Zwang in der Psychiatrie. Notizen

1.

Die Diskurshegemonie der biologistischen Psychiatrie. – «Ein grosser Teil der offiziellen Psychiatrie müsse «biologistisch genannt werden», schreibt Stavros Mentzos. Unter «biologistisch» versteht er «einen reduktionistischen Trend der psychiatrischen Forschung, Theoriebildung und Praxis, der dahin führt, dass letztlich vorrangig nur somatische Prozesse berücksichtigt werden.»[1] Ein Grund für diesen Trend, der seit etwa zehn Jahren die «psycho- und soziodynamisch orientierte Grundwelle» nach dem zweiten Weltkrieg abgelöst habe, ist für Luc Ciompi «die Faszination des Messbaren und Greifbaren und Machbaren». Die sich weltweit dampfwalzenartig ausbreitende «biologistische Psychiatrie» fördere einseitig «hirnphysiologisch und hirnorganisch fundierte Psychiatrie mit Einschluss von Psychopharmakologie und Molekulargenetik».[2] Die Zurückdrängung der Sozialpsychiatrie durch die biologistische Psychiatrie forciert die Medizinalisierung und Monopolisierung des Diskurses. Während ein sozialpsychiatrischer Diskurs sich sozialkritischen Argumentationen nicht von vornherein verschliessen kann, liegt Sozialkritik ausserhalb des Diskurses biologistischer Psychiatrie. Wo ein hirnimmanenter Defekt behauptet wird, dessen Nachweis nur medizinisch geschultem Personal möglich sei, können medizinische Laien nur noch schweigen – und das Unverständliche glauben. Zu einer biologistisch dominierten Psychiatrie gibt es keinen journalistischen Zugang. (6.2.1991)

2.

Autonomie versus Entmündigung. – Dass jene, die mit dem «therapeutischen Setting» der herrschenden Psychiatrie behandelt werden, «krank» seien, ist eine Hypothese, jedoch dass sie von ihrer jeweiligen sozialen Umgebung nicht mehr getragen werden können/wollen, ist in jedem Fall eine Tatsache. Für die fürsorgerische Freiheitsentziehung ist denn auch «die Belastung zu berücksichtigen, welche die Person für ihre Umgebung bedeutet».[3] Wer soziale Netze zu stark belastet und dadurch zerreisst, spinnt. Anders: Je schwächer soziale Netze, desto schneller beginnt das Spinnen. Anders: Die Therapiebedürftigkeit von Irrsinn korreliert mit den gesellschaftlich-kulturellen Rahmenbedingungen. (Nov. 90/6.2.)

3.

Dogma Krankheit. – Angenommen, das Dogma vom Irrsinn als therapiebedürftiger Krankheit würde widerlegt und als legitimatorische Schutzbehauptung der Psychiatrie enttarnt, was bliebe dann von ihr übrig? Das industrielle Ausschlusssystem für dysfunktionale, konkret: nicht in den Arbeitsprozess integrierbare Gesellschaftsmitglieder. Psychiatrie ergänzt das gesellschaftliche Strafsystem: Sie stellt Ruhe und Ordnung im nicht kriminalisierbaren Bereich her. Forensische Psychiatrie ist ein Pleonasmus: Es gibt keine andere. (Nov. 90/6.2.)

4.

Institution: Universum oder Fabrik? –

a) Je nachdem, ob ich die psychiatrische Institution als nicht hinterfragbares, schicksalhaftes Naturereignis setze oder als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Struktur, stellen sich andere Fragen, und andere Antworten sind denkbar. Psychiatriekritik, die die Institution als Universum setzt, ist immer reformistisch; jene, die die psychiatrische Institution in Abhängigkeit setzt zur Gesamtgesellschaft, kritisiert sie immer als Spiegel grösserer Zusammenhänge und damit auch diese selbst. (6.2.)

b) Die Schwierigkeit einer nicht reformistischen Kritik besteht darin, dass unbestreitbar die psychiatrisch geleistete Arbeit grundsätzlich gesellschaftlich notwendige Arbeit ist. Die Frage geht deshalb nach dem Zustand einer Gesellschaft, die die psychiatrische Arbeit in der heutigen Form notwendig macht. Psychiatriekritik wird so zur Gesellschaftskritik am Beispiel der Psychiatrie. Jörg Bopp umreisst das Spannungsfeld so: «Führt die Zuordnung von Psychotherapie und politischem Handeln dazu, dass beide Bereiche füreinander offen bleiben, oder führt sie zu einer Ersetzung des politischen Handelns durch Therapie bzw. der Therapie durch politisches Handeln? Wird die jeweils besondere Realität des Psychischen und des Politischen erhalten oder aufgegeben?»[4] In der reformpsychiatrischen Praxis, etwa den gemeindepsychiatrischen Experimenten von M. Jones im England der 50er Jahre, gingen Therapie und Politik ineinander über: «Ziel prophylaktischer Gemeindepsychiatrie wurde die kommunale Basisdemokratie, Ziel der kommunalen Basisdemokratie die Realisierung der Gemeindepsychiatrie. Reformpolitik und psychiatrische Prophylaxe, Reformpsychiatrie und innovative Politik wurden identisch.»[5]

c) Wenn nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende der siebziger Jahre radikalere reform- und antipsychiatrische Praxen möglich waren, sagt das demnach auch etwas über die Offenheit der damaligen gesellschaftlichen Strukturen aus (aber auch: Inwiefern hat der flächendeckende Einsatz von Neuroleptika ab 1953 die reformpsychiatrischen Ansätze, die ja viel arbeitsintensiver waren, gebrochen?)

5.

Jede Gesellschaft hat die Psychiatrie, die sie braucht. – Dass in verschiedenen Gesellschaften mit «Irren» verschieden umgegangen wird (umgegangen worden ist), hängt weniger damit zusammen, dass die Menschen anders «irre» wären, sondern damit, dass mit dem «Irresein» gesellschaftlich verschieden umgegangen wird (wurde). Als Kritik an biologistischer Psychiatrie schreibt Arno Gruen: «Was hier vorgeht, ist ein Denken, das auf Macht über den Menschen ausgerichtet ist, auf das Ihn-gefügig-Machen, statt eines Bestrebens, ihn in seiner Vielfalt und Kreativität zu verstehen.» Dabei sei es das «Kultursystem und nicht irgendwelche Unterschiede im genetischen Plasma» die die Vorherrschaft von Verhaltensmustern bestimmten[6]. Jede Gesellschaft hat die Psychiatrie, die sie braucht. Wissenschaftlichkeit ist der Fetisch der strukturellen Notwendigkeit von biologistischer Psychiatrie in der aktuellen Gesellschaft. Die Position der herrschenden Psychiatrie: «Massgebend für den Erfolg beim Patienten sind nicht persönliche Eindrücke des Arztes oder des Patienten, sondern Resultate, die weltweit erhärtet werden können.»[7] (6.2.)

6.

Kommunikationsverweigerung. – Die biologistische Optik reduziert psychische Krankheit auf einen biologischen (topisch lokalisierbaren), organisch-biochemischen Prozess. Damit filtert sie «aus der Gesamtheit der Lebensprozesse die ihr allein zugänglichen Bestandteile heraus und ist dabei überzeugt, die ontologische Realität (die Wahrheit des Phänomens an sich) zu beschreiben.»[8] Deshalb, so Pascale Wohlgemuth, werde bei der Anamnese «die inhaltliche und beziehungsdynamische Bedeutung der Patientenäusserungen» kaum beachtet, «weiche Daten (nonverbale Kommunikation, symbolische und finale Bedeutung der Symptome für die Patienten)» erscheinen «als Zeitverschwendung». Die biologistische Optik setzt mit anderen Worten das Gegenüber vollständig als Objekt. Ihre Diagnostik ist medizinische Sektion mit anderen Mitteln. Als Skalpell dient die Sprache. Renitenz ist ein Krankheitssymptom. (7.2.)

7.

Der Blick von aussen. – Peter Lehmann sagt: «So wie sich in der DDR dann etwas verändert hat, als die Leute die Möglichkeit hatten wegzulaufen, wird sich in der Psychiatrie dann etwas ändern, wenn die Leute die Möglichkeit haben werden wegzulaufen.»[9] In der Diskussion um die Antipsychiatrie geht es weniger darum, ob sie in allen Punkten recht hat. Es geht darum, eine argumentative Position von Betroffenen ausserhalb der institutionellen Wirklichkeit zu verankern, zu verteidigen und im veröffentlichten Diskurs über Psychiatrie als unverzichtbarer Blick zu behaupten. Es geht um das Aufbrechen einer zum Mythos verhärteten Wirklichkeit, um die Entmythifizierung einer zur Zeit unhinterfragbaren Diskurshegemonie. (7.2.)

8.

Krankheitseinsicht. – Eines der Hauptprobleme des psychiatrischen Alltags ist, dass die Mehrheit der Neueingewiesenen keine Krankheitseinsicht hat. Darum wird die durch brachialen, elektrischen oder chemischen Zwang hergestellte Krankheitseinsicht paradoxerweise als erster Schritt zur Besserung bewertet. Was in den psychiatrischen Kliniken abläuft, müsste vermutlich genauer als «Nachzivilisierung» bezeichnet werden. Markus Schär konstatiert mit Verweis auf Norbert Elias: «Erst in einem jahrhundertelangen Indoktrinationsprozess bildete sich heraus, was Sigmund Freud das Über-Ich nannte.» Und: die Kulturanthropologie zeige, «dass sich die Seele des Menschen wandelt, den Bedingungen ihrer Epoche und ihrer Gesellschaft entsprechend.»[10] Wem diese Geschmeidigkeit der Seele abgeht, wird früher oder später zur Krankheitseinsicht geprügelt. (7.2.)

9.

Die Sprachen der Psychiatrie. – Klaus Dörner: «Wenn es überhaupt eine innenpolitische Herrschaftssprache gibt, dann ist es die der Psychiatrie.»[11] Wobei sie sich in verschiedenen Formen zeigt:

• Die psychiatrisch-ideologische Sprache in den Bereichen Eugenik, Volkshygiene etc.;

• Die psychiatrisch-theoretische Sprache: der biologistische Jargon der Ärzteschaft, die theoretische Reflexion ihrer institutionellen Praxis (hierzu gehört z.B. der Neuroleptika-Diskurs, wie ihn Lehmann in «Der chemische Knebel» dokumentiert);

• Die psychiatrisch-juristische Sprache: die ideologische Sprache, die aus dem objektiven Zwang, also den Menschenrechtsverletzungen gegen Unangepasste Hilfe für Kranke und die psychiatrischen Kliniken faktisch zu rechtsfreien Räumen macht (hierzu gehört – als kritische Gegensprache – Edmund Schönenbergers PSYCHEX-Musterbeschwerde [12]).

• Die psychiatrisch-praktische Sprache: Die Art, wie PsychiaterInnen über die von ihnen Behandelten sprechen, z.B. die Sprache der Krankengeschichten, die z.T. psychiatrogen bedingte Willkür der Diagnostik (etwa Peter Lehmanns gesammelte Diagnosen etc.).

• Die psychiatriepflegerische Sprache: die ideologische Sprache, die den Zwang, den das Pflegepersonal in den Institutionen objektiv tagtäglich ausüben muss, umdeutet in «Gegengewalt» gegen die Gewalttätigkeit der «Irren».

• Die Stummheit der Psychiatriebetroffenen: Ihre Sprache ist keine «eigene»; sie ist Reflex auf alle anderen. Sie ist machtlos, weil die Aussage «ich bin nicht irr» genauso als Krankheitssymtom gewertet wird, wie die erzwungene Krankheitseinsicht «Ich bin irr». Eine solche Sprache ist, abgesehen von der Verfassung jener, die sie reden müssen, verstrickt in unlösbare Paradoxa. Wer zum «Irren» gemacht wird, redet zwingendermassen irr, weil die Sprache, die zu reden er gezwungen wird, in ihrer logischen Struktur irr ist. (13.2.)

10.

«Psychiatriefiche». –

a) Im Rahmen einer Überprüfung seines «IV-Status» ist über X. Y. im letzten Jahr ein umfangreiches psychiatrisches Gutachten erstellt worden. Darin zitiert der Gutachter dessen gesammelte Diagnosen[13]: «Depressive Erscheinungen» (1963); «Verdacht auf Schizophrenie» und «schizoide Persönlichkeit, coenästhetisches Syndrom, Verdacht auf beginnende Schizophrenie» (1963, Klinik Oetwil); «beginnende Schizophrenie» (1963, Austrittsdiagnose);  «Neurose mit depressiven und hysterischen Zügen bei schizoider Persönlichekeit» (1964, Klinik am Zürichberg); «reaktive Depression» (1977/78, Klinik am Zürichberg); «Schwere Depression im Rahmen einer bipolaren Psychose» (1980, Burghölzli) und schliesslich: «Residualzustand bei einer bipolaren Affektpsychose». Daraus machte der Gutachter einen «Jagdschein» (so X. Y.): «Heute muss er als Sonderling bezeichnet werden, der sich eine zwanghaft-komplizierte, private Welt aufgebaut hat […]. Der Aufbau dieser privaten Welt, wozu auch seine schriftstellerische Tätigkeit gehört, stellt für ihn aber auch eine Struktur dar, die ihm eine gewisse Stabilität verleiht […] Er hat ein äusserst starkes Bedürfnis nach Autonomie […] Wollte man dem Expl. eine Beschäftigung aufoktroyieren, würde dies mit grosser Wahrscheinlichkeit eine Dekompensation auslösen […] Prognostisch erachten wir allerdings die Chance, dass Herr X. Y. je wieder zu einem substantiellen Teil erwerbsfähig werden wird, als klein […]» etc..

b) In seinem Brief kommentiert X. Y. seine «Psychiatriefiche» wie folgt: Das Problem mit Psychiatern, auch kritischen, sei, dass sie eine Art «Geheimsprache», eine «codifizierte Sprache», «Fachlatein» redeten; sie sei ein «Niederhaltungsinstrument». Er glaubt, der Herrschaftscharakter der Psychiatrie müsste in ihrer Sprache nachweisbar zu sein. In der Klinik werde «über dich geredet», ähnlich wie wenn die Eltern vor den Kindern französisch redeten. Danach werde «über dich geschrieben», «fichiert», «du hast das Pech gehabt, in diesen Raster zu kommen», die Betroffenen kennten die Diagnosen nicht, wer paranoid drauf sei, habe berechtigterweise das Gefühl, verfolgt zu werden. Psychiatrische Herrschaftssprache werde erduldet: Sie sei ein «Hammer uf e Gring». (13.2.)

11.

Die Notwendigkeit der Psychiatrie (nach einem Gespräch mit Lotta Suter) – Die «Achillesferse» der antipsychiatrischen Kritik: Es gibt psychiatrische Krisen, die im sozialen Umfeld als psychische Krankheiten wahrgenommen werden; es gibt Menschen, die in diesen Krisensituationen ihren Nächsten nicht mehr zugänglich sind. Die Konfrontation mit «ausgerasteten», «psychotischen» Menschen ist jedoch der häufigste Kontakt des breiten Publikums mit dem Phänomen der Psychiatrie. Sie tritt als Retterin in einer meistens lediglich subjektiv untragbar gewordenen Situation auf. Sie löst das Problem, indem sie den «störenden» Faktor eliminiert.

Natürlich gibt es hier psychiatriekritische Argumentationen:

a) Menschen können in psychische Krisensituationen kommen, in denen sie «fremd» werden. Peter Lehmann versteht diese «Verrücktheit» «als das Ausleben störender Gefühle (Lust, Liebe, Ärger, Wut, Zorn, Stärke und Selbstwert, Euphorie und Ekstase, Wirklichkeitsgefühle, Begeisterungsfähigkeit, Inspiration, Klarsicht und Phantasie, Unwohlsein und Unzufriedenheit, Ratlosigkeit, Trauer und Verzweiflung, Angst und Misstrauen, Leidenschaft) und als unbequeme Lebensweise (Anpassungsunfähigkeit, Stören, Querulanz, Obrigkeitswidrigkeit und individuelle Eigenart).»[14] In dieser Situation begleitet das Umfeld die Person durch die psychische Krise hindurch oder macht sie zu psychiatrischen Patienten respektive Patientinnen: «Reichen die inneren Ressourcen eines Menschen allein nicht aus, so findet er vielleicht in seiner Familie oder weiteren Umgebung genügend Unterstützung, bis er ein neues inneres Gleichgewicht gefunden hat. […] Erst wenn die Ressourcen des sozialen Umfeldes versagen, tritt entweder beim Betroffenen selbst oder bei seiner Umgebung das Bedürfnis nach psychiatrischer Hilfe auf.[15] […] Wie schnell dieser Schritt erfolgt, hängt sehr von der Tragfähigkeit der Umgebung ab, in der er lebt.»[16]

b) Ein «ausrastender» Mensch kann ohne sein soziales Umfeld, das ihn massgeblich zum Ausrasten bringt, gar nicht verstanden werden. Sein Verhalten ist Ausdruck eines Konflikts, in dem mindestens zwei Parteien versuchen, sich durchzusetzen. «Die Zwangspsychiatrie ergreift Partei für den einen (für den ‘Anständigen’, ‘Wohlfunktionierenden’ – ist ja klar!). Jede Einweisung ist daher von der Genugtuung des jeweiligen Konfliktpartners begleitet, welcher die Zwangspsychiatrie zu Hilfe gerufen hat. Mit jeder Einweisung schafft sich die Zwangspsychiatrie so gleichzeitig einen Verbündeten.»[17]

c) Die akuten Krisensymptome können zudem verschieden interpretiert werden. Vor dem Zugriff der Zwangspsychiatrie: «Angst, Wut, Verzweiflung und Verwirrung des ‘Patienten’ sind leicht verständliche Reaktionen eines Menschen, der sich von seinen nächsten Angehörigen verlassen, verstossen und verraten fühlt.»[18] Nach dem Zugriff der Zwangspsychiatrie: «Wem die Freiheit entzogen wird, reagiert darauf mit allen möglichen Symptomen: Lärmen, Toben, Geifern, wildem Um-sich-Schlagen, eisernem Schweigen, Beschimpfungen, Redeschwall, Wut, Verwirrung, Angst, Stottern, Verzweiflung, Drohungen, Verwünschungen, Anrufung guter oder böser Geister, Lästerungen, Schock und vielem anderem mehr. Einem Menschen, der solche – in Anbetracht der Umstände absolut normale – Reaktionen zeigt, wird flugs das Etikett der Geisteskrankheit angeklebt.»[19]

d) Aus der Sicht eines Betroffenen berichtet Peter Lehmann: «Ohne jegliches Gerichtsverfahren war ich unter Anwendung von Gewalt in die Anstalt verschleppt und gegen meinen Willen dort wochenlang festgehalten worden. Zweifellos hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt aufgrund aller möglichen Umstände aufgeregt; ich handelte auch für die Umwelt unverständlich, so dass sich meine Angehörigen und der von ihnen in (ihrer) Not herbeigerufene Hausarzt nicht mehr mit mir verständigen konnten. Gemäss psychiatrischer ‘Theorie’ wurde in mir logischerweise ein ‘Schizophrener’ erkannt, und mit derselben Logik erhielt ich gegen meine ‘Krankheitssymptome’ die entsprechenden ‘Medikamente’, speziell Neuroleptika: Damit gehörte ich zu den 95 Prozent der ‘Schizophrenen’, die allesamt mit diesen Mitteln ‘behandelt’ werden.»[20]

Diese Argumentationen nützen jenen, die mit einer «ausgerasteten» Person konfrontiert sind, nichts. Sie wollen Rezepte und Entlastung. Diese werden von der Zwangspsychiatrie angeboten. Ihre «Hilfe» ist identisch mit Zwang, Körperverletzung respektive, nach Schönenberger: «Folter»[21]. Darauf muss auch dann beharrt werden, wenn andererseits klar ist, dass die Fragmente sozialer Netze, die es in der heutigen Gesellschaft gibt, im Durchschnitt zu wenig tragfähig sind, um Personen in ernsthaften psychischen Krisen zu begleiten: es fehlt im besseren Fall an Räumlichkeiten und an Zeit, im Normalfall an den Netzen selber. (12./13.2.)

[1] Stavros Mentzos: Bewusste und unbewusste Gründe und Hintergründe des Biologismus, PMS aktuell 4/1990, 6 f.

[2] Luc Ciompi: Sozialpsychiatrische Betrachtungen zum sog. Biologismus in der modernen Psychiatrie, PMS aktuell 4/1990, 4 f.

[3] Artikel 397 ZGB.

[4] Jörg Bopp: Antipsychiatrie – Theorien, Therapien, Politik, Frankfurt am Main (syndicat) 1980, 16.

[5] Bopp, a.a.O., 32.

[6] Arno Gruen: Die Verminderung des menschlichen Erlebens, PMS aktuell 4/1990, 8f.

[7] Willy Haefely: Psychopharmaka, gestern, heute, morgen, PMS aktuell 4/1990, 14f.

[8] Pascale Wohlgemuth: Offener Brief an Frau PD Dr. med. Brigitte Woggon, PMS aktuell 4/1990, 10 f.

[9] Mündlich anlässlich der PMS-Tagung über Zwang in der Psychiatrie, Biel, 8./9.11. 1990.

[10] Markus Schär: Biologie und Kultur, PMS aktuell 4/1990, 16f.

[11] Klaus Dörner: Die These von der «Endlösung der Sozialen Frage», PMS aktuell 4/1990, 28f.

[12] Edmund Schönenberger: Musterbeschwerde des Vereins PSYCHEX «betr. Folter, Freiheit, Rehabilitierung etc.», Zürich 24.12.1989.

[13] Brief von XY an fl., Oktober 1990.

[14] Peter Lehmann: Der chemische Knebel, Berlin 1986, XIII.

[15] Laut Ambros Uchtenhagen erfolgen von den jährlich gegen 30000 Eintritten in psychiatrische Anstalten und Kliniken (VESKA-Statistik 1988) über 90 Prozent unfreiwillig (nach Edmund Schönenberger, Vernehmlassungsbericht zur Fürsorgerischen Freiheitsentziehung im Kanton Zürich, 27.1.1991, 1).

[16] Arbeitsgruppe Psychiatrie der SGSG Basel: Psychiatrie in Bewegung, Zürich 1983, 28.

[17] Schönenberger, Vernehmlassungsbericht a.a.O., 5.

[18] Marc Rufer: Kritik der Zwangspsychiatrie aus ärztlicher Sicht, in: PSYCHEX contra Zwangspsychiatrie, Zürich Januar 1991.

[19] Schönenberger, a.a.O., 4.

[20] Lehmann, a.a.O., XI.

[21] Schönenberger, Vernehmlassungsbericht a.a.O., 7 f; vgl. auch Schönenberger: Musterbeschwerde, a.a.O., 16 f.

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