Zwischen Monza, Eitsch und Müetis Zämebruch

Zum Journal B-Originalbeitrag.

Daheim im Näscht vor dem Fernseh wäre es gemütlicher, sich das Rennen anzusehen, als von Spiez aus «mit dem Alten aben auf Monza». Der Sohn, der schon «seit zwanzig Jahr in einer Blockwohnig in Bern» lebt, begleitet seinen Vättu missmutig in einem Reisecar der «Passion Reisen Steffisburg» an das Formel 1-Rennen in Italien. Mit Wieseli, der in Därligen zusteigt, gibt’s das «schönste Gestürm» über die Frage: Massa oder Räikkönen? Der Vättu ist motivierter zu streiten als sein Sohn. Der blättert lieber in Emil Ciorans Buch «Vom Nachteil, geboren zu werden» und schluckt ab und zu ein Tablettli vom Meggi, seinem älteren Bruder, um diese Monzafahrt auszuhalten.

In Bern ist derweil Meggi zwischen Gurnigelstrasse, wo er wohnt, und der Hodleren unterwegs. Sein Leben besteht aus Eitsch, Coci, Rhöipi, mischeln und muggen. Und wenn das Rehli «in seinen engen Tschiins und den weissen Huudi» beim kleinen Schänzli anschaffen geht, begleitet er es. Bis es dann beim Fahrni einsteigt, der hinter dem Steuerrad füren plöffelt, diesen Karren habe er «von seinem Brüetsch». Dann fährt Fahrni mit Rehli los und Meggi beginnt zu warten. Dass Rehli das macht, ist heute wieder einmal besonders nötig, weil man sie beim Klupen «überall verwütscht» hat.

Während der Monzafahrt von Vätu und dem Jüngeren erhält das Müeti zuhause Besuch von Meggi und erzählt ihm von früher, als «du schon schwer in den Drogi» warst. Sie erzählt von der Zeit, als sie den Zämebruch hatte, in die Depression kam und ihr als erstes der Magen ausgepumpt wurde, als man sie in der Örtlimatt auf die Geschlossene einlieferte. 

Wenn die Sonne ergräten mag

Roland Reichen nennt sein neues Buch einen Roman. Es ist der dritte Text dieser Art. Wie in «aufgrochsen» (2006) und «Sundergrund» (2014) schildert er auch diesmal mit bedrückender Präzision das Milieu, in das er auf der ersten Seite des ersten Buches den «Bub» gesetzt und ihn «Proletengof» genannt hat.

Im neuen Buch wechseln sich die beiden Söhne und das Müeti beim Erzählen ab. Je vier der zwölf Kapitel können einer dieser Erzählpositionen zugeordnet werden. Die Sprache, mit der erzählt wird, ist durchgehend ein Oberländer Unterschichtenjargon, den Reichen so raffiniert einsetzt, dass beim Lesen ein starker Sprachsog entsteht (um ihn noch stärker zu erleben, lese man sich einige Seiten laut vor). 

Und ab und zu begegnet man einem berndeutschen Wort, für das man froh ist, dass dem 107seitigen Roman ein 18seitiges Glossar beigegeben ist. Zum Beispiel: «Die Sunne mag ergräten, wo wir auf dem Brünigpass erste Pause machen.» Ergräten? Das Glossar weiss Rat: «Über den Grat kommen». Wenn das kein schönes berndeutsches Wort ist.

Wirklich bös angeschlagen

Dass der jüngere Sohn, der am ehesten ein Alter Ego des Autors ist, im Car nach Monza den radikalskeptischen Schriftsteller Cioran liest, ist kein Zufall. Reichens skeptische Sicht ist ein Aspekt seines Blickes auf das Geschehen. Der andere ist die Empathie. Gegen Schluss geht der Vättu Sämeli, dieser dauernd herumfluchende und -schimpfende, selbstgerechte Möchtegern-Patriarch mit dem riesigen Bauch neben der Kloschüssel im eigenen Bad zu Boden, kommt nicht mehr hoch, versucht sich am Brünnelirand hochzuziehen, glitscht ab, und schlägt sich bös den Schnuffel auf. Das herbeieilende Müetti fragt: «Hast dir etwas brochen?» Und Reichen fährt fort: «Der Sämeli schüttelt seinen massigen Kopf. Tränen schiessen ihm in die Äuglein, perlen in seinen silbergrauen Schnauz. Ou, er hat wirklich bös angeschlagen.»

Neben Reichens Sprachvirtuosität ist es dieser skeptisch-empathische Blick, der «Auf der Strecki» zu einem berührenden Stück Literatur macht. Es zeigt Menschen, die dauernd «auf der Strecki» sind, um das Wichtige zumindest auf den billigsten Plätzen mitzubekommen – und dabei manchmal himmeltraurig «auf der Strecki» bleiben, weil man solche wie sie nicht einmal auf den billigsten Plätzen brauchen kann.

Roland Reichen: Auf der Strecki. Roman, Luzern (Der gesunde Menschenversand) 2020, 128 S., 25.-

 

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Ein neuer Gotthelf?

Drei Fragen an Beat Sterchi

Journal B: Roland Reichen arbeitet seit Jahren als Textphilologe auf der Forschungsstelle Jeremias Gotthelf an der Universität Bern. Er ist also ein Experte für Gotthelfs Art, Berndeutsch und Hochdeutsch zu mischen. Ist Reichen ein neuer Gotthelf? Wo sind die Unterschiede? 

Beat Sterchi: Es gibt bei Gotthelf zwar das mit berndeutschen Begriffen durchsetzte pfarrherrliche Hochdeutsch, doch eigentlich haben wir es bei ihm mehrheitlich mit zwei Sprachen zu tun. Gotthelf bestätigt selbst, dass sich ihm besonders bei den Dialogen die alltägliche Sprache gegen seinen Willen aufdränge und «durchbrenne», weil er diese halt im Ohr habe. Dann schreibt er ganze Passagen in Berndeutsch, die allerdings in unterschiedlichen Editionen unterschiedlich zensuriert oder übersetzt wurden. Roland Reichen dagegen arbeitet mit einem von der Alltagssprache geprägten Grundton in der Satzmusik, wählt aber seine berndeutschen Begriffe gezielt und kunstvoll und benützt sie als Verfremdungseffekt und nicht selten als humoristische Auflockerung seiner sonst fast unerträglich realistischen Schilderungen. 

Reichen ist ja heute nicht der einzige, der Mischsprache als Erzählsprache einsetzt, ich denke etwa an Arno Camenisch, der mit seinen bündnerdeutsch versetzten hochdeutschen Texten gar internationale Anerkennung findet.

Dass sich die Angst vor Helvetismen bei vielen jüngeren Autoren und Autorinnen verflüchtigt hat, scheint unbestritten, was als gesundes sprachliches Selbstbewusstsein gewertet werden darf. Einige, wie Reichen oder Camenisch, schöpfen aus dem Spannungsfeld zwischen Hoch- und Alltagssprachen sogar einen unbestreitbaren literarischen Mehrwert. Sie machen, wie das beispielsweise der ältere Dürrenmatt gefordert hat, unsere besondere Sprachsituation fruchtbar. Das macht in seinen neueren Büchern auch Francesco Micieli, um nur einen zu nennen.

Mischsprachen-Prosa steht im Spannungsfeld zwischen dem Bemühen um möglichst grosse Authentizität und demonstrativer Gekünsteltheit. Wie schätzt du Chancen und Risiken von solchen Schreibweisen ein?

Wer den Mut aufbringt, in die tragisch-dunkeln Bereiche vorzudringen, die Roland Reichen in sein Schreiben holt, der begibt sich auf Glatteis und lebt gefährlich. Schnell können Vorwürfe laut werden, das Schreckliche werde ästhetisch verharmlost oder verkomme zum Manierismus. Altbekannt sind die Vorwürfe des Voyeurismus oder des Sensationalismus. Tatsache ist aber auch, dass wirklich ernsthafte Autoren und Autorinnen ihre Themen nicht immer auswählen können. Sie schreiben, was sie schreiben müssen und tun es allen Widerständen zum Trotz. Leicht ist das nicht. Aber auch wenn sie dabei scheitern, sind ihre Bemühungen immer noch ein Gewinn für die Literatur, weil sie deren Zuständigkeitsbereich wiederum ausgeweitet und grösser gemacht haben, indem unvertraute Erfahrungen beim Lesen erlebbar werden.   

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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