Zirkus Federlos unerwünscht

Zwei Wochen Alternativkultur im Zelt des Zirkus Federlos auf dem Gaswerkareal – das kann jenem Bern, das sie wieder wählen soll, nicht noch einmal zugemutet werden, findet die opportunistischste Regierung Mitteleuropas – der Berner Gemeinderat.

Die Berner Alternativkultur ist faktisch obdachlos. Veranstaltungen und Feste sind nur noch in privaten, zu Bars ausgebauten WG-Kellern und –Küchen oder durch Blitzbesetzungen in leerstehenden Liegenschaften möglich (z. B. in der Dampfzentrale, vgl.WoZ 20 / 1987). Soweit es in der Macht der stadtbernischen Obrigkeit liegt, wird Alternativkultur ausgegrenzt und entöffentlicht, abgeblockt und verhindert.

Ein Lichtblick war im August 1986 das vierzehntägige Gastspiel des Zirkus Federlos auf dem Platz vor dem Jugendhaus Gaskessel. Hunderte besuchten an jenen milden Sommerabenden die Veranstaltungen in Zelt und Kessel. Für einmal waren wir gross genug, um nicht von griesgrämigen Polizeistündelern ins Bett geschickt zu werden.

Am 11. Mai 1987 wurde der Stadtregierung das diesjährige Gesuch vorgelegt: Wieder sollte der Zirkus Federlos beim Gaskessel gastieren. Zwischen dem 1. und dem 23. August waren Theateraufführungen, Performances, Jonglierdarbietungen, Lesungen, Ausstellungen, verschiedene Konzerte nebst Beizenbetrieb vorgesehen. Das gesuch schloss: ,Damit wir weiter an der Planung arbeiten können, möchten wir Sie bitten, möglichst bald über unser Gesuch zu entscheiden, spätestens bis zum 27. Mai.»

Der Gemeinderat entschied am 24. Juni, an seiner zweitletzten Sitzung vor der Sommerpause, und zwar abschlägig («Lärmimmission»). Er machte jedoch ein Alternativangebot: Unter der Voraussetzung, dass die Spieldauer um zehn Tage gekürzt und Lärmbeschränkungen verordnet werden, soll das Federlos-Zelt in einer Lichtung des Bremgartenwaldes, «Areal Zubringer Neufeld, N 1 Stadttangente Bern Nord», geduldet werden. Mit diesem Angebot solle gewährleistet werden, «dass der Auftritt des Zirkus Federlos in Bern das Bedürfnis nach Jugend- und Alternativkultur ohne Beeinträchtigungen der Öffentlichkeit abdecken kann». Bemerkenswert: Jugend- und Alternativkultur sind nicht Teil der Öffentlichkeit, sondern können diese lediglich beeinträchtigen.

Dass mit diesem Entscheid die Federlos-Leute zehn Tage existenzbedrohende Zwangsferien mitten in der kurzen Saison hinnehmen müssen, dass zahlreiche Berner Kulturschaffende um eine der wenigen Auftrittsmöglichkeiten geprellt werden, dass im angebotenen Areal die Fahrenden einen Standplatz, die Prostituierten ihren Strich haben – solches bedenkt eine opportunistische Regierung erst, wenn für sie plötzlich denken opportun wird, also vor den Sommerferien nicht mehr. Ein Trost: Jede Regierung schickt ihre Randgruppe nur solange in den Wald, bis sie als Bewegung wieder herauskommen, um sich zu nehmen, was sie zum Leben brauchen.

Item: Letzten Montag hat das Organisationskomitee, in dem verschiedene Berner Kulturveranstalter zusammenarbeiten, ein Wiedererwägungsgesuch an den Gemeinderat abgeschickt: «Mit Unverständnis nahmen wir von Ihrer ablehnenden Antwort Kenntnis, haben wir doch wegen den letztjährigen Reklamationen aus der Nachbarschaft dieses Jahr sämtliche Konzerte in den neu umgebauten Gaskessel verlegt […] Ihr Vorschlag, uns an den Stadtrand und an die Autorbahn zu drängen, werten wir als Geringschätzung unseres kulturellen Engagements und der alternativen Kulturschaffenden überhaupt.»

Nach der Stadtschreiberin Elsbeth Schaad wird das Wiedererwägungsgesuch für die Gemeinderatssitzung vom Mittwoch [1. Juli 1987, fl.] traktandiert. Der endgültige Entscheid fällt am Mittwochabend nach WoZ-Redaktionsschluss.

Zur Gründungsgeschichte des Zirkus Federlos sieheWoZ 26 / 1983

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5