Vom Wiegenfest

Und nun, meine Lieben, will ich euch zum Schluss erzählen, wie alles begann mit unsrer Familie. Es war kurz nach der letzten Eiszeit, als Zürich brannte und auch Basel und Bern ein bisschen motteten. Damals lag etwas in der Luft, ein Robinson-Traum von den kleinen sozialistischen Inseln, die zum mächtigen Archipel wachsen sollten. Das Zauberwort hiess «Selbstverwaltung», und was wir meinten war klar: Die Welt muss anders werden.

So steckten, wie viele andere, auch unsere Urahnen eine Insel ab und ich denke um ihres Traumes will mit Respekt an sie zurück: Da war der Ritter Georg, der Unbeugsame, der uns verliess, um in Nicaraguas Urwäldern mit dem Recherchiertelefon dem Feind entgegen zu treten. Da war die Prinzessin Marianne, die an ihrer elektrischen Schreibmaschine Woche für Woche die Welt abschminkte und so zum spinnen brachte. Da war Jan, unser Scharfrichter der Menschenfreundlichkeit, der mit dem Zweihänder argumentierte und gnadenlos traf – und wäre der Feind im Herzen des besten Freundes gesessen. Und da war unser Familienzauberer Res, der dank seines dialektischen Zauberstabs immer alles wusste – ausser dass er dereinst sein Brot am Hof des Erzkaisers Hansheiri als Abteilungsfuchser der Edelfedern verdienen müsste. Vor allem aber war da unsere Urmutter Lotta. Ich lernte am meisten von ihr, als ich als Nachzügler in die Familie kam, als grosser Hosenscheisser, der vor Angst immer laut schrie, wenn vom Nahen des Feinds die Rede war. Schreien ist gut, mahnte mich Lotta jeweils, aber vergiss nicht, vorher zu denken.

Das sind unsere Urahnen, und ihr Werk ist bedeutend. Nicht nur haben sie gegen jede wirtschaftliche Vernunft, gegen alle Auguren der Betriebswirtschaft, alle Scharlatane der Zeitungskunst, allen Hohn der Geldsäcke eine neue Zeitung erfunden und mitten im basisdemokratischen Chaos jederzeit pünktlich herausgebracht. Nein, ihr Werk ist bedeutend, weil ihnen die Zeitung stets nur Mittel zum Zweck war. Immer ging es neben dem Produkt um das Projekt: um die Insel im sozialistischen Archipel. Unsere Familie schrieb gegen die schlechte Gegenwart, um ein ganz klein wenig in der besseren Zukunft leben zu können.

Viele kamen später dazu, die Familie wuchs, nicht wenige opferten sich auf. Damit das Projekt von Woche zu Woche eine Zukunft habe, machten sie Zeitung um Zeitung. Verhindern konnten jedoch auch die Besten nicht, dass die Zukunft anders wurde, als wir sie uns erträumt hatten. Der Insel-Archipel wuchs nicht, im Gegenteil: Insel um Insel soff ab und verschwand. Viele Jüngere unserer Familie wollten bald keine neue Welt mehr, sie wollten die Gescheitesten und Schnellsten sein in der alten. Wie unsere Urahnen keine neue Welt fanden, fanden diese immer noch Gescheitere und noch Schnellere.

So zerfiel allmählich, fast ohne dass wir es merkten und von Jahr zu Jahr mehr, unsere Utopie zur Illusion. Das war traurig und doch nicht. Haben wir doch durch all die Jahre einen ganzen Berg von Zeitungen gemacht (und die dümmsten Artikel standen selten bei uns): So viel vermag eine Illusion, wenn man sie von ganzem Herzen will. Wenn euch je einer diese Leistung miesreden will, dann sagt ihm, was der Steinmetz in den Sockel des Berner Münsters gehauen ist: «Mach’s na.»

Und nun begeht ihr im kommenden Jahr das 25jährige Wiegenfest der Familie. Ich hebe mein Glas und wünsche: Streitet! Streitet um das Beste der Familie, aber vergesst nicht, euch immer wieder mal zu versöhnen. Baut an der Insel, aber vergesst nicht, bei Gelegenheit das Geld zu verdienen, das ihr ausgebt. Schaut immer vorwärts, aber vergesst Eure Urahnen nicht.

Für mich wird es Zeit. Nach 24 Jahren will ich der Familie von der Kost kommen. Ich habe mich anwerben lassen an einen Hof von Verwandten. Dort soll ich mit sieben Büchern einem fast vergessenen grossen Weisen ein Podium bauen. Das mache ich gern. Der Mann hiess Carl Albert und lange vor der letzten Eiszeit war er als «Philosoph von Bümpliz» bekannt. Was? Ihr kennt ihn nicht? Nein wirklich, das muss sich ändern.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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