«Pallaksch»

Grosse Wörter sind mit den Wertvorstellungen derer besetzt, die aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Position und ihres Prestiges die Macht haben, Werte zu prägen und sie bei Bedarf in ihrem Sinn zugunsten ihrer Interessen umzubiegen. «Heimat» als Beispiel: Fragen, wem dieser Begriff gehört, wer ihn wann wie einsetzt und zu welchem Zweck, was er alles bedeutet, und reden von meinen Schwierigkeiten, «Heimat» zu sagen.

«Heimat» gegen den Hunger

Wer hungert, wird jenem danken, der ihn vor dem Verhungern bewahrt. Wer um seine Existenz bangt, wird jenem danken, der ihm das, was er für sie hält – aus welchen Gründen auch immer – für den Moment garantiert. Geht es ums nackte Überleben, wird der, der als Gegenleistung für Kost und Logis aufkommt, schnell in die Nähe des Begriffs «Heimat» gerückt werden. Ein solches Heimatgefühl hat sich hierzulande zu einem kulturellen Wert verfestigt: zu Hause in der Fabrikhalle; die Drehbank als Heimat; der Direktor als 1.-August-Redner. Solche Wertungen gehören unlösbar zur «Heimat» jener, die in den dreissiger Jahren ohne Arbeit und ohne Brot waren, die bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg höchstens am Sonntag einmal Fleisch assen und die von den Schüssen auf renitente Kollegen in Genf aus der Tagespresse erfuhren: Heimat, definiert über die eigene Abhängigkeit. Zu behaupten, der so korrumpierte Begriff sei unbrauchbar geworden, heisst auch, ihn einer ganzen Generation – auch von alten Gewerkschaftern und Sozialdemokraten – wegzunehmen.

Kost und Logis aus eigener Arbeit: Das kann der verwurzelte Selbstversorger auf seinem eigenen Boden als Heimat empfinden, das ist aber auch der alternativ-schillernde Heimat-Traum von Schafsgeblöck und Pflanzblätz. «Nationale Aktion für Volk und Heimat»: der Wille, aus der eigenen Scholle dank eigener Arbeit die eigene Rasse zu ernähren und der Glaube, der Feind stehe ausserhalb der Landesgrenzen: braune Heimat.

«Heimat» gegen unten

Nennen wir diesen den bürgerlichen Heimatbegriff: Er meint Orte, Plätze, Umzäunbares, Häuser, Besitzungen, verteidigbares Eigentum: die a priori wehrlose Frau, die man im Ernstfall mit der Waffe in der Hand zu verteidigen hätte. Diese bürgerliche Heimat erscheint im Sprachgebrauch der vorher skizzierten Büezer-Heimat nahtlos überlagert, als «kultureller Überbau» sozusagen. Vordringliches Anliegen bürgerlicher Ideologen muss es – vorab in Zeiten wirtschaftlicher Rezession und sozialer Spannungen – sein, den Interessenkonflikt zwischen den beiden, hochkonjunkturell zusammengeschweissten Wertungen des Begriffs nicht aufbrechen zu lassen. Heimat als das Unerreichbare für die meisten, als das Erstrebenswerte für alle: Dies ist der dominierende Heimatbegriff hierzulande, die real existierende «Heimat» des Fussvolks.

«Heimat» gegen oben

Wer dagegen opponiert, dass die meisten ihren Heimatbegriff über ihre ökonomische Abhängigkeit bestimmen, nennt man Nestbeschmutzer. Nestbeschmutzer sind, weil die Fähigkeit zum selbständigen kritischen Denken gegenüber Landsleuten undenkbar zu sein hat, immer gesteuert, das heisst die Motive ihres Denkens und Handels sind per definitionem unehrenhaft. Obschon sie diesem Land absolut nichts nützen, müsse es sie wohl auch geben, sinniert es fatalistisch am liberalen Stammtisch. Nestbeschmutzer sind nicht fremd, aber grundsätzlich befremdend und daher zu meide; sie sind, obschon grundsätzlich unerwünscht, geduldet. Nestbeschmutzer machen ihren Heimatbegriff notgedrungen in ihrem Schmutz fest, im Sumpf ihres schlechten Umgangs, dort, wo Leute sind, die für sie den Rücken breit machen würden, wenn’s drauf an käme. Früher hat man solche potentielle Zusammenrottungen mit dem Begriff «Solidarität» umschrieben. Seit im Rahmen des integrierenden Sprachgebrauchs heimatlicher Sozialdemokratie Handlanger mit Konzernherren und Junkies mit Bundesräten «solidarisch» zu sein haben, weil doch alle im selben Boot sitzen, ist auch dieser Begriff problematisch geworden.

«Heimat» gegen alle

Mit dem Modebegriff «Neue Innerlichkeit» umschreibt man heute innere Emigration; Rückzug ins Private, Selbsterfahrung an Leib und Seele so gut wie eine mögliche Reaktion auf die politische Niederlage der Achtziger-Revolte. «Neue Innerlichkeit» im Sprachgebrauch muss demnach Abkoppelung der Begriffe von ihrem gesellschaftlichen und sozialen Umfeld bedeuten. Für den Begriff «Heimat» ergeben sich daraus zwei Möglichkeiten: Er wird endgültig dümmlich, indem er die ganze Welt umschliesst – diese Erde ist meine Heimat – oder aber «Heimat» findet nur noch im eigenen Kopf statt: «Doch auch in Worten, in der Sprache kann man ein Zuhause finden», schreibt Hansjörg Schertenleib an entscheidender Stelle in seinem ersten Roman «Die Ferienlandschaft». Sprache als Heimat: Hoffnung, die daran scheitert, dass die Sprache, wie dieses Land, seit langem parzelliert und verschachert ist: Die Sprache gehört nicht mir, kein Wort gehört mir ja. Ich müsste mir eine eigene Sprache erfinden: «Heimat» in der Hermetik persönlicher Chiffren: «Pallaksch».[1]

Brauche ich aber die vorgegebene Sprache, habe ich auf die Konnotierung der Begriffe kaum einen Einfluss: Was ich sage, bestimme ich, aber was mein Gesagtes in der konkreten gesellschaftlichen Realität bedeutet, bestimmen andere. Wer im Ernst die Sprache als Heimat wählt, muss sprachlos werden. Das ist der Preis. Beredte Heimat in der Sprache finden nur korrumpierte Sprecher.

Ein Wort für «Heimat»

Ich komme beim Schreiben und beim Reden in den meisten Fällen um den Begriff «Heimat» herum. Heimat sagen heisst nur, ein Missverständnis nicht vermeiden zu wollen. Ich gebe zu: Wenn der Begriff «Heimat» ausgesprochen oder geschrieben wird, fällt mir das auf. Das wachsende Misstrauen auch meiner Sprache gegenüber macht mich misstrauisch gegenüber Leuten, die ihrer Sprache ohne Misstrauen begegnen. Auch schon gefragt habe ich mich: Was sage ich eigentlich, wenn ich «Heimat» meine?

[1] «Er [Christoph Theodor Schwab, fl.] bittet ihn [Friedrich Hölderlin, fl.] eine Stelle [aus dessen Roman «Hyperion», fl.] vorzulesen, bekommt aber nur unsinnige Worte, das Wort ‘pallaksch’ scheint bei ihm ‘ja’ zu bedeuten.» (Adolf Beck: Hölderlin. Chronik seines Lebens, Frankfurt am Main [Insel], 1975, 129). 

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