Wunder des Zorns

Am 12. Februar 1983 veröffentlichte Mariella Mehr in der «Berner Zeitung» unter dem Titel «Frei-Tod als Not-Wende?» einen «Nach-Ruf» auf den Schriftsteller, Bergsteiger und Weltenbummler Gilbert Tassaux (* 1935), der am 25. Januar jenes Jahres auf der Ergotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Waldau einen jugendlichen Mitpatienten gebeten hatte, ihn zu erschlagen, was dieser mit einem Stück Holz tat. Tassaux, der sich in seinen  Schriften verschiedentlich als Zeus bezeichnet hat, war ein Freund Mariella Mehrs[1]. Sein makabres Ende ist für sie zur Ausgangsidee einer Fiktion geworden: Zeus, der unsterbliche Göttervater des griechischen Olymps, lässt sich von seinem fliegenden Ross Pegasus freiwillig im dritten Stock einer psychiatrische Klinik absetzen, weil er sich seiner «Unsterblichkeit entledigen» will. Mehr hat diese Idee zu einem streng komponierten Roman weiterentwickelt, dessen drei ineinander montierte Ebenen von einer durchgehenden, rhythmisiert gedachten Kunstsprache zusammengehalten werden.

Barockputte und Keuschheitsgürtel

Dass sich bei der Darstellung von Zeus – mit dessen Landung in der Klinik der Roman beginnt – wiederholt Verweise auf Tassaux’ Biographie und Zitate aus seinen Schriften finden, ist nicht der einzige Grund, weshalb «Zeus oder der Zwillingston» – zumindest passagenweise – als Schlüsselroman gelesen werden kann. Schauplatz der Ereignisse ist die kantonale Heil- und Pflegeanstalt Narrenwald, die eben mit einem Neubau erweitert wird, «um die auffällig gewordenen Bürger endlich und […] fachkundig einsperren zu können»: unverkennbar die Klinik Waldhaus in Chur. Geleitet wird Narrenwald gemeinsam vom Anthropologen Gottlob Abderhalten und vom Psychiater Bonifazius Wasserfallen, beide unschwer zu erkennen als der Waldhaus-Chef Gottlob Pflugfelder und dessen (unterdessen ebenfalls pensionierter) Nachfolger Benedikt Fontana. Ersterem hat die Jenische Mariella Mehr als ehemaliges «Kind der Landstrasse» ein psychiatrisches Gutachten zu verdanken, das nicht ausschliessen wollte, dass für die damals 16-jährige schon wegen ihrer erblichen Belastung eine dauernde Einweisung in eine Klinik nötig werden könnte; letzterer hat seine Doktorwürde mit einem rufmörderischen Aufsätzchen über die Sippe Mehr errungen (siehe WoZ Nr. 43/1988). Auf der Ebene des Schlüsselromans gehört daneben vor allem die sarkastische Porträtierung von Chur, bei Mehr «Flur», jener Stadt, in der einerseits «ein winziger Dompfaffe» «einer tobenden Barockputte gleich […] den Weihwasserkessel über der Gemeinde» schwingt, «um seinem Gott zu dienen und den Weinberg vom unbotmässigen Geziefer zu säubern», andererseits die Frauen aus Angst vor Vergewaltigern nachts nicht mehr auf die Strasse gehen können, jedoch zu Hause Keuschheitsgürtel tragen müssen, «so dass auch der Arme vom Genuss profitieren konnte, seine Gattin treu und ergeben zu wissen, während er selbst sich […] vergnügte».

Aber «Zeus oder der Zwillingston» ist mehr und anderes als ein Schlüsselroman. Wer ihn durchgängig als solchen liest, kriegt von der Literatur nur die Sensation mit.

Söhnchen, Auge, Gehirn

In der Anstalt, in der Zeus auf der «Männer E» interniert wird, lebt auf der «Frauen C» seit vielen Jahren die Langzeitpatientin Rosa Zwiebelbuch. Tochter eines wein- und schweineblutsaufenden Störmetzgers und einer Mutter, die «als Irrsinnige endete». Vater Zwiebelbruch mit dem ausgeschossenen rechten Auge trifft im Hotel «Heilige Drei Könige» den Augenmacher Adolf Stauch aus Stuttgart, die einzige freundliche Männergestalt des Buches. Stauch macht für Zwiebelbuch ein Glasauge und stellt dessen Tochter Rosa als Putzfrau an. In Stuttgart schenkt er ihr eines seiner Kunstaugen – das Auge der Thetis, der Meergöttin der griechischen Mythologie. Rosa, der Flurer Enge entronnen, hat eine gute Zeit – bis sie eines Tages vergewaltigt und schwanger wird. Obschon Stauch alles tut, um ihr zu helfen, verlässt sie ihn ohne Abschied, gebärt – zurückgekehrt nach Flur – einen Sohn und erwürgt ihn kurz darauf: an diesem Tag kommt «die Rosa der Rosa abhanden». Sie wird verurteilt und eingesperrt, zuerst ins Gefängnis, später in die Anstalt Narrenwald. Gegen ihr Leiden, das «Weinen und Seufzen und Plärren des Söhnchens, das aus der Tiefe rief und nicht tot sein wollte inalleEwigkeitamen», kämpfen die Herren der Anstalt mit Tabletten, Elektroschocks und schliesslich mit einer Gehirnoperation. Seit damals ist Rosa Zwiebelbuch verstummt: «Als verschollen meldet das Schicksal die Rosa auf Anfrage, verschollen, verkauft an die Nacht im Gehirn.»

Am Tag, an dem Zeus in der Anstalt auftaucht, geschieht etwas Merkwürdiges: Rosa Zwiebelbuch verbeisst sich «mit fürchterlich grimmige[m] Mund» in seiner Wade. Von nun an beginnt sich die seit Jahren dumpf Vegetierende zu verändern. Eine Zäsur in diesem Kampf um die verschüttete Erinnerung, einem Emanzipationsprozess, der Rosa schliesslich «ankommen» lässt «im Gehirn», bildet jener Tag, an dem sie beim Anstaltskiosk Zündhölzchen klaut, um sich – was die Klinik ihrem Patientengut nicht erlaubt – selbst Zigaretten anzünden zu können. Diesen Feuerraub nutzt sie paradox: In der Kantine, in Anwesenheit von Zeus und Wasserfallen, drückt sie sich eine selber entfachte Zigarette im linken Auge aus. Doppelt paradox: Im Augenblick, da sie an einem Auge erblindet, hat sie den entscheidenden Schritt getan zu sich selber, wird sie trotz des zerstörten Gehirns wieder sehend.

In dem Mass, in dem im folgenden Zeus von Angstzuständen gepeinigt zerfällt, in dem Mass will Rosa «im Jetzt ankommen, hier im Rosawinter». Am 25. Januar 1983 – dem Todestag Gilbert Tassaux’ – treffen die beiden zusammen: Rosa hat an jenem Tag auf den Abteilungen frische Wäsche zu verteilen. Sie trifft im Gang der «Männer E» auf den tobenden Zeus, der sich vor Angst «seinen Götterleib in den Wahnsinn» schreit. Im unverwechselbaren Ton der schreienden Stimme sieht Rosa blitzartig sich selbst und die Wahrheit ihres Lebens. Vor den gleichermassen verständnislos glotzenden Herren und Knechten der Anstalt vollzieht sich im Zusammenschiessen von Erkenntnis, Orgasmus und Tod Rosas «Wunder des Zorns».

Das prometheische Orakel

Die Pointe des Romans liegt jedoch weder in den schlüsselromanartigen Seitenhieben noch in der erfahrungsgesättigten Kritik institutioneller Psychiatrie. Die Pointe ist – die Schilderung des Untergangs der patriarchalen Welt. In der griechischen Mythologie gibt es eine Prophezeiung des Prometheus, wonach Zeus von einer Frau entmachtet werde, «sofern er sich ihr hingebe und sie schwängere». Als Zeus damals erfahren hat, dass diese Frau die Meergöttin Thetis sei, ist er vor ihr geflohen, um seine Macht zu retten. Deshalb war diese bis in die heutige Zeit ungebrochen. Zeus’ Niedergang ist erst in dem Moment beschlossen, da er als junger Weltenbummler mit einer Schwäche für «Hitlerjugend»-Uniformen 1960 in Stuttgart jene Frau vergewaltigt, die das Auge der Thetis besitzt.

Die schriftstellerische Leistung Mehrs besteht darin, diese drei inhaltlichen Ebenen in einer komplizierten Montage zu einem Ganzen zusammengebaut zu haben. Vermutlich der entscheidende handwerkliche Kniff, den sie dabei angewendet hat, ist das Spiel mit der Erzählposition: Bald erzählt sie allwissend über den Personen stehend, bald aus der Sicht der einen oder anderen handelnden Person (häufig in indirekter Rede), bald umkreist sie ihren Plot und ihre Figuren kommentierend und analysierend. Die häufigen Wechsel der Erzählposition ergeben jene perspektivischen Verzerrungen, die die Polemik gegen Bischof Haas, die episodenreiche Schilderung des Anstaltsalltags und die Fortschreibung der griechischen Mythologie im gleichen Text plausibel erscheinen lassen.

In ihrer ersten Klinikzeit, als Rosa noch reden kann, heisst es über sie: «Das Erzählen war ein Akt der Selbstbehauptung, der Rettungsring des Wissens, die Begnadigung kurz vor der Urteilsvollstreckung.» Damit ist der literarische Ort genannt, von dem aus Mariella Mehr 1981 mit «steinzeit» ihre eigene Geschichte zu meistern versucht hat. Mit dem «Zeus»-Roman hat sie nun ein ausserhalb ihrer Biographie liegendes, fiktioniertes Universum gemeistert. Die sprachliche Kunstfertigkeit und die formale Raffinesse, mit der sie das getan hat, machen den Roman zu ihrer bisher bedeutendsten literarischen Arbeit.

Mariella Mehr: Zeus oder der Zwillingston. Roman, Zürich (Edition R + F) 1994.

[1] Einen Überblick über Tassaux’ schmales literarisches Werk gibt: Gilbert Tassaux: Die Dienststelle, Bern (Lichtspuren Verlag) 1982. Mehrs Text «Frei-Tod als Not-Wende?» ist nachgedruckt in: Mariella Mehr: RückBlitze, Bern (Zytglogge Verlag) 1990, 267 ff. 

Zu Mariella Mehr siehe auch: «Macht ist Angst, über sie nachzudenken»

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