohne von diesem Täter bemerkt zu werden. Bei erhöhtem Fahrtempo klären die beiden im abklingenden Feierabend-Stossverkehr folgende Fragen: Wo ist dieser Mingerweg 17 überhaupt? Wie sieht die Umgebung aus? Bis wohin können wir mit Sirene fahren? Ab wo könnte das Polizeifahrzeug bemerkt werden? Was tun wir, wenn wir vor Ort ankommen?

Gleichzeitig müssen sie sich über ihre Rollenteilung einigen. Zwei Rollen stehen zur Verfügung: der «EL Fall» und der «EK Front». Letzterer ist der «Einsatzkoordinator Front» und hat vor Ort prioritär das sicherheitspolizeiliche Problem zu lösen. C. A.: «Er muss in erster Linie die Sicherheit des bedrohten Kindes, dann aber auch jene der Mutter, des Umfeldes und schliesslich auch des Täters sicherstellen. Er muss die aussergewöhnliche Situation wieder in die Normalität zu überführen versuchen.» Zudem ist es seine Aufgabe, die eintreffenden Einsatzkräfte vor Ort zu koordinieren und zu führen, bis er allenfalls abgelöst wird. Er muss die Umgebung des Mingerwegs absperren und den Verkehr umleiten lassen, allfällig nötig werdende Evakuierungen anordnen.

Der Auftrag des «EL Fall», also des Einsatzleiters in dieser Sache, hat in diesen ersten Minuten zweite Priorität. Er übernimmt die Fallbearbeitung, also die gerichtspolizeilichen Aufgaben: Er sammelt die Fakten, stellt bereits geschehene strafbare Handlungen fest und nimmt die Beweise für diese Handlungen auf, damit sie später dem Richter in schriftlicher Form gerichtsverwertbar übergeben werden können. R. S.: «Wir sagen dazu salopp: Der ‹EL Fall› ist der, der danach auch schreiben muss.» Wer welche Rolle übernimmt, wird ad hoc entschieden. Und, notabene, auch wenn hier in der männlichen Form erzählt worden ist: So machen es selbstverständlich auch die Polizistinnen in den Patrouillenfahrzeugen.

Wenn irgendwie möglich verständigt sich das Zweierteam zudem in den paar Minuten der Anfahrt über das, was man bei der Schulung «Vorbehaltene Entschlüsse» nennt. Damit wird versucht zu verhindern, dass man vor Ort den Ereignissen hinterher rennt und dauernd reagieren muss. «Man konzentriert sich dabei

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auf die gefährlichste und auf die wahrscheinlichste Entwicklung», sagt C. A. «Was tun wir, wenn der tobende Mann die nahende Polizei bemerkt und seine Tochter tatsächlich umbringen will? Was tun wir, wenn uns im Quartier auf der Strasse ein Mann mit einem Kind an der Hand begegnet, von dem wir vermuten müssen, es sei der Täter? Anhalten, ihn aber allenfalls gerade dadurch zur Tat provozieren? Vorbeifahren, in Deckung gehen und beobachten?»

Das Wissen im Bauch

Um 18.44 Uhr meldet die erste Patrouille, die Umgebung des Tatorts erreicht zu haben. In diesem Moment geht die Einsatzleitung von der Zentrale in Bern an den «EK Front» über, der sich jetzt so schnell und so vorsichtig wie möglich ein Bild zu machen versucht vom Mingerweg 17, von der Eckwohnung im ersten Stock und von deren Umgebung. Sein Kollege eilt als «EL Fall» in die Wohnung der Mutter der misshandelten Frau, um wenn möglich zu genaueren sachdienlichen Informationen zu kommen.

Von nun an ist das plötzliche Zusammentreffen eines Polizisten mit dem tobenden Mann nicht auszuschliessen. Was gilt jetzt? «Erste Priorität», sagt C. A., «das steht auch so im Artikel 1 des kantonalen Polizeigesetzes, hat immer der Schutz von Leib und Leben.» Dies vorbehalten, müsse im Sinn der Verhältnismässigkeit versucht werden, das mildeste Zwangsmittel einzusetzen, das geeignet sei, in der konkreten Situation die Bedrohung von Leib und Leben zu stoppen. Zusätzlich muss vorgängig die Rechtmässigkeit des Einsatzes von Zwangsmitteln sichergestellt sein. Rechtmässig ist ein Einsatz nur dann, wenn das, was passiert, tatsächlich verboten ist und es dafür keine Rechtfertigungsgründe gibt. «Im vorliegenden Fall», schätzt R. S., «ist die Rechtmässigkeit des Einsatzes dadurch gegeben, dass die Polizei laut Gesetz die Sicherheit des bedrohten Kindes wiederherstellen muss.»

Im Ausbildungszentrum in Ittigen liegt unterdessen eine Grafik mit der «Eskalationspyramide Zwangsmittel» auf dem Tisch. Diese Pyramide führt von Kommunikation und Körpersprache über Körpereinsatz und Selbstverteidigung, Handschellen, Pfefferspray und Polizeimehrzweckstock bis zur Elektroschockpistole (Taser), zum Hund und zur Schusswaffe. Aber was ist im konkreten Fall geeignet und das mildeste Mittel, das das bedrohte Kind nicht zusätzlich gefährdet? Zu reden versuchen, obschon die Drohung bekannt ist, der Mann werde das Kind töten, falls die Polizei komme? Ihn mit Körpereinsatz überwältigen? Aber wie kommt man an ihn heran? Und wie setzt man Handschellen, Pfefferspray oder Schlagstock ein gegen jemanden, der sich vermutlich hinter einer verriegelten Wohnungstür befindet?

Dazu kommt die Rechtsgüterabwägung: Welches Risiko nimmt der Polizist mit seinem Handeln respektive mit seinem Abwarten in Kauf? Welcher Schaden lässt

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sich mit welcher positiven Aktion rechtfertigen? «Angenommen», sagt C. A., «ich breche Ihnen einen Arm, weil Sie das Portemonnaie nicht hergeben wollen, das sie gestohlen haben, dann wäre das eine falsche Rechtsgüterabwägung. Ihre körperliche Integrität ist in diesem Fall höher zu werten, als mein Interesse als Polizist, in diesem Moment das Portemonnaie zu behändigen.»

Artikel des Polizeigesetzes, Eskalationspyramide der Zwangsmittel, Primat der Rechtsgüterabwägung, all dies und noch einiges mehr haben die Polizisten, die in den nächsten Minuten laufend im Quartier eintreffen und in der Umgebung des Mingerwegs ihre Aufgabe übernehmen, seit ihrer Ausbildung im Kopf. Aber das Wissen genügt nicht, es muss sich durch Sozialkompetenz und Berufserfahrung zur Intuition gewandelt haben. «Es geht darum, trotz des Tunnelblicks, der in extremen Stresssituationen entsteht, sauber zu erfassen, zu beurteilen, zu entscheiden und den Entscheid umzusetzen», sagt C. A. Und als Ausbildner, der die Grenzen seiner Möglichkeiten kennt, fügt er bei: «Darum handeln erfahrene Polizisten oft aus dem Bauch heraus, weil die Zeit zum Nachdenken schlicht nicht vorhanden ist. Es passiert und man reagiert – nicht selten in Sekundenbruchteilen –, sonst ist man zu spät.»

Die Chaosphase

18.58 Uhr. Der «EL Fall» hat in aller Eile versucht, in der Wohnung der Mutter eine Vertrauensbasis zur Tochter aufzubauen, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Auf den ersten Blick erkennbar: Sie ist Opfer massiver Schläge geworden, vermutlich zugefügt durch Fäuste. Allmählich erfährt der Polizist einiges, wenn auch nicht viel Neues: Als die junge Frau gegen halb sechs mit Melanie nach Hause gekommen sei, habe sie ihren Mann angetrunken vorgefunden. Er sei ohne Grund völlig ausgerastet und habe dreinzuschlagen begonnen. Sie habe hierher fliehen können, aber das Kind sei bei ihm geblieben. Unterdessen habe er angerufen und erneut gedroht, das Kind zu töten, wenn sie nicht endlich zurückkomme. Sie habe Angst zurückzugehen, könne sich aber auch nicht recht vorstellen, dass er seine Drohung wahr mache, eigentlich liebe er doch seine Tochter über alles.

Der «EK Front» hat gleichzeitig die Situation am Mingerweg 17 ausgekundschaftet. Weitere Autopatrouillen sind eingetroffen. Einige dieser Kollegen werden mit kugelsicheren Westen und Maschinenpistolen ausgerüstet und angewiesen, den Häuserblock verdeckt zu umstellen und so einen ersten Sicherungsring zu bilden. Die einen sichern die Rückseite des Blocks, die anderen wählen ihre Stellungen so, dass sie, ohne gesehen zu werden, die Fenster und den Balkon der Eckwohnung im ersten Stock im Auge haben. Einen der Kollegen macht der «EK Front» zum Einweisposten. Dessen Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die eintreffenden Verstärkungen möglichst unauffällig bleiben.

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Diese Minuten nennt man wahlweise «Organisationsphase» oder «Chaosphase». Gemeint ist: Unter grösstem Zeitdruck müssen die unorganisiert eintreffenden und kaum informierten Einzelpersonen in eine schlagkräftige Truppe mit einer «unité de doctrine» umgewandelt werden. Daneben läuft der Funk auf Hochtouren, und andauernd klingelt das Telefon. Zudem muss endlich ein vordringliches Problem gelöst werden: Der Täter könnte mit dem Kind die Wohnung verlassen und sich irgendwo im Haus – möglicherweise in einer anderen Wohnung – verstecken. Deshalb bestimmt der «EK Front» ein «Notzugriffsteam», das, vom Vater im ersten Stock unentdeckt, in das Treppenhaus des Wohnblocks vordringen und dort verhindern soll, dass der Mann mit dem Kind aus der Wohnung verschwinden kann.

Die Softies und die schwarzen Männer

19.13 Uhr: Beim Einweisposten treffen die ersten Mitglieder der Verhandlungsgruppe ein, psychologisch geschulte Spezialisten für Gesprächsführung und Verhandlungstaktik, die eingesetzt werden, um Konflikte – sowohl bei Suiziddrohungen wie bei Drohungen gegen Dritte – ohne Gewaltanwendung beizulegen. «In den letzten zehn Jahren», sagt C. A., «wurde diese Verhandlungsgruppe im Kanton Bern ungefähr 180-mal aufgeboten».

Fast gleichzeitig trifft auch ein Detachement der Sondereinheit «Enzian» ein, jener rund 45-köpfigen Truppe, die rund um die Uhr für besonders heikle Polizeieinsätze zur Verfügung steht. Das «Enzian»-Pflichtenheft beinhaltet neben dem Personenschutz, dem Einsatz von Präzisionsschützen und anderem auch «den Zugriff zu garantieren auf gewalttätige, besonders geschulte oder besonders gefährliche Personen», so R. S.

Verhandlungsgruppe und «Enzian» seien in gewisser Weise Gegenpole, sagt C. A.: «Entsprechend sieht man diese Leute häufig in den Fernsehkrimis: Die Verhandler, die die ‹Softietour› versuchen einerseits und andererseits die schwarzen Männer für die harte Variante. Ein beliebtes Klischee dabei ist, dass diese beiden Gruppen Meinungsverschiedenheiten über das zu wählende Vorgehen haben. Zumindest was den Kanton Bern betrifft, ist das Klischee völlig falsch und die Zusammenarbeit sehr gut.» Man wäge gemeinsam Chancen und Risiken der verschiedenen Vorgehensweisen ab. Allen sei ja gedient, wenn das Verhandeln Erfolg bringe: Das Opfer könne in diesem Fall ohne Schaden befreit werden, der Täter bleibe beim Zugriff unversehrt, und die eigenen Leute müssten keinem Risiko ausgesetzt werden.

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Der Kommandoposten

Unterdessen hat der «EK Front» die Einsatzleitung abgegeben an den Polizeioffizier des «Kommandopiketts», der nun die Gesamtverantwortung übernimmt. In einer Garage der Nachbarschaft hat man einen kleinen Kommandoposten eingerichtet. Hier treffen in den nächsten Minuten die polizeilichen «key-Players» ein, neben dem Einsatzleiter und dem «EK Front» die Verantwortlichen der Verhandlungsgruppe, der Sondereinheit «Enzian» und der Uniformpolizei. Jetzt ist es an ihnen, das weitere Vorgehen festzulegen. Die Lage ist klar: Tritt die Polizei in Erscheinung, droht die Gefahr, dass der Mann sein Kind umbringt, weil die «Schmier» aufgetaucht ist. Tritt die Polizei nicht in Erscheinung, droht die Gefahr, dass der Mann sein Kind trotzdem umbringt, weil seine Frau nicht in die Wohnung zurückkehrt. Die Frage ist: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Mann seine Drohungen wahr macht?

Dafür, diese Frage zu beantworten, sind die Informationen, die den Verantwortlichen in diesem Moment vorliegen, zu lückenhaft und ungesichert. Darum spielt jetzt zweifellos auch ihr Wissen um statistische Tatsachen eine Rolle: 40 Prozent der Morde der letzten zwanzig Jahre haben in der Schweiz in Familien und familienähnlichen Gemeinschaften stattgefunden. In den meisten Fällen waren Kinder und Frauen die Opfer, Täter waren zumeist Männer. Vor diesem Hintergrund trägt man zusammen, was man im Moment weiss: Der Mann ist als Wiederholungstäter aktenkundig, seine Gewalttätigkeit ist dokumentiert, Alkohol ist im Spiel, zudem hat der Mann zumindest ein Haushaltmesser als Waffe zur Verfügung. R. S.: «Das sind ausser möglicher Suizidalität all jene Punkte, die für uns einen ‹Krisentäter› ausmachen. In einem solchen Fall kann eine Tat nicht ausgeschlossen werden.»

Im Kommandoposten wird unter grossem Zeitdruck abgewogen: Die Variante, über Stunden zuzuwarten in der Hoffnung, der Mann beruhige sich, obschon seine Frau nicht auftaucht, und gebe dann auf, wird als zu heikel verworfen. Bleibt: verhandeln oder nicht verhandeln und einen Zugriff versuchen. Allerdings: Die Wohnungstüre gewaltsam zu öffnen birgt das Risiko, dass man zu spät käme, falls der Mann das Messer am Hals des Kindes hätte. Lakonisch kommentiert C. A.: «Wenn so entschieden wird, dass es gut kommt, spricht kein Mensch mehr davon; geht’s in die Hosen, ist die Polizei wochenlang in den Medien.»

Die Präzisionsschützen

In der Wohnung der Mutter kümmern sich jetzt eine Mitarbeiterin der Verhandlungsgruppe und Sanitätspolizisten der eingetroffenen Ambulanz um die verletzte junge Frau, für die im Moment ihre Blessuren allerdings das kleinere Problem sind.

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Nachdem sie aus dem Fenster den massiven Polizeiaufmarsch gesehen und mitbekommen hat, wie draussen schwer bewaffnete Polizisten herumeilen, ist zur Angst um ihre Tochter die Sorge um den Mann gekommen. Er ist ja nicht nur Schläger, sondern auch Lebenspartner und Ernährer der Familie. Dass es ihm derart martialisch an den Kragen gehen soll, hat sie nicht gewollt.

19.21 Uhr: Die Uniformpolizisten des «Notzugriffsteams» im Treppenhaus werden von «Enzian»-Mitgliedern ersetzt, der Sicherungsring wird mit «Enzian»-Präzisionsschützen verstärkt. Gleichzeitig beginnt man, die direkt anstossenden Wohnungen im Block zu evakuieren; die Leute in den übrigen Wohnungen werden kontaktiert und dringend gebeten, vorderhand das Treppenhaus zu meiden. Zudem wird der Hauseingang speziell gesichert.

Um 19.25 befiehlt der Einsatzleiter zur Vorbereitung eines Zugriffs die verstärkte Aufklärung im Haus und – via Zielfernrohre der Sicherungsschützen – auch in der Wohnung. Den «Enzian»-Spezialisten im Treppenhaus gibt er den «Notzugriff» und den «Zugriff bei günstiger Gelegenheit» frei. Diese Fachbegriffe beinhalten autonome Handlungsfreiheiten für die Gruppe in bestimmten, klar definierten Situationen. «Notzugriff» bedeutet, dass die Polizisten im Treppenhaus in eigener Kompetenz mit der Ramme in die Wohnung eindringen können, vorausgesetzt, es sind vier Kriterien erfüllt: Es liegt ein erhöhtes Risiko vor, das Vorgehen ist eine «unabweisbare Reaktion» auf eine dramatische Entwicklung, es besteht eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben des Opfers und der Zugriff erhöht nicht das bereits bestehende Risiko. Ziemlich kompliziert. Als Chef der «Enzian»-Spezialisten fasst R. S. diese Vorgaben in die praktikable Formel: «Notzugriff heisst, man hat keine andere Wahl – wenn man jetzt nicht handelt, ist das Kind schwer verletzt oder tot.»

Für die Präzisionsschützen wird gleichzeitig der «Schuss zur Notwehrhilfe» freigegeben. Das heisst: Wenn der Schütze von seinem Standort aus durch das Fenster sieht, dass die Situation in der Wohnung eskaliert, dann kann er, wenn Sicht und Distanz es zulassen, schiessen, um das Kind zu retten – vorausgesetzt, das ist wirklich die einzige Möglichkeit, und kein milderes taugliches Mittel ist verfügbar. «Der Grundauftrag der Schützen ist allerdings weiterhin, nicht zu schiessen, sondern mit ihren optischen Geräten zu beobachten und via Funk laufend zu melden, was sie sehen», sagt R. S. Gleichzeitig müssten sie nun vorbereitet sein, jederzeit einen «Schuss zur Notwehrhilfe» abgeben zu können.

Anders definierte Rahmenanweisungen an Präzisionsschützen lauten etwa: «Schuss bei günstiger Gelegenheit», «Schuss zur Aktionsunfähigkeit», «Schuss zur Fluchtunfähigkeit» oder «Schuss auf Sekundärziele», womit zum Beispiel eine Lampe, eine Kamera oder ein Wachhund gemeint sein könne. «Wir kennen das Tierschutzgesetz», sagt R. S. dazu, «aber in dieser Situation sind für uns eben alle nichtmenschlichen Ziele Sekundärziele.»

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Die letzte Möglichkeit

Die äusserste Rahmenanweisung an einen «Enzian»-Präzisionsschützen wäre der «finale Rettungsschuss», womit der gezielt tödliche Schuss in den Kopf gemeint ist. Jetzt formuliert R. S. sehr präzis: «Den finalen Rettungsschuss wird man dann und nur dann anordnen, wenn man wollen muss, dass der getroffene Mensch augenblicklich handlungsunfähig ist, sobald das Projektil in seinem Kopf ankommt. Das ethische Dilemma ist, dass die garantiert sofortige Handlungsunfähigkeit eines Täters gleichbedeutend ist mit dem sofortigen Tod des Menschen. Bei allen anderen Schüssen besteht zumindest eine Wahrscheinlichkeit, dass Überleben oder gar Wiederherstellung möglich sind.» Die gute Kenntnis der menschlichen Anatomie hilft allerdings auch bei Schüssen in die Arme oder Beine nur bedingt, die Schwere der Verletzung abzuschätzen. Wird ein grosses Blutgefäss getroffen, kann auch so innert Kürze der Tod eintreten.

Auch für die Rahmenanweisung «finaler Rettungsschuss» ist der Einsatzleiter zuständig, und er muss die Verantwortung übernehmen, wenn der Schütze in seiner Stellung den Schuss abgefeuert hat, dessen Notwendigkeit der Mann an der Waffe in diesem Moment aufgrund seines eigenen Informationsstandes nicht unbedingt beurteilen kann. Im Fall des «finalen Rettungsschusses» muss der Einsatzleiter also die Fragen beantworten: «Wie gross ist die Gefahr für Opfer und Dritte? Rechtfertigt sie es tatsächlich, einen Menschen zu töten?» Gesetzlich geschützt ist dieser Schuss durch den Artikel 2, Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wonach das Primat des «Rechts auf Leben» dann nicht mehr gilt beziehungsweise eine Tötung dann möglich ist, wenn es darum geht, «jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen».

Kein Gesetz der Welt kann freilich das ethische Dilemma aus der Welt schaffen, das, so C. A., in der Frage steckt: «Darf ein Mensch einen anderen Menschen töten, um einem Dritten das Leben zu retten?» Wer sich entschliesst, bei der Polizei mitzuarbeiten, entscheidet gleichzeitig, eine Schusswaffe zu tragen und im Extremfall auf einen Menschen zu schiessen. Präzisionsschützen werden zusätzlich geschult: Sie hören die Erfahrungsberichte von Schützen, vor allem aus dem Ausland, die einen finalen Rettungsschuss haben abfeuern müssen; sie sehen Bilder von Leichen mit einem Kopfschuss; sie werden darüber aufgeklärt, dass alle, die schiessen mussten, danach mit schlaflosen Nächten zu kämpfen haben und mit den Bildern des Ereignisses, die nicht mehr aus dem Kopf wollen. C. A.: «Die einen gehen der Frage ‹Was verlangt man da überhaupt von mir?› mit vertiefender Lektüre nach, andere klären sie für sich mithilfe ihres Glaubens.» Und dann gibt es die staatsrechtliche und die juristische Erklärung, die die tabuisierte Tat, einen Menschen gezielt zu töten, als verantwortbar erscheinen lassen: Der finale Rettungsschuss ist erstens die Ultima ratio zur Verteidigung des staatlichen Gewaltmonopols gegenüber einem Täter, der daran ist, an einer Person, die diesem

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Staat angehört, Selbstjustiz zu verüben. Und er ist zweitens die letzte Möglichkeit der «Notwehrhilfe», also einer Notwehr, bei der es nicht um die Abwehr eines Angriffs auf die eigene Person, sondern um die Abwehr eines Angriffs im Dienst eines Dritten geht. Darum ist der «finale Rettungsschuss» keine Exekution im Sinn der Todesstrafe, sondern, so R. S., «die letzte Möglichkeit der Gefahrenabwehr. Unser Ziel ist die Rettung des Opfers, die in diesem Fall nur noch durch den Tod des Täters erreicht werden kann.»

Leichtfertig werde bei der Kantonspolizei nicht geschossen, das betonen beide Gesprächspartner. Obschon die Sondereinheit «Enzian» jährlich 200- bis 250-mal ausrückt und dabei «sicher in dreissig bis sechzig heikle Situationen» gerate, ist der «finale Rettungsschuss» im Kanton Bern bisher weder je abgegeben noch angeordnet worden (in der ganzen Schweiz bisher einmal: in Chur im März 2000).

Was die Aspiranten und Aspirantinnen in ihrer Ausbildung auch hören: Setzen sie ihre Schusswaffe ein, wird zur genauen Klärung des Sachverhalts in jedem Fall ein Strafverfahren eröffnet, und zwar gleichermassen gegen Uniformpolizisten und Präzisionsschützen, zudem gegen deren Einsatzleiter. Darum werden Polizisten und Polizistinnen und soweit gewünscht auch ihre Angehörigen im Detail darüber aufgeklärt, was es bedeutet, als Folge der Berufsarbeit in einen allenfalls öffentlich wahrgenommenen Gerichtshandel verwickelt zu werden.

Und schliesslich dies: Wer einmal geschossen hat, ist danach, auch wenn der Schuss nicht tödlich trifft, meist nicht mehr derselbe wie vorher. Die Verarbeitung der Tat, die in Ausübung der Arbeit pflichtgemäss vollzogen wurde, kann gelingen oder misslingen. Trotz Rücksichtnahme am Arbeitsplatz, trotz Care-Team, trotz Unterstützung des korpsinternen Psychologen-Teams und der in angewandter Psychologie speziell geschulten Berufskollegen («Psychologie-Trainer»): Es kann vorkommen, dass jemand das Ereignis nur verarbeiten kann, indem er sagt: «Nie mehr». Dann muss er sich beruflich neu orientieren.

Der Verhandlungsversuch

Uniformierte Polizisten in der Umgebung der Mingerstrasse 17 haben unterdessen alle Hände voll damit zu tun, die Schaulustigen des Städtchens zurückzudrängen. Im Kommandoposten machen die Verantwortlichen in diesen Minuten noch einmal eine standardisierte Lagebeurteilung: Wie lautet genau der Auftrag? Welches sind die rechtlichen Rahmenbedingungen? Wie ist die Gegenseite einzuschätzen? Welche Mittel hat sie und was kann sie damit ausrichten? Wie gross ist ihr Wirkungskreis? Welches sind die eigenen Mittel? Gibt es Drittgefährdungen? Wieviel Zeit bleibt?

Um 19.37 Uhr wird entschieden, trotz der bekannten Risiken nicht länger zuzuwarten und einen Verhandlungsversuch zu wagen. Der Auftrag an den Spezia-

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listen der Verhandlungsgruppe: anrufen und – falls der Mann ans Telefon geht – beruhigen; erklären, worum es geht; Informationen herausbekommen, um die Lage genauer einschätzen zu können: Wie tickt der Mann? Hat er sich beruhigt oder ist er emotional noch immer auf hundert? Wie stark betrunken ist er? Reagiert er auf das Gesagte oder hört er gar nicht zu?

Innert weniger Minuten kommt es nun zu mehreren, teils sehr kurzen telefonischen Kontakten. Der Mann reagiert weiterhin emotional und beginnt am Hörer immer wieder zu brüllen und zu drohen. Klar wird einzig, dass er nach wie vor fordert, die Frau müsse sofort zurückkommen und die «Schmier» verreisen, sonst bringe er Melanie um. Nach dem fünften Kontaktversuch bricht der Verhandler ab und sagt: «Der mutmassliche Täter ist nicht verhandelbar», was heisse, er sehe im Moment keine Chance, über das Gespräch weiterzukommen.

Neubeurteilung im Kommandoposten: Abwarten und später noch einmal zu verhandeln versuchen? Aber was passiert, wenn die Ehefrau weiterhin ausbleibt?

Die günstige Gelegenheit

Um 20.05 Uhr meldet das Notzugriffteam aus dem Treppenhaus per Funk, man habe ein leichtes, feines Klopfen an der Wohnungstür gehört. Allerdings: Die «Enzian»-Spezialisten tragen Schutzhelme: War das wirklich ein Klopfen? Kam es wirklich aus jener Wohnung? Wenn es ein Klopfen aus der Wohnung war: Was bedeutet es? War’s das Kind an der Tür oder etwas anderes? Soll nun der Notzugriff befohlen werden? 20.09 Uhr: Neues aus dem Treppenhaus: Die Türfalle der Wohnung habe sich leicht bewegt, die Tür sei aber nicht aufgegangen, man vermute, sie sei abgeschlossen. Wars das Kind, das flüchten wollte? War’s der Täter, der herauszufinden versuchte, ob jemand draussen sei? Sollen die Zugriff-Spezialisten nun vor der Türe bleiben oder sich zurückziehen? Was tun sie, wenn der Mann im nächsten Moment aus der Wohnung kommt, das Kind vor sich, ein Messer an dessen Kehle? Ihm den Weg versperren mit dem Risiko, dass er zusticht? Oder zurückweichen und ihn vorbeilassen?

Anweisung aus dem Kommandoposten: Falls der Vater herauskommt, versuchen, ihn aufzuhalten. Falls er dann gegen das Kind akut bedrohlich wird, zurückweichen, ihn gehen lassen, ihn aber offen verfolgen, damit er weiss: Die Polizei ist da, sie bleibt dran. – In den nächsten Minuten bleibt es an der Wohnungstüre ruhig.

Um 20.27 Uhr meldet ein Sicherungsschütze über Funk, er sehe durch sein Zielfernrohr auf dem Balkon der fraglichen Wohnung einen Mann, vermutlich sei es der Vater. Ein Kind sei nicht zu erkennen. Und gleich darauf meldet er, der Mann verschwinde wieder in der Wohnung. Geschossen hat er nicht, obwohl er neben dem «Schuss zur Notwehrhilfe» unterdessen auch den «Schuss bei günstiger Ge-

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legenheit in die Extremitäten» frei gehabt hätte: Zu unsicher schien ihm, ob ein möglicher Treffer in einen Oberarm den Mann soweit ausser Gefecht gesetzt hätte, dass der für das Kind ungefährliche Zugriff vom Treppenhaus her möglich geworden wäre.

Im Kommandoposten reagiert man sofort auf die Neuigkeit. Anweisung: Falls der Mann noch einmal auf den Balkon tritt und das Kind offensichtlich nicht bei ihm ist, soll – ohne Schussabgabe – sofort der Notzugriff vom Treppenhaus her versucht werden.

Dann geht es plötzlich schnell: Der Mann betritt noch einmal allein den Balkon. Sofort sagt der beobachtende Schütze «Go!» ins Funkgerät, und bereits im nächsten Moment splittert die Wohnungstür unter der Ramme des Notzugriffteams, sechs «Enzian»-Polizisten stürmen vorwärts, zwei springen den Mann, der eben wieder in die Stube tritt, an und gehen mit ihm zu Boden, einer packt das ebenfalls anwesende Kind und ist mit ihm bereits in einem Nebenraum. Sein Vater schlägt beim «Zugriff» hart auf, verletzt sich leicht und beginnt dann sofort wieder zu brüllen, ist derart ausser sich, dass er nicht gefesselt werden kann. Der Notarzt der Sanitätspolizei wird angefordert. Während mehrere «Enzian»-Männer den Tobenden festhalten, verabreicht ihm der Arzt eine Beruhigungsspritze. Später tragen ihn Sanitätspolizisten auf einer Bahre aus der Wohnung und überführen ihn nach Bern ins Kriseninterventionszentrum des Inselspitals.

Die kleine Melanie ist über das Spektakel mehr verdutzt als erschrocken, ein lauter Vater gehört ja zu ihrem Alltag. Zwar findet sie es ein bisschen merkwürdig, dass der fremde Mann, der sie so plötzlich ins Kinderzimmer hinüberträgt, einen grossen Kübel auf dem Kopf hat. Aber als er den Kübel dann auszieht und plaudernd einen Trickfilm auf ihren kleinen Kinderbildschirm zaubert, ist sie beruhigt und zufrieden. «Kurz darauf», beendet C. A. seine Erzählung, sei die Mutter des Kindes in die Wohnung gekommen, «sehr emotional auch sie, mit Angst um ihren Mann, später zwischen Angst und Freude, Schreck und Trauer hin- und hergerissen.»

Für die Kantonspolizei ist die Arbeit damit getan. Man habe zufrieden sein können mit dem Ausgang der Aktion. Die plötzliche lähmende Müdigkeit, die einen in solchen Momenten befalle, zeige, wie gross zuvor die Anspannung sei – für alle, die handeln müssen. «Und natürlich weiss man, wie schwierig die Situation bleibt, die man zurücklässt», sagt C. A. «Man hat ja seine Eindrücke, man macht sich Gedanken über das Schicksal dieser Familie.» Auch hier gehe das Leben weiter. Vielleicht werde nach der psychiatrischen Abklärung für den Ehemann ein Fürsorgerischer Freiheitsentzug von einigen Wochen angeordnet. «Aber irgendwann wird er zurückkommen und wieder vor der Wohnungstür stehen. Was ist dann?»

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Die Anzeige

«Enzian»-Chef R. S. fasst noch einmal zusammen, warum solche Einsätze derart heikel sind: «Handeln müssen wir in der Situation aufgrund dessen, was wir im Moment wissen, aber gemessen werden wir später am Resultat. Angenommen, wir hätten in diesem Beispiel zugewartet, der Mann hätte, weil die Frau nicht zurückgekommen ist, tatsächlich sein Kind umgebracht, und später wäre er aus der Wohnung gekommen: Man hätte uns vorgeworfen, nicht eingeschritten zu sein, die Drohung sei doch klar und deutlich ausgesprochen worden. Und umgekehrt: Angenommen, wir hätten uns gewaltsam Zutritt zu verschaffen versucht, die Türe wäre aber verbarrikadiert gewesen, wir hätten die entscheidenden Sekunden verloren und der Mann hätte dadurch die Zeit gefunden, sein Kind umzubringen: Man hätte uns vorgeworfen, der Zugriffsversuch sei verantwortungslos gewesen; es liege auf der Hand, dass erst unsere missglückte Aktion den Mann provoziert und zum Täter gemacht habe.»

Die Straftatbestände, die der «EL Fall» schliesslich zusammengetragen hat, sind exakt jene, die das Bundesamt für Statistik als die weitaus häufigsten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt auflistet. Gezählt wurden für das Jahr 2010 exakt 4882 Tätlichkeiten (Artikel 126 Strafgesetzbuch), 4219 Drohungen (Art. 180) und 2225 einfache Körperverletzungen (Art. 123). Die gleiche Statistik weist 26 «Tötungsdelikte vollendet» aus; betroffen waren 21 Erwachsene und 5 Kinder, 19 davon weiblich und 7 männlich.

Der Ehemann vom Mingerweg 17 wurde von Amtes wegen angezeigt: Häusliche Gewalt gilt seit einigen Jahren als Offizialdelikt. Diese Anzeige ist später von der Ehefrau – was ihr Recht ist – zurückgezogen worden. Das sei, sagt C. A., kein seltener Fall bei häuslicher Gewalt: «Dass Frauen immer wieder so handeln, führt dazu, dass es in gewissen Wohnungen wiederholt zu Situationen mit eskalierender Gewalt kommt.» R. S. ergänzt: «In vielen Fällen ziehen Frauen ihre Klage zurück, bei denen man befürchten muss: Das kommt nicht gut. Und es kommt dann manchmal wirklich nicht gut.»

Bleibt der Aufwand für die knapp dreistündige Aktion, bei der rund dreissig Personen im Einsatz gewesen sind. Der Täter ist dafür nicht zu Kasse gebeten worden. Rechnungen stellt die Polizei nur bei nachgewiesener «Irreführung der Rechtspflege» – wenn jemand also eine Situation inszeniert, um einen Polizeieinsatz zu provozieren. Die angefallenen Überstunden des Einsatzes am Mingerweg 17 haben die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bei nächster Gelegenheit kompensiert.

in: Elio Pellin [Hrsg. im Auftrag des Bernischen Historischen Museums]: Straftat, Schaulust, Spurensuche. Das Buch zu Mord und Totschlag, Zürich (Verlag Neue Zürcher Zeitung) 2011. Der Titel dieses Beitrags hat dort gelautet: «Der Kopf des Täters im Zielfernrohr ist der Kopf eines Menschen / Anatomie eines Polizeieinsatzes». 

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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