Der neue Bundesratsbunker

 

Ein Luxusbunker unter der Blümlisalp. – Im Winter 1977/78 muss der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt eine Vision gehabt haben. Im Oktober hatte er eine erste Fassung der «Stoffe» mit dem Untertitel «Zur Geschichte meiner Schriftstellerei» ringheften lassen. Um die Jahreswende skizzierte er in einem dicken Blindband mit seiner kantigen Handschrift die Erzählung «Mondfinsternis», die später Herzstück des zweiten Teils der «Stoffe» werden sollte; unter die letzten Sätze setzte er das Datum «15.2.1978». Anschliessend muss es passiert sein: Er begann, im ersten Teil der «Stoffe» die Erzählung «Der Winterkrieg in Tibet» um jene Episode zu erweitern, die Jahre später zur Vorlage für eine der grössten innenpolitischen Real-Dürrenmattiaden wurde. «Ist es wahr», liess er notierend eine Frau nach dem Dritten Weltkrieg den Ich-Erzähler fragen, «dass unter der Blümlisalp immer noch die frühere Regierung und das Parlament sind? In einem riesigen Luxusbunker, antwortete ich, mit einem Notspital und Lebensmitteln für viele Jahrzehnte.» Das ist in Dürrenmatts Nachlass der früheste Hinweis auf die Bunker-Episode. Als sie 1981 unter dem Titel «Der Winterkrieg in Tibet/ Stoffe 1» veröffentlicht wurde, lautete sie dann so: «Schon vor [dem Ausbruch des Dritten Weltkriegs] hatten sich die Regierung, die Staatsbehörde und die beiden Parlamente in die grossen Bunker unter der Blümlisalp zurückgezogen, schien doch eine gegen jeden Angriff geschützte Legislative und Exekutive die Vorbedingung jeder Landesverteidigung. Das Parlamentsgebäude der Hauptstadt war unter der Blümlisalp genau nachgebildet, samt der Geheimanlage darunter und den Funkanlagen. Sogar die gleiche Aussicht, Dekorateure vom Stadttheater hatten mit vergrösserten Fotografien und Scheinwerfern dafür gesorgt. Um die Anlage herum waren die Wohnungen, die Kinos, die Kapelle, die Bars, die Kegelbahnen, das Spital und das Fitness-Center in die Blümlisalp gebaut. Darum herum lagerten sich die drei ‘Ringe’: der Versorgungsring mit den Lebensmitteln und den Weinkellern (besonders Waadtländer), der innere und der äussere Verteidigungsring. Unter der ganzen Riesenanlage die Tresorräume mit den gehorteten Goldbarren der halben Welt, und unter diesen ein Atomkraftwerk.»

Die Geländeverstärkung «K 20». – Am 30. April 1986 beschliesst der Gesamtbundesrat, als Ersatz für seinen bisherigen Kriegssitz, den der Volksmund seit Jahrzehnten oben am Brünigpass vermutet hat, eine neue «Führungsanlage für die Landesregierung» bauen zu lassen. Sie wird als geheim klassifiziert und erhält den Namen «K 20». Das Eidgenössische Militärdepartement (EMD) wird beauftragt, die Realisierung sofort an die Hand zu nehmen. Erste Kostenberechungen gehen von einem Aufwand von 200 bis 250 Millionen Franken aus. Beschlossen wird aus Geheimhaltungsgründen, das benötigte Geld dem Parlament nicht als Gesamtkredit, sondern in jährlichen Tranchen zu beantragen, für das Jahr 1987 vorerst 21 Millionen Franken,  und zwar unter dem irreführenden Titel «Geländeverstärkungen». Um das geheime Geschäft zu prüfen, bildet die nationalrätliche Militärkommission im folgenden Jahr eine «Unterkommission», der Pierre de Chastonay (CVP), Jacques Martin (FDP), Hans Oester (EVP), Max Chopard (SP) und Adolf Ogi (SVP) angehören; präsidiert wird sie vom Liberalen François Jeanneret. Diese Unterkommission wird am 13. August 1987 vor Ort über das Ziel der Anlage, die sich unterdessen bereits in Bau befindet, die Gesamtkosten, die Pläne und die Finanzierungsmodalitäten informiert. Am 22. August gibt die Unterkommission ihrerseits, zusammen mit dem offiziellen Bauherrn, dem Bundeskanzler Walter Buser (SP), ihr Wissen an die Gesamtkommission weiter, und zwar in einer Art und Weise, die der Geheimhaltungsstufe des Projekts entsprochen haben muss: «Niemand hat im Grunde gewusst, worum es sich gehandelt hat», sagt später Hans-Rudolf Feigenwinter (CVP) vor dem Nationalrat. Vorderhand gehen die Bauarbeiten an einem streng geheimen Ort zügig voran, nach den 21 Millionen für das Jahr 1987 bewilligt das Parlament für 1988 40 Millionen und für 1989 20 Millionen. Als 1990 weitere 30 Millionen bewilligt werden sollen, kommt es im Vorfeld der Parlamentsdebatte zu einer kleinen Indisketion in der «Weltwoche»: Als ein Mitglied der Militärkommission in der Vorberatung Näheres über den Budgetposten «Ausbau der Führungsinfrastruktur» habe wissen wollen, sei ihm beschieden worden, «dass hier die normalen Regeln der parlamentarischen Kontrolle ausser Kraft gesetzt worden seien, weil das Projekt in grösste Geheimhaltung gehüllt werden müsse». Die Zeitungsmeldung schliesst mit dem vielbeachteten Hinweis, bei dieser Infrastruktur handle es sich «um den Sitz des Bundesrates im Kriegsfall» (7.5.1990).

Geheime Nationalratsdebatte und öffentliche Vermutungen. – Am 19. Juni 1990 kommt es im Nationalrat bei der Diskussion dieses Postens «Ausbau der Führungsinfrastruktur» zum Eklat: Elmar Ledergerber (SP) beantragt dessen Ablehnung, weil er sich nicht vorstellen könne, «einen Kredit zu bewilligen, ohne dass wir wissen, worum es geht». Weil der zuständige Bundesrat Kaspar Villiger (FDP) in der Folge nicht bereit ist, zur offenen Diskussion vertrauliche Unterlagen zu deklassifizieren, stellt Ledergerber den Ordnungsantrag, die Verhandlung sei nach Artikel 52 des Geschäftsreglementes geheim, das heisst unter Ausschluss von Presse und Publikum, weiterzuführen. Da auch die Abstimmung darüber, ob geheim weitergetagt werden solle, geheim zu erfolgen hat, wird nun in einer halbstündigen, geheimen Sitzung Ledergerbers Antrag, die Sitzung sei geheim weiterzuführen, abgelehnt und danach öffentlich weitergetagt. Die opponierenden Sozialdemokraten – neben Ledergerber ergreifen Peter Bodenmann und Helmut Hubacher das Wort – bestreiten in der Folge nicht, dass der Bundesrat über eine neue geheime Führungsinfrastruktur verfügen solle, sie bestreiten vielmehr die Rechtmässigkeit der Gewährung einzelner Kredittranchen, ohne dass bis anhin der «Verpflichtungskredit im Ausmass von 250 Millionen» (Hubacher) bekannt gewesen sei. Bundesrat Villiger, der in den vorangegangenen Sitzungen der Militärkommission deren Mitglieder noch damit eingeschüchtert hatte, es sei für die Kommissionsmitglieder «durchaus auch von Vorteil, wenn wir so geheime Sachen nicht wüssten. Wir würden uns nämlich dann auch nicht gewissen Repressionen von Leuten aussetzen, die diese Information gerne hätten», sieht sich nun angesichts der Opposition im Nationalrat genötigt, einige zusätzliche Angaben zum Bunker zu machen. Es handle sich, führt er aus, um «eine zivile Anlage, d.h. eine Anlage für die Regierung. Deshalb ist der Bundeskanzler Bauherr. Der Kredit ist einfach mit im Militärbudget. Es sollen dort der Bundesrat, aber auch die Stäbe der Departemente und gewisse Sonderstäbe hineingehen können.» Staatsmännisch schliesst er: «Wir sind hier in einem Zielkonflikt zwischen Anspruch der Öffentlichkeit auf Information und berechtigten Geheimhaltungsinteressen.» Ledergerbers Antrag auf Ablehnung der vierten Kredittranche wird mit 116 zu 58 Stimmen abgelehnt. Trotzdem ist die Wirkung dieser Debatte gross. Tags darauf sind die Zeitungen voll mit Berichten über «Geheime und öffentliche Wortgefechte über [den] geplanten Bundesratsbunker» («Tages-Anzeiger»). Nachdem es die «Weltwoche» noch anderthalb Monate zuvor nur gerade diskret anzutippen gewagt hatte, posaunte es jetzt die ganze Schweizer Presse hinaus, dass irgendwo im Land zur Zeit an einem neuen Bundesratsbunker gebaut werde: «Wo sich der Bundesrat und die Verwaltungsspitze im Kriegsfall verstecken, darüber wird weiterhin spekuliert» («Der Bund», 20.6.1990). Spekuliert wurde dann zum Beispiel in der WoZ, wo der «neugierige Wanderer Franz Moor» von einer grossen Baustelle hinter Kandersteg berichtete, die sich am Eingang zur Kanderschlucht, die ins Gasterntal hinaufführt, befinde. Dort werde in die Felsflanke der Jegertosse, die sich zu den beiden Fisistöcken aufschwingt, «ein mächtiger Stollen in den Berg gebrochen». Kanderstegs Gemeindeverwaltung habe auf Anfrage lediglich verlauten lassen, das sei «eine Baustelle des Bundes» (29.6.1990). Unter dem Titel «Die Blümlisalp als Bunker für  den Bundesrat» spekulierte aber kurz darauf auch der «Tages-Anzeiger»: «Die Bunkerbaustelle (nicht unter der Blümlisalp!) ist weitherum sichtbar. Wer Augen im Kopf, etwas Phantasie, gutes Schuhwerk oder ein starkes Motorrad hat, der findet noch Kilometer weit vom Haupteingang unzweideutig verräterische Baustellen und Entlüftungsschächte.» (23.7.1990) Den Widerspruch zwischen dem Titel und dem Einschub «(nicht unter der Blümlisalp!)» hatte der Journalist Niklaus Ramseyer zweifellos mit Bedacht gesetzt: Zwar führt der Stollen offensichtlich unter die Fisistöcke und nicht unter die Blümlisalp; jedoch sind diese die beiden westlichsten Gipfel des Blümlisalpmassivs, das sich via Dolden-, Fründen- und Oeschinenhorn bis zur eigentlichen Blümlisalp hinüberzieht.

Eine Unterfelsanlage im Interesse der Landesversorgung. – Wirkung hat die Nationalratsdebatte auch in Kandersteg. Plötzlich sind im Dorf verschiedene sinnige Namen für das Loch zu hören, das hinten in der Eggeschwand, kaum dreihundert Meter neben dem Portal des Lötschberg-Eisenbahntunnels, in den Berg führt: «P 26-Loch» oder «Ogis Weinkeller» oder schlicht «Bundesratsbunker». Die Bauherrschaft – ist jetzt im Dorf zu vernehmen – bemühe sich: Als in der Altjahrswoche 1988 vom Fisistock herunter ein mächtiger Felssturz zu Tal gedonnert sei und die Bauern des Gasterntals danach der geheimnisvollen Sprengerei im Berg die schuld gegeben hätten, habe sie sich kulant gezeigt: Auf ihre Kosten sei im folgenden Sommer hängengebliebenes, lockeres Gestein aus der steilen Flanke gesprengt worden. Weiter vernimmt man, drinnen im Eisenbahntunnel seien ein Ausweichgeleise und ein 60-Tonnen-Lift geplant als Zufahrt in geheime unterirdische Anlagen, der jetzige Eingang werde später wieder verschlossen. Zweihundert Arbeiter seien auf der Baustelle, die meisten Ausländer. Einheimische hätten kaum Aufträge erhalten, alles werde von Auswärtigen gemacht. Im Dorf gibt es in diesem Sommer welche, die werden misstrauisch: «Da reden sie von europäischer Öffnung und Militärreformen, und klammheimlich graben sie an ihren Réduit-Löchern weiter.» Eine Gruppe besorgter Bürgerinnen und Bürger aus Kandersteg versucht, von der Bauherrschaft, die man im EMD vermutet, genauere Informationen zu erhalten: «Was wird in der Eggeschwand für ein Stollen gebaut? Welches Ausmass wird dieser Bau noch erreichen (Landkauf, Häuser usw.)? Wie sieht die Wartung des Stollens aus (Personal, Strom, Wasserversorgung)? Hat der Bau auf das Gasterntal als Ausflugsziel und Naturparadies einen Einfluss? Wie ist das geprüft worden? Wann werden die Bauarbeiten beendet sein? Welche geologischen Auswirkungen hat ein solcher Stollenbau (Felssturz, Erdrutsch usw.)?» Jean-Pierre Froidevaux, Stabschef der Gruppe für Generalstabsdienste schreibt nach Kandersteg: «Wie Sie wissen, baut das EMD eine Unterfelsanlage im Interesse der Landesversorgung. Die Bauherrschaft nimmt – wie Sie sicherlich festgestellt haben – grosse Anstrengungen, um den Anliegen der Anwohner, der Bevölkerung des Tales bestmöglich Rechnung zu tragen. Sämtliche Massnahmen wurden selbstverständlich mit den zuständigen kantonalen und kommunalen Behörden einvernehmlich abgesprochen.» Kanderstegs Gemeindeschreiber Heinz Minnig seinerseits verweist in einer Stellungnahme auf den «Amtsanzeiger von Frutigen», in dem bereits im Herbst 1987 zu lesen gewesen sei: «Wie das Eidgenössische Militärdepartement dem Gemeinderat mitteilt, wird zur Zeit bei der Baustelle an der Kander häufig gesprengt. Der Gemeinderat hat sich deshalb nochmals über den Bau orientieren lassen. Es handelt sich um eine militärische Anlage im Interesse der Landesversorgung (kein Munitionslager, keine Nagra-Bohrstelle). Der Gemeinderat wird die weiteren Arbeiten aufmerksam verfolgen und die Interessen der Bevölkerung angemessen vertreten.» Dass der Gemeinderat das je gekonnt hätte, muss auch Minnig selber bezweifeln. Er schliesst: «Weitere Informationen haben wir auch nicht.»

«P 99»: Ein Hirngespinst mit gewaltigen Ausmassen. – Mit Poststempel vom 10. Dezember 1990 erhält die Redaktionsstelle Bern der WoZ einen anonymen Brief an die «sehr geehrte Redaktion». Er stammt von einem «dienstpflichtigen Familienvater und Angestellten», der Neues weiss über das Loch in der Eggeschwand, das er als «Projekt 99» bezeichnet: «Eigentlich 100%ig sicher, angesichts des Gigantismus des Hirngespinstes aber sicher nicht ganz hundert.» Weil die «führenden Herren die Realität, das So-Sein, völlig aus den Augen und Herzen verloren» hätten, habe er sich entschlossen, selber nachzuschauen, was dort hinten eigentlich gebaut werde. Deshalb sei er im Herbst 1990 «ca. 3 m links oben zwischen dem Tor und dem Fels» in den geheimnisvollen Stollen eingesteigen: «Ca. 400 m vom Portal entfernt beginnt eine sanfte Linkskurve, etwas weiter beginnt die beleuchtete Strecke, vom Portal aus nicht sichtbar. Das dumpfe Grollen der Züge zeigt die Nähe des Lötschbergtunnels, welcher hier überquert wird. Der ganze Stollen ist mit Beton abgedichtet, teilweise mit Stahlträgern verstärkt. Die sanfte Rechtskurve folgt bei 1100 m (die Distanzen sind alle 50 m an der linken Wand sauber markiert), worauf der Stollen bis zum km 2 gerade ist. Bis 1700 m ist der Stollen im Rohbau fertig mit den zwei Baubahn-Geleisen und dazwischen dem mit Holz abgedeckten Wasserabfluss. Zum Wasserabfluss: Die ganze Anlage ist so geneigt, dass das Wasser zügig abfliesst und beim Portal ein noch offenes Klärbecken durchquert, um dann durch ein Gitter die Kander zu erreichen. Ich bin erstaunt über die Wassermenge überall im Stollen. Bei 1 700 m beginnen die Abzweigungen, welche teilweise im Rohbau fertig sind und teilweise erst gebohrt werden. Ich beschliesse, zuerst bis ganz hinten zu gehen und auf dem Rückweg die Abzweigungen zu erkunden, falls ich noch Zeit haben werde. Bei der Verzweigung km 2 halte ich mich also rechts, wo sich verschiedene Baumaschinen befinden. Etwa nach 300 m ist der sanft geneigte Teil des Stollens in einer Kaverne zu Ende, jedoch zeigt der starke Luftzug (ohne Ventilationsgeräusch) eine Fortsetzung an. Der etwas engere Stollen steigt geradeaus in einem Winkel von ca. 45 Grad an. Die Holztreppe an der rechten Wand ist eng und mühsam, die Sohle des Stollens ist hier mit Aushub gefüllt. Nach ca. 400 m ist rechts eine Abzweigung mit einem kleinen Bagger – wird hier die Ventilation geplant? Der Stollen geht noch höher, ich sehe ein helles Kunstlicht weit oben und ein Gleis, welches vom Portal Gasterntal bis hierher reicht. Da der Aufstieg ermüdet (gebücktes Hinaufsteigen) und ich ja auf dem Rückweg die Abzweigungen noch erforschen will, kehre ich um. Ich bin nun eine Stunde im Stollen. Hinunter geht es leichter, bald schon bin ich wieder in der Kaverne unten am Schrägstollen. Der Rohbau ist hier noch nicht fertig, der Querschnitt des Stollens kleiner. Etwas abseits finde ich einen senkrechten Schacht nach unten (ca. 30 m tief und 3-4 m Durchmesser, unten mit Wasser bedeckt. Welchen Zweck hat wohl ein solches Loch – gibt das die eigene Wasserversorgung?). Bald erreiche ich wieder den km 2, die hintere Abzweigung des geraden Hauptstollens, diesmal gehe ich durch den andern Stollen, welcher Kurven macht und deutlich ansteigt. Nach 200 m rechts wieder ein grosses Loch, ca. 10 m senkrecht nach unten in eine Kaverne, unbeleuchtet. Nun wird mir das Ganze zuviel. Ich befürchte, mich zu verlaufen, zu komplex wird mir die Anlage.» Dieser Bericht ist am 11. Januar 1991, rechtzeitig zum Auftakt der 700-Jahr-Feier der Schweiz von der WoZ veröffentlicht worden. Um die Grenze zwischen Fiktion und allenfalls geheimnisverletzende Fakten zu verwischen, hat sich die Zeitung damals erlaubt, den Text des anonymen Berichterstatters dem kurz zuvor verstorbenen Friedrich Dürrenmatt in die Feder zu legen. Die Begründung war: Der liebe Gott habe Dürrenmatts letztem Wunsch, nachsehen zu dürfen, was sich unter dem Blümlisalpmassiv wirklich verberge, gütig entsprochen. Dürrenmatt habe nach seiner Höhlenwanderung einen Bericht verfasst und ihn von einer entlegenen Poststation auf halbem Weg zwischen Erde und Himmel an die WoZ-Redaktion gefaxt. Dieses gottgewollte Zusammentreffen von Metaphysik und Enthüllungsjournalismus muss damals sogar den Geheimhaltungsexperten des EMD eingeleuchtet haben.

Saison der Enthüllungen. – Das staatlich verordnete Jubeljahr 1991, mit dem die hohen Herren Bunkerbauer versuchten, die auf immerwährende bewaffnete Neutralität eingeschworene Sonderfall-Schweiz im propagandistischen Schnellverfahren auf Europakompatibilität umzupolen, brachte – was den Bundesratsbunker betrifft – eine Saison der Enthüllungen. Zuerst schrieb die Journalistin Heidi Stutz in einem Porträt über den nunmehrigen Bundesrat Adolf Ogi, einen gebürtigen Kandersteger: «Die Ogis sind im Kandertal eine Sippe mit starkem Familiensinn. Auch das Dorf ist mit ‘Döfi’ eng verbunden. Was er tut, ist unantastbar. Selbst das riesige Loch in der Eggeschwand, links vom Lötschberg-Tunnelportal, wo für rund 150 Millionen Franken der Bundesratsbunker gebaut wird, hat kaum für Unruhe gesorgt – trotz einem Felssturz am Fisistock, der auf die Sprengarbeiten zurückgehen soll.» («Das Magazin», 12/91) Pikant ist nicht nur das direkte Ausplaudern eines Staatsgeheimnisses, sondern auch, dass das Sätzchen «Was er tut, ist unantastbar» suggeriert, «das riesige Loch in der Eggeschwand» gehe massgeblich auf Ogis Tun zurück. Belegt hat Stutz diese Unterstellung freilich nicht. Jedoch: War Ogi nicht einige Jahre zuvor Mitglied jener «Unterkommission» der nationalrätlichen Militärkommission, die als einzige halbwegs informiert war, worum es hinten in der Eggeschwand gehen sollte? Ist es nicht naheliegend, dass die Berner Technokraten, um zu Kanderstegs Ja-und-Amen zum Projekt zu kommen, damals den populären Einheimischen vorgeschickt haben? Ist nicht denkbar, dass kurz darauf auch diese prompt geleisteten Dienste für Ogi als Bundesrat sprachen? Item. Am 11. September 1991 veröffentlicht der Basler SP-Nationalrat Helmut Hubacher im «Brückenbauer» eine Kolumne, in der er der Frage nachgeht, was nach dem «Zerfall des Ostblocks», in einer Zeit, wo das Ozonloch gefährlicher geworden sei als die Russen, Sicherheitspolitik überhaupt sein könnte. Was man zur Zeit darunter verstehe, setzt er gleich an den Anfang: «Schon seit Jahren bauen irgendwo 60 Männer den Bundesratsbunker. Tief in den Alpen. In einem abgelegenen Tal. Der Zugangsstollen zu den Kavernen misst fast zwei Kilometer. Gebaut werden zwei Kavernen, 130 mal 22 mal etwa 30 Meter. (…) Das Sicherheitswerk soll 1998 vollendet sein. Dannzumal wird der Bundesrat über einen kriegs- und katastrophensicheren Unterstand verfügen können. Nicht für sich allein, sondern für rund tausend Personen. Warum so viele? Der Bundesratsbunker wäre in Kriegs- und Katastrophenzeiten Sitz der eigentlichen Regierungszentrale. Die nötigen Büros für die Stäbe des Bundesrates, der sieben Departemente, für Presse, Radio und Fernsehen, für Verpflegungs- und Unterhaltsdienste, die aufwendigen technischen Anlagen, die Unterkunfts- und Aufenthaltsräume müssen plaziert werden. Ja, und dann bleiben noch je 40 Plätze für eidgenössische Parlamentarier und kantonale Regierungsräte reserviert. Diese monumentale ‘Arche Noah’ ist auf 300 Millionen Franken budgetiert worden.» Damit ist nun auch klar, was zuhinterst im Stollensystem, durch das ein Jahr zuvor der anonyme Berichterstatter der WoZ geirrt ist, geplant wird: eine «Arche Noah», «birnenförmig, mehrere Stockwerke hoch», wie Ronald Sonderegger am 6. Oktober in der «SonntagsZeitung» ergänzt. Schon am 1. September hatte Monica Glisenti im «SonntagsBlick» die Masse der beiden Kavernen übrigens mit 130 x 22 x 35 Metern angegeben. Nach dieser Saison der Enthüllungen ist noch vor der im Herbst 1991 anstehenden Debatte um eine weitere finanzielle Tranche für den Bunker der Geheimhaltungsanspruch des EMD zumindest für die Eckdaten des Projekts erledigt. Darüberhinaus kommt der Bau nun auch politisch langsam unter Druck: Am 15. August tagt die nationalrätliche Militärkommission in Feusisberg und wagt fünfeinhalb Jahre nach Baubeginn erstmals, auf einigen kritischen Fragen zu beharren. Der Bundeskanzler wird beauftragt, «weitere Abklärungen über den Ablauf und die Rechtmässigkeit der Beschlüsse zum Bau der Anlage K 20» vorzunehmen, sowie Abklärungen betreffend Redimensionierung respektive eine Endkostenprognose bei Abbruch der Bauarbeiten vorzulegen. Der Bericht des Bundeskanzlers ergibt selbstverständlich, dass der Ablauf rechtmässig gewesen sei, die Endkosten bei Abbruch nur unbedeutend geringer als bei Fertigstellung der Anlage wären und eine weitere Redimensionierung nicht mehr sinnvoll sei, weil schon jetzt «die Personal-Bestände sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich ungefähr halbiert worden» seien. (Wenn Hubachers Angabe von «tausend Personen» stimmt, hat man demnach zuerst eine Infrastruktur für zweitausend Leute in den Berg bauen wollen.) Kurzum: Das Projekt sei bereits soweit zusammengestrichen worden, dass darin «der Lage entsprechend nur noch regiert und nicht mehr verwaltet werden» solle.

Die kunstvolle Mechanik der Konkordanzdemokratie. – Am 1. Oktober 1991 geht es im Nationalrat um die diesjährige Tranche von 25 Millionen Franken für den Bunker. Ledergerber als Sprecher der Minderheit in der Militärkommission rügt Verletzungen der parlamentarischen Regeln bei diesem Geschäft und fordert Ablehnung des Betrags, bis das EMD endlich den im Finanzhaushaltsgesetz vorgeschriebenen Verpflichtungskredit für das ganze Projekt vorzulegen geruhe. Zur Rechtmässigkeit des bisherigen Vorgehens zitiert er aus dem Bericht des Bundeskanzlers, unterdessen ist das François Couchepin (FDP): «Compte tenu de l’intérêt supérieur de l’Etat, on a ainsi fait passer la nécessité de secret avant la stricte application de la loi.» Feigenwinter kontert als Sprecher der Mehrheit der Militärkommission mit einem für diese Debatte neu ausgegrabenen «Bundesbeschluss über die Unterbreitung der Objektbegehren für Grundstücke und Bauten» vom 14. März 1972, dessen Artikel 1 ein vereinfachtes Verfahren bei Projekten erlaube, die «im Interesse der Landesverteidigung geheimgehalten» werden müssten und der deshalb im vorliegenden Fall als lex specialis das lex generalis des Finanzhaushaltsgsetzes ausser Kraft setze, woraus sich die Rechtmässigkeit des bisherigen Vorgehens ergebe. Ledergerber versucht nun, das «Theater mit diesem Bundesratsbunker» ins Politische zu wenden: «Ich erinnere Sie daran, dass mit diesem Bunker die Frage verbunden ist, welche Form von Krisenorganisation dieser Staat haben soll, welche Form von Krisenmanagement dieses politische System auf die Beine stellen und demokratisch legitimieren will und in welcher Form in diesen Fällen die Parlamentarierinnen und Parlamentarier ihr Mandat wahrnehmen können.» Er erinnert auch daran, dass in der Militärkommission neuerdings ja auch «von bürgerlicher Seite eine Reihe von Zweifeln und Fragen geäussert worden» sei. In dieser Situation scheint es Feigenwinter angezeigt, eine argumentative Réduit-Position zu beziehen: «Die Investition ist nun so weit gediehen, dass es sinnlos wäre, die Millionen, die man bereits verbaut hat (…) zu vergessen und die Anlage nicht fertigzustellen.» Die Sinnlosigkeit des Baus würde, mit anderen Worten, durch die Sinnlosigkeit, ihn nicht fertig zu bauen, noch übertroffen. Im übrigen gibt Feigenwinter bekannt, das EMD wolle «diese ganze Angelegenheit zu Recht los sein», immerhin handle es sich ja um eine Anlage für die politische Führung des Landes und sie habe deshalb «nicht in erster Linie militärischen Charakter». Zuständig für den Bundesratsbunker sei deshalb ab nächstem Jahr das Finanzdepartement, das heisst der sozialdemokratische Bundesrat Otto Stich. Für einen kostbaren Augenblick wird plötzlich durch den Schleier der parlamentarischen Kulissenschiebereien die kunstvolle Mechanik der Konkordanzdemokratie sichtbar: Der mitregierenden Sozialdemokratie wird von der bürgerlichen Mehrheit immer dann am liebsten die Regierungsverantwortung zugeschoben, wenn erstens längst alles entschieden ist und zweitens die sozialdemokratische Opposition zu stören beginnt. Ledergerbers Antrag wurde mit 95 zu 46 Stimmen abgelehnt.

Kein Bunker ohne Ausbruch. ­ – Die exakte Kubatur von Stollen, Gängen, Kavernen und der «Birne» mag auf ewig Staatsgeheimnis bleiben. Die ungefähre Grössenordnung der herausgebrochenen Gesteinsmassen ist jedoch bekannt. Laut David Schüpbach, dem Geschäftsführer der Kiestag AG in Wimmis, sind aus Kandersteg, vor allem zwischen Frühling 1991 und Ende 1993 insgesamt ungefähr 300000 Kubikmeter Malmkalk angefallen und zu Betonzuschlagstoffen verarbeitet worden. Dieser Ausbruch entspricht etwas mehr als einem Drittel des Gesteinsvolumens, das zu Beginn dieses Jahrhunderts für den 14,5 Kilometer langen Lötschberg-Eisenbahntunnel aus dem Berg gesprengt worden ist. Damit die Felsbrocken per Bahn nach Wimmis hinunter gebracht werden konnten, wurde ab Bahnhof Heustrich eine am 1. November 1990 eingeweihte neue Kanderbrücke erstellt und in das Gebiet von Steinigand vor den Niesen ein Industriegeleise verlegt. Diese Anlage hat zehn Millionen Franken gekostet, davon waren vier Millionen Betriebsstoffzollgelder aus der Bundeskasse. Schüpbach: «Der direkte Anlass für diese Investition war der Bau in Kandersteg. Aber für die Kiestag war sie eine Zukunftsinvestition.» Auch in Kandersteg waren für den Abtransport des Ausbruchs Bauten am Geleise der Lötschbergbahn notwendig. Hinter dem Bahnhof wurde eine neue Geleisewechselstelle eingebaut und Richtung Eggeschwand ein Stumpengeleise, wo über eine speziell aufgeschüttete Rampe der Fels von Lastwagen auf die Eisenbahnwagen umgeladen werden konnte. Weil der Boden für diese Anlage im Besitz der beiden Hotels «Gemmi» und «Alpenrose» war, hat das EMD die beiden Liegenschaften kurzerhand aufgekauft und anschliessend verpachtet. Weil der Gemeinderat des Kurorts Kandersteg verlangte, dass während der touristischen Hochsaison keine zusätzlichen Güterzüge fahren sollten, wurde der Abtransport des Gesteins vor allem im Frühling und im Herbst vorangetrieben.

Eine frohe Botschaft und eine zweite Bauherrin. – Als der Bundesratsbunker 1992 im Parlament erneut traktandiert wird, ist die Lage neu: Jetzt ist er Teil der zivilen Baubotschaft, und der noch benötigte Restkredit wird en bloc verlangt: 138,2 Millionen Franken. Dieser Baubotschaft ist zu entnehmen, dass die Anlage «den geschützten, autonomen Betrieb der zivilen und militärischen Infrastruktur- und Übermittlungsbedürfnisse der Landesregierung im Krisen- bzw. Kriegsfall» garantieren werde. Auch über die beiden Grosskavernen ist Neues zu erfahren: «In der Kaverne A sind die Bereiche Unterkünfte, Verpflegung, Werkbetrieb und Sicherheit sowie die Technik (Maschinenhaus) untergebracht. Die Kaverne B ist ausschliesslich als Bürobereich konzipiert.» Vorgesehen seien darin Führungs-, EDV- und Übermittlungseinrichtungen. Auf der Preisbasis von Oktober 1988 werden nun erstmals die Gesamtkosten des Baus ausgewiesen und spezifiziert: Vorbereitungs- und Erschliessungsarbeiten 16,5 Millionen; Stollensysteme 59,9 Millionen; Kammern 34,3 Millionen; Rohbauten in Stollen und Kammern 8,3 Millionen; Ausbau und Ausstattung 26,8 Millionen; haustechnische Installationen 22,9 Millionen; Starkstrominstallationen 17,5 Millionen; Schwachstrominstallationen 13,9 Millionen; EDV-, TV- und Radiostudioanlagen 34 Millionen; Aussenanlagen 6,3 Millionen – Gesamtaufwand 268 Millionen Franken. Und schliesslich ist die Baubotschaft fast ein wenig zur frohen Botschaft geworden: «Die baulichen Schutzmassnahmen gewähren und sichern einen von primären und sekundären Waffenwirkungen unbeeinflussbaren, autonomen und dauernden Betriebszustand.» Die Nationalratsdebatte am 7. Oktober 1992 wird gleichentags durch eine respektlose Reportage des «Bund» lanciert. Illustriert mit einer Fotografie, die Felsausbruchsmaterial in der Eggeschwand zeigt, geht sie der Frage nach, ob der Bundesratsbunker, «eine Grossbaustelle während elf Jahren», für Kandersteg keine Probleme bringe. Die Zentralstelle für Sicherheit des EMD klärt daraufhin laut Agenturmeldungen ab, ob mit dem Artikel «militärischer Geheimnisverrat» begangen worden sei. Die Frage wird verneint: Weil in der Medienberichterstattung das «Wahrnehmungsprinzip» gelte, dürfe abgebildet und beschrieben werden, was öffentlich sichtbar sei. Auch in der Nationalratsdebatte wird der Ton nachgerade respektlos: Die Solothurner Grüne Marguerite Misteli gibt die einschlägigen Passagen aus Dürrenmatts «Winterkrieg in Tibet» zum besten; Ulrich Giezendanner (Autopartei, AG) nennt den Bunker ein «überrissenes Prestigeobjekt»; Flavio Maspoli (Lega, TI) spottet, zwar würde man den Bundesrat gerne bis zum letzten Mann verteidigen, bloss wisse man nicht mehr recht wozu, da dieser doch die unabhängige Schweiz nach Europa führen wolle; Theo Meyer (SP, BL) stellt fest, die Bergfestung sei eine veraltete Réduit-Idee und komme fünfzig Jahre zu spät, und der St. Galler Freisinnige Titus Giger hat für den Bunker, um das Geschäft doch noch durch den Rat zu bringen, im Namen der Mehrheit der Militärkommission allen Ernstes alternative Verwendungsmöglichkeiten ausgedacht: Wäre das Loch nicht möglicherweise als «geschütztes Rechenzentrum für die Bundesverwaltung» nützlich? Oder «als zweiter Standort der Nationalen Alarmzentrale»? Oder als «geschützten Radio- und Fernsehsender»? Mistelis Antrag, die Kavernen als Abfalldeponie zu verwenden, wird abgelehnt. Gegen die wachsende Opposition von links und rechts stellen sich die bürgerlichen Regierungsparteien mit 70 zu 59 Stimmen noch einmal, lustlos, hinter das Projekt. Noch in der gleichen Woche wird bekannt, dass sich der Bundeskanzler – zuerst im Auftrag des EMD, später des Finanzdepartements – in die Bauherrschaft des Bunkers teile, und zwar zusammen mit der ersten Adresse am Berner Bundesplatz, der Nationalbank. Auf die Frage, ob diese Bank die Kaverne für Menschen oder für das Verwahren von Geld und Gold baue, sagt ein Nationalbank-Direktor: «Sicher nicht für Leute. Was sollten denn die dort?» («Tages-Anzeiger», 9.10.1992)

Vom Wissen beleckte Vision. – Wie kommt man als Schriftsteller im Winter 1977/78 auf die Idee, in einer Erzählung den Führungsbunker der schweizerischen Landesregierung nicht unter dem Wildstrubel und nicht unter dem Schreckhorn, sondern ausgerechnet unter der Blümlisalp anzunehmen? Im Fall von Dürrenmatt gab es zwei Möglichkeiten: Entweder er bediente sich als Visionär einer Vision oder als freundlicher Zuhörer eines eingebildeten Militärkopfs, der den Ehrgeiz hatte, beim Weisswein die Phantasie des berühmten Dichters mit einer wahren Phantasmagorie aus dem EMD-Alltag zu übertrumpfen. Dass das Projekt «K 20» neun Jahre vor Baubeginn im EMD bereits diskutiert wurde, darf in Anbetracht von Planungszeiträumen bei Grossbauprojekten als sicher gelten. Aber hat Dürrenmatt nicht eine andere Quelle seiner Inspiration genannt? Doch. In der Einleitung zur «Mondfinsternis», dem zweiten Teil der «Stoffe», verweist er auf das Theaterstück «Die Blümlisalp» (1929) seines ehemaligen Konolfinger Lehrers Fritz Gribi, das Dürrenmatt, damals kaum zehnjährig, «im Theatersaal neben dem Gasthof ‘Kreuz’», gesehen haben will. Das ist entweder wahr oder eine Schutzbehauptung, um nach der Publikation des «Winterkriegs in Tibet» nicht von aufgebrachten Militärköpfen des fahrlässigen Landesverrats geziehen zu werden. Denn merkwürdig ist schon, dass der mit Vorliebe ins Intergalaktische visionierende Dürrenmatt die Grösse des Bunkers erst in späteren Textfassungen ins Gigantische verfremdet hat – als kaschiere er genaueres Wissen. Beispiel: In der Druckfassung des «Winterkriegs in Tibet» steht, dass «unter der ganzen Riesenanlage die Tresorräume mit den gehorteten Goldbarren der halben Welt» lägen. Im ersten, handschriftlichen Entwurf ist jedoch bedeutend realistischer von einem «Nebenbunker» die Rede, in dem «die Goldbarren der halben Welt gehortet» seien. Der Sicherheitsraum der Nationalbank innerhalb des Bunkersystems ist von der parlamentarischen Finanzdelegation anlässlich einer Inspektionsreise als «riesiger Nebenstollen» identifiziert worden. Zweites Beispiel: Im Entwurf schreibt Dürrenmatt folgenden Dialog: «Haben sie wenigstens Frauen bei sich? Einige Stände- und Nationalrätinnen, sagte ich. Na ja, meinte die Frau, die werden sich die Politik auch ganz anders vorgestellt haben.» In der Druckfassung leben im Bunker dann «viertausend im ganzen, Frauen und Männer, wenn auch hauptsächlich Männer, dazu tausend Stenotypistinnen». Tatsächlich sind im Bunker offenbar vierzig Plätze für Parlamentarier und demnach exakt für «einige» Parlamentarierinnen vorgesehen. Drittes Beispiel: In der Druckfassung liegt unter den ganzen Anlage «ein Atomkraftwerk», welcher Begriff die irreführende Assoziation eines riesigen Kühlturms im Berg suggeriert. In der handschriftlichen Fassung steht, wiederum realistischer, es werde «ein riesiges Elektrizitätswerk mit Atomkraft betrieben». Eine solche Annahme ist zumindest plausibel: Denn wie will, wie die Baubotschaft 1992 verspochen hat, ein «von primären und sekundären Waffenwirkungen unbeeinflussbare[r], autonome[r] und dauernde[r] Betriebszustand» der Energieversorgung gewährleistet werden, wenn nicht mit einem Atomreaktor, einer Technologie, die zum Beispiel in U-Booten oder Satelliten längst zur Anwendung kommt? Es bestehen begründete Zweifel, ob Dürrenmatts Bunkervision eine von Wissen ganz unbefleckte gewesen ist.

Kavernen auf Federn und viele schöne Fluchtwege. – Unterdessen ist der Rohbau unter den Fisistöcken abgeschlossen. Die Ingenieure haben ihn, wie man hört, gebaut, ohne je eine Gesamtübersicht über die Anlage zu haben: Aus Geheimhaltungsgründen haben sie alle vierzehn Tage neue Teilpläne gefasst und danach weitergraben lassen. Die meisten der namenlosen Schwerarbeiter aus aller Herren Länder, die man immer wieder ausgewechselt hat, sind längst entlöhnt und entlassen. Nun werden die Stollen und Kavernen gegen Steinschlag und Wassereinbrüche gesichert: Zwischen wasserundurchlässige Folien, die direkt auf dem Fels anliegen und ein davor gespanntes Armierungsnetz wird unter Druck feinkörniger Mörtel gespritzt – «gunitiert» sagen die Fachleute. Speziellen Aufwand habe man – dies mag als Hinweis für die Einbrecherzunft nützlich sein – beim Bau des Bodens in der Nationalbankkaverne betrieben. Er sei mit soviel Eisen gesichert worden, dass zur Verdichtung der Betonfüllung speziell feine Vibriernadeln hätten verwendet werden müssen. Gewerbler aus Kandersteg, der Elektriker etwa oder der Installateur, werden nun mit kleineren Aufträgen im Loch zu nachhaltigem Schweigen ermuntert; für Felssicherungsarbeiten an der steilen Flanke der Jegertosse werden weiterhin einheimische Bergführer aufgeboten. Wie man sich den Bau der beiden Kavernen in der «Birne» vorzustellen hat, ist Staatsgeheimnis – wurde aber zum Glück vom Schriftsteller Erich von Däniken schon vor Jahren beschrieben. Am 2. August 1984 hat er den CHEYENNE MOUNTAIN COMPLEX des SPACE-COMMAND besucht, eine riesige Unterfelsanlage der US-amerikanischen Weltraumkontrolle. Er fand «eines der imposantesten und unbekanntesten Bauwerke der Moderne»: «Es besteht aus 15 dreistöckigen Stahlgebäuden, die auf 1319 mächtigen Stahlfedern ruhen, deren jede 500 Kilo wiegt. Die ‘Häuser’ dieses stählernen Technikdorfes haben keinen direkten Kontakt mit dem Felsen und sind auch untereinander nicht verbunden. Flexible Verbindungen sollen bei Erdbeben oder Atombombenexplosionen jede Erschütterung abfangen, das freie Schweben der Bauten garantieren.» So oder ähnlich wird auch der bundesrätliche Fuchsbau gebaut werden – und wie jeder richtige Fuchsbau wird man auch diesen mit vielen schönen Fluchtwegen versehen. Dass der Verbindungsstollen zum Eisenbahntunnel, der zwei Fluchtrichtungen ermöglicht, unterdessen existiert, ist in Kandersteg ein offenes Geheimnis, dass es Ausgänge in das Gasterntal gibt. Mit Sicherheit gibt es weitere: Seit April 1994 ist als Vorarbeit für den geplanten Lötschberg-NEAT-Basistunnel ein Sondierstollen im Bau. Er soll zur Erkundung der komplizierten geologischen Verhältnisse ab Frutigen Tellenfeld unter dem Elsighornmassiv bis unter Kandersteg führen. Die Lage des geplanten Stollenendes ist bekannt. Es liegt 400 Meter tiefer und weniger als zwei Kilometer nördlich vom Bunkereingang in der Eggeschwand. Sollte hier eine Verbindung gegraben werden, so bekäme auch der anderthalb Kilometer lange Fensterstollen Mitholz auf halbem Weg zwischen Frutigen und Kandersteg, der beim Bau des Sondierstollens zur Baubelüftung, zum Abtransport des Ausbruchmaterials und zur Demontage der Tunnelbohrmaschine nötig sein soll, eine weitere, handfeste Bedeutung.

Der Bundesrat hat sein Bestes getan. – Ist das nicht staatsmännisch weise gedacht: Geht auch das ganze Volk zum Teufel, solange die Goldreserven nicht verloren sind, wird weiterregiert? Ist das nicht des Schweizertums schönste Tugend, dieses viereckige und neuerdings gar europakompatible Zeughausbeamtenpflichtbewusstsein, das nach allen Regeln der Kunst und den Buchstaben aller massgeblichen Gesetze Gewehrverschlüsse einzufetten gewillt ist, getreulich bis in den Tod? Und könnte eine Regierung kritisiert werden, nur weil sie weitsichtig den reibungslosen Betrieb ihrer Regierungstätigkeit auch nach dem Weltuntergang sicherstellen will? Nein wirklich, dieser Bundesrat hat sein Bestes getan. – Ich stelle mir vor: Eines Tages werden die bekannten und sämtliche nicht bekannten Eingänge zum Stollensystem unter dem Blümlisalpmassiv zugemauert, und vor dem ehemaligen Portal in der Eggeschwand wird ein Denkmal errichtet, auf dessen Gedenktafel nur ein einziger Satz steht: «Es gibt, so scheint es, einen menschlichen Massstab, den wir nicht verändern, sondern nur verlieren können. (Max Frisch)» Das wäre dann das zweite Mahnmal von Kandersteg.

Lauf, Bertoni, lauf! – Das erste Mahnmal von Kandersteg steht auf dem Friedhof, vorne im Dorf, ein mächtiger hochgestellter Steinquader mit einer Gedenktafel, deren Inschrift lautet: «AI FIGLI D’ITALIA MARTIRI DEL LAVORO PER L’UNIONE DEI VINCOLI INTERNAZIONALI NEL TRAFORO DEL LOETSCHBERG IL 24 LUGLIO 1908 SOTTO IL REPENTINO SCOSCENDIMENTO MISERAMENTE PERIRONO/ VINCENZO AVENI, DANIELE BENVENUTI, CESARE BOLLI, ATTILIO BONDAMINI, DOMENICO CARLO, EDOARDO DONATI, CHRISTOFORO ELLERA, ALBERTO GALANTI, MICHELE GIACHETTO, GIOVANNI GIULIANELLI, ELVINO GUALAZZI, GIOSAFATTO LIQUORETTI, RODOLFO MERLO, FRANCESCO MIGLIORI, GIOVANNI MIGLIORI, GIUSEPPE MOLINERIS, MARIO MORETTI, ALLESSANDRO PALI, FRANCESCO PASQUINI, ERNESTO PEDERSINI, GIOVANNI RAMASSINI, LUIGI ROSSI, GIOVANNI SAMUELI, GIACOMO SCHIAVE, GIUDICE TALENTI./ L’IMPRESA ED I FRATELLI DI LAVORO. FRANGAR NON FLECTAR.» – Am Abend des 23. Juli 1908, kurz vor zehn Uhr, ging der italienische Vorarbeiter Michele Giachetto mit siebenundzwanzig Landsleuten durch den Richtstollen des im Bau befindlichen Lötschbergtunnels zur Nachtschicht. Der Stollen, ein schwarzes Loch von gut drei auf zwei Metern, wurde zur Zeit rund um die Uhr, in drei Achtstundenschichten, vorangetrieben. Jede Schicht machte im Durchschnitt knapp zwei Angriffe, jeder Angriff brachte einen Fortschritt von durchschnittlich einem Meter zwanzig. Giachettos Männer hatten zuerst den restlichen Schutt vom letzten Angriff der vorangegangenen Schicht wegzuräumen. Mit der ersten eigenen Sprengung wurde dann wieder viel trübes Wasser angeschlagen. Man war sich das schon gewohnt: Seit Kilometer 2,5 floss immer mehr Wasser aus dem Fels, weil man, so erklärten es die Ingenieure, nächstens den Talboden des Gasterntals unterqueren würde, bevor der schnurgerade Richtung Goppenstein vorangetriebene Stollen unter das mächtige Balmhornmassiv führen werde. Während die Schutterer mit kurzstiligen Schaufeln den bröckelnden Fels in Rollwagen luden, verlängerten die Mechaniker bereits Geleise und Leitungen bis zum neuen Standort des Bohrwagens, mit dem für die zweite Sprengung dann insgesamt vierzehn Löcher gebohrt wurden. Die Feuerwerker Mario Moretti und Matteo Salasso luden neunzig Dynamitpatronen und vierzehn «Amorcen» – mit Zündkapsel und Zündschnur versehene Patronen –, im ganzen dreissig Kilogramm Dynamit. Die Stollenbrust stand bei Kilometer 2,675. Nun zog sich die ganze Mannschaft bis zur letzten Ausweiche des Dienstgeleises zurück, das zwischen Kilometer 2,45 und 2,32 lag. Dort warteten sie, zwischen gut dreissig abgestellten Rollwagen und zwei Pferden, auf das Krachen der Sprengschüsse. Das war um 2 Uhr 30 am 24. Juli 1908. Antonio Ragazzini will die Wartezeit nützen, um den einige Schritte Richtung Ausgang liegenden Abort aufzusuchen. Als die Sprengschüsse losgehen, wird Ragazzinis offene Azetylenlampe durch den Luftschlag der Explosionen gelöscht. Er verspürt einen heftigen Luftzug, der ihm im Dunkeln den Hut vom Kopf reisst. In diesem Moment kommen ihm die Feuerwerker Moretti und Salasso entgegen, die das übriggebliebene Dynamit in ihr weiter zurückliegendes Magazin gebracht haben. Als Ragazzini versucht, an deren geschlossener Öllampe seine eigene wieder anzuzünden, hören sie in der Ausweiche hinten im Berg den Vorarbeiter Giachetto schreien: «Flieht! Flieht!» Gleich darauf kommt aus dem Stollen, auch er mit geschlossener Öllampe, der junge Bremser Lazzaro Bertoni gerannt und ruft: «Flieht! Wasser!» Die Feuerwerker und Ragazzini beginnen hinter Bertoni her zu rennen. Erst viel später begriff man, was geschehen war. Die Geologen hatten sich geirrt. Sie hatten in einem Gutachten geschrieben: «Die Unterführung unter dem Gasternboden hat trotz der geringen Überlagerung nicht zu befürchten, auf Trümmergestein zu stossen. Die Auffüllung beträgt höchstens 60-70 m. Der Tunnel wird also sicher noch von mindestens 100 m Felsgestein überhöht sein.» Das war eine verhängnisvolle Fehleinschätzung. Mit der zweiten Sprengung von Giachettos Schicht wurde der Stollen im Fels des Fisistockmassivs zur grundwasserdurchtränkten Sand- und Kiesfüllung des Gasterntalbodens hin geöffnet, was sofort einen unterirdischen Murgang auslöste. Innert einer Viertelstunde füllte sich der enge Stollen bis zum Kilometer 1,1 mit Wasser, Sand und Kies. Die in der Ausweiche wartenden Arbeiter wurden zusammen mit den Rollwagen und den Pferden erfasst und vermutlich am äusseren Ende der Ausweiche, wo der Stollen wieder in den normalen, engeren Querschnitt überging, zerquetscht und zermalmt. Sie liegen bis heute dort begraben. Aber Bertoni rennt, dahinter der flinke Salasso, mit einigem Abstand Ragazzini und Moretti, die in ihren schweren Mineurüberkleidern immer weiter zurückbleiben und, als das Wasser über die Knie steigt, auf die in Hüfthöhe in den Stollen führende Rohrleitung der Ventilation klettern. Diese wird vom Wasser angehoben, Moretti wird eingeklemmt und ist verloren, Ragazzini fällt ins Wasser, wird fortgeschwemmt und später bei Kilometer 1,175 bewusstlos und nackt aus dem Schutt gegraben. Bertoni und Salasso jedoch rennen keuchend, mit beiden Beinen immer tiefer im schnell ansteigenden wässrigen Morast versinkend, dem Stollenausgang in der Eggeschwand zu. Raus! Raus aus dem Loch! Noch ein bisschen leben!

Die Reportage ist eine stark erweitere Neufassung von: «Ogis Weinkeller» (WoZ Nrn. 1+2 / 1991). Unter Verwendung von Erich von Däniken: Habe ich mich geirrt? Neue Erinnerungen an die Zukunft, München (Bertelsmann) 1985 15ff; Friedrich Dürrenmatt: Gesammelte Werke, Zürich (Diogenes) 1991, Bd. 6, 114ff, 208f; Claude Jeanmaire: Lötschbergbahn im Bau, Villingen (Verlag Eisenbahn) 1989, 100f; Dieter Schöpfer: Die Bahnen der BLS-Gruppe. Geschichte und Rollmaterial, Tramelan (Stolz & Co.) 1988, 130f, sowie der gedruckten Nationalratsprotokolle und der einschlägigen Zeitungsartikel. Die Zitierung der ersten Fassung von Friedrich Dürrenmatts Bunkerepisode in der Erzählung «Der Winterkrieg in Tibet» erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Diogenes Verlags und des Schweizerischen Literaturarchivs. Eingesehen wurde dort im Dürrenmatt-Nachlass das Typoskript «Stoffe A I Zur Geschichte meiner Schriftstellerei / 1. Fassung Abschrift Oktober 1977» (Signatur R 77), sowie das Notizbuch mit der Signatur FD TB 6.

Erstveröffentlichung: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 269-290. 

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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