Zynische Vernunft statt Kritik

 

Peter Rüedi («Weltwoche», 1.3.1990): 

Die nur halb geballte Faust

Künstler und Macht, das ist eine lange Geschichte seit Ovids Verbannung, Tassos Verrenkungen. Landauers und Benjamins Tod. Geist und Staat ist ein Widerspruch geworden wie Kopf und Bauch. Die Ohnmacht des Künstlers ist sein tägliches Martyrium und seine moralische Legitimation. Dass ein Schriftsteller seit kurzem Präsident der CSSR ist[1], bestätigt das nur. Er wurde wählbar, weil er an der korrumpierten Macht nicht teilhaben konnte. Allerdings auch, weil er von ihr nicht profitieren wollte.

Eine jüngste Fussnote zu diesem Thema liefert die Titelseite der letzten Ausgabe der «WochenZeitung». Sie versammelt unter dem Titel «Den Schnüffelstaat abfeiern? Ohne uns!» 500 Unterschriften von Kulturschaffenden. Marco Solari, der Delegierte des Bundesrats in Sachen 700-Jahr-Feier, zeigte ich in einem Gespräch mit dem «Tages-Anzeiger» betroffen; er «verstehe, dass gerade die Sensiblen, die Kulturschaffenden, nicht anders können, als ‘radikal’ zu reagieren». Das eben tun sie nicht.

Zwar ist allein die Tatsache erstaunlich, dass sich da ein halbes Tausend Individualisten zu einer Protestaktion zusammenfinden. Dabei wurde um Unterzeichner offenbar nicht einmal geworben. Die Initiatoren, von Arnold Künzli bis Niklaus Meienberg, Hans Stürm, Franz Hohler, Paul Parin bis Otto F. Walter und Adolf Muschg, gehören zu jenen, deren Auszeichnung, ist sie einmal gar nicht mehr zu verhindern, Alfred Gilgen als persönliche Niederlage versteht. Ansonsten überwiegt die Stammleserschaft der «WoZ», also die Alternativszene bis hin zu fliessenden Übergang in Kupfer, Wolle, Bast. Aber nicht nur. Was Solari verstören muss, sind nicht jene, von denen jeder weiss, dass sie es längst wissen. Gardi Hutter, Gertrud Leutenegger, Erica Pedretti, Daniel Schmid, Dolf Schnebeli, Michel Soutter und so weiter und so fort, auch Rolf Knie, wer hätte das gedacht: Das sind keine Berufsprotestanten.

«Radikal» aber in des Worts eigentlicher Bedeutung kann diesen Aufruf zum Boykott der eidgenössischen Feier im Ernst keiner nennen. Was im Titel proklamiert wird, liest sich am Ende so: «Diejenigen, die an einem der zahlreichen CH-700-Projekte beteiligt sind, (werden/wollen/sollen) ihrer Mitarbeit überdenken und sich vorbehalten, aus den Projekten ganz auszusteigen, falls bis Ende Jahr nicht alle Registrierten volle Einsicht in Fichen und Akten erhalten und die Polizei ihrer Schnüffelaufgabe entledigt ist.»

Welche Polizei? Welche Fichen? Auch die der Kantone? Da begänne der Mut etwas zu kosten, weil Kulturförderung hierzulande im wesentlichen Sache der Kantone und Gemeinden ist. Die Drohung, sich diesem Staat in seiner Feierstunde zu versagen, ist gratis. Für die Festivitäten mochten sich die Kulturschaffenden von Anbeginn nicht recht erwärmen. Mit guten Gründen: Die Vorführung eines kritischen Bewusstseins der Kunst zum Staatsjubiläum ist in der Tat problematisch. Aber das war schon vor dem Fichenskandal so. Jetzt wird ein Sack geschlagen, den ohnehin keiner tragen wollte. Die Staatskrise als Vorwand: Dafür ist diese denn doch zu ernst.

Nicht dass die 500 nicht feiern mögen, ist unverständlich.. Das Gegenteil wäre es. Wohl aber, dass sie die Faust zum Protest ballen, gleichzeitig aber doch noch mit dem kleinen Finger winken. Ärgerlich ist, dass es dieser Protest den Instanzen, gegen die sich wendet, so leicht macht. Wirklich ernst zu nehmen wäre er nur, wenn er in schmerzlicher Konsequenz die Kantone und also die tägliche Kulturarbeit einschlösse. Davor allerdings sollte man sich zuerst bei deutschen Theatermachern erkundigen. Wenn die mit Aktionen auf Kürzungen, Repressionen und sonstige Arroganzen der Regierenden reagieren wollten, wurde allemal in schönem Trotz die freiwillige Schliessung der Häuser erwogen. Und allemal setzten sich die Weitsichtigeren unter ihren durch, die befürchteten: einen Kulturstreik würde, von ein paar Freaks und Betroffenen abgesehen, keiner bemerken. Es würde möglicherweise enden in so etwas wie dem Gegenteil eines Bedarfsnachweises.

 [1] Gemeint ist der Schriftsteller Václav Havel (1936-2011), der zwischen 1989 und 1992 tschechoslowakischer und zwischen 1993 und 2003 tschechischer Staatspräsident gewesen ist.

 

Fredi Lerch (WoZ, 7.3.1990):

Zynische Vernunft statt Kritik

Antwort an Peter Rüedi

Gegen den Aufruf «Keine Kultur zur Feier des Schnüffelstaates» haben letzte Woche die Radikalinskis von den Wochenzeitung «Weltwoche»  ihren  Mitarbeiter Peter Rüedi vorgeschickt. Sein Verdikt:«500mal schlaffer Protest». Ärgerlich sei, schreibt er, »dass es dieser Protest den Instanzen, gegen die er sich wendet, so leicht macht.» Warum? Weil einerseits der «Aufruf zum Boykott» zu wenig «radikal» sei und weil ein Kulturstreik andererseits, würde er radikal durchgezogen, möglicherweise nichts als das «Gegenteil eines Bedarfsnachweises» erbringen würde. Der ‘Weltwoche’-Tramplakätli-Dichter hat folgendermassen zusammengefasst: «CH 91: Alles Kompromiss, auch der Dichterboykott». Kein Zweifel: Die ‘Weltwoche’ hat den Aufruf der Gruppe Olten und der WoZ links überholt.

Bekannt ist: Rüedi ist nicht erst seit dieser Woche als revolutionärer Crack in den Institutionen gefürchtet: Vor seinem «Weltwoche»-Engagement war er  Chefdramaturg am Schauspielhaus in Zürich. Er ist Stiftungsratsmitglied der Pro Helvetia (zuständig für Theater und Tanz). Er ist Stiftungsrat der neugeschaffenen «Kantonalen thurgauischen Kulturstiftung», die seit dem Dezember 1989 Gelder verteilt, vorab für die thurgauischen Aktivitäten im Rahmen des CH 700-Programms. Und er hat in der Konzeptphase des CH 700-«Festes der vier Kulturen» bis Mitte 1989 als Experte im Bereich Theater mitgewirkt.

Rüedi ist Partei. Wenn er einerseits die «halb geballte Faust» der Protestierenden kritisiert und andererseits die ganz geballte als kontraproduktiv verurteilt, dann bringt er die zynische Vernunft des ewigen Streikbrechers auf den Begriff: Die Aktion bringt nichts, weil sie zu wenig radikal ist, aber wäre sie es, würde sie erst recht nichts bringen. Also: Aktion abbrechen und kleinlaut weiterhin mitmachen. (Wie er sich eine radikalisierte Variante des Aufrufs vorstellt, war nicht in Erfahrung zu bringen: Er ist nach seinem fulminanten Schrieb nach Italien in die Ferien gefahren.)

Daneben ist in den letzten Tagen auch ernstzunehmende Kritik laut geworden: Für viele Kulturschaffende und KulturveranstalterInnen ist der Zeitpunkt «Ende Jahr», an dem laut Aufruf über einen Kulturboykott entschieden werden soll, zu spät. Wo, wann und in welchem Rahmen entscheiden die mittlerweile mehr als 600 Kulturschaffenden, die den Aufruf unterschrieben haben, über einen Kulturboykott der CH 700 ohne Wenn und Aber? 

Die vorliegenden Textfassungen entsprechen jenen in: Fredi Lerch, Andreas Simmen [Hrsg.]: Der leergeglaubte Staat. Kulturboykott: Gegen die 700-Jahr-Feier der Schweiz, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1991, 37-40.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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