Wo Fragen sind, ist Leben

Nie würde Kurt Marti ein Buch mit «Mein Jahrhundert» überschreiben. Und nie käme ihm in den Sinn, zu jedem Jahr des Jahrhunderts einen Abschnitt zu schreiben – so viel, würde ihm scheinen, habe er denn doch nicht zu sagen. Dort, wo der Epiker Günter Grass «mein» schreibt, setzt der Dichter Marti «klein» und sein «Jahrhundert» gerät ihm zu einer lockeren Folge knapper Skizzen, einer Art «Zeitrevue».[1]

Unter dem Titel «kleine zeitrevue» hat Marti in diesem Herbst 41 «erzählgedichte» veröffentlicht, die schon deshalb neugierig machen, weil sie in der NZZ (3. 11. 1999) bemerkenswert ungnädig verrissen worden sind: Die Texte seien «gut gemeinte Gesinnungslyrik», die «Kunstlosigkeit der Verse» zeuge so gut von «nachlassender Mühewaltung» wie von einem «spröden Alterstil»: Nichts mehr sei «mehrdeutig», nichts mehr spiele «mit Laut- und Bedeutungsschichten» – kurzum: Martis Band sei eine «völlig verhagelte Nachlese».

Was hat den Kritiker Manfred Papst derart verärgert? In fast lapidarer Kürze erzählt der bald 79jährige Kurt Marti das aus seinem Leben, was ihm das Bedeutendste scheint: Der «zufall glücksfall» seiner Geburt in Bern («was wäre aus ihm geworden / in alzey zum beispiel oder in erfurt?»); die Jugendzeit («heimat war angst vor dem krieg»); später der Militärdienst in den Bergen des Réduits («die barbaren / sie kamen / nicht»); Paris 1947 «im fieber des jazz»; seine Zeit als Pfarrer in Leimiswil, in Niederlenz die Jahre der «automobilmachung», später als Nydeggpfarrer in Bern: Vietnam, Woodstock, Prag («und auf einmal redeten fast alle / einander mit du an»); die grosse Friedensdemonstration 1981 in Bern mit einem überraschenden kleinen Denkmal («das menschenmeer überragend / überblickend stand am rande / der kundgebung niklaus meienberg / ‘unglaublich’ staunte auch er / ‘unglaublich!»); später der Schnüffelstaat, der Untergang der DDR, das Ausbleiben der Schmetterlinge in den «sommergärten».

Martis unspektakuläres Leben also, als Spur gelegt durch eine Zeitgeschichte gewordene Zeit. Und zum Schluss keine weise Sentenz, kein sprachartistisches Feuerwerk, nichts als: «kommen wird eine stille / in der alle fragen verstummt sind». Diese beiden letzten Verse des Buches korrespondieren mit jenen, die weiter vorn unter dem Titel «danach» das Denken seit Auschwitz zu fassen versuchen. Ahnungslos sei er zwar  nie gewesen, «aber das / aber so / – fraglich alles / seither». Wo Fragen sind, ist Leben – darüber hinaus gibt es für Marti nur «das alte gotteslob».

Aber selbstverständlich ist all dies nicht der Grund für den NZZ-Verriss. In einem Interview, das Werner Weber als Altmeister der NZZ-Literaturkritik letzthin dem «Tages-Anzeiger» (13.11.1999) gab, sprach er davon, dass seit 1968 «das Literarische der Literatur» zurückgegangen sei und nannte ausgerechnet Martis neues Buch als aktuelles Beispiel für diese Tendenz: «Ich habe nichts gegen den Inhalt einzuwenden, er ist gegenwartsoffen», sagte Weber, «aber ich frage mich: Muss in diesem Fall der Inhalt literarisierend in gebrochenen Zeilen vermittelt werden, könnte, sollte man dies nicht in normal laufendem Satz wiedergeben und mir zutrauen, dass ich diese ‘erzählgedichte’ doch richtig lese und betone?» Für Weber ist also der Inhalt nicht weiter von Belang (hier schauten in seiner Zeitung sowieso seit je andere Abteilungen der Redaktion zum Rechten) – entscheidend für ihn ist, dass Verse Verse sein müssen und Martis Verse keine seien. Aber warum nicht? Martis Texte sind doch unbestreitbar streng geformt und in frei rhythmisierter Sprache klar gegliedert («hölderlin im gehör: gedichte / wie jazz! hyperion-blues!»)? Ja, aber die formalen Strukturen transzendieren den Inhalt nicht zur absichtslosen Artistik, die dieser Art Literaturkritik erst als Kunst gilt – sie stehen im Dienst des Inhalts.

Das aber soll nicht sein: Verse sollen in aller Bescheidenheit die stabile Sprungmatte flechten, auf der die HohepriesterInnen der zünftigen Literaturkritik ihre Höhenflüge turnen können. Martis Verse jedoch taugen schlecht als Sprungmatte, weil sie in aller Bescheidenheit darauf beharren, selber etwas sagen zu wollen.

Die unübliche Gattungsbezeichnung der «erzählgedichte» verweist darauf, dass die «kleine zeitrevue» eher ein Experiment ist als eine «Nachlese». Sie ist ein Zyklus, dessen einzelne Abschnitte eigenständig erfahrene Zeitgeschichte reflektieren, gleichzeitig aber sich durch ihre chronologische Anordnung als Teil eines Grösseren zu erkennen geben. Diese Doppelfunktion macht die Einzeltexte zu Teilen einer narrativen Struktur: Zwar sind sie als einzelne lesbar als zeitkritische, religiöse oder Naturgedichte, als Teil des Zyklus jedoch beginnen sie zu erzählen.

Als autobiografische Hinweise sind die Texte der «kleinen zeitrevue» nur bedingt lesbar. Es werden keine private Sensationen ausgebreitet und keine narzisstische Bedürftigkeit – was einzig zählt, ist die getreue Zeitzeugenschaft: So ist es gewesen für einen, der mit Leib und Seele dabeigewesen ist, ohne sich je vorzudrängen – der sich lediglich seit jeher und immer wieder erlaubt, genauer hinzuschauen und hartnäckiger nachzufragen als andere. Die Gedichte sind so eine Einladung an die Verbitterten seiner Generation gleichermassen wie an die Nachgeborenen, die jene heute ein bisschen vorlaut kritisieren, sich auf jenes Zeitalter einzulassen, an dessen Ende die Einsicht steht: «Lo sterminio è ovunque» (die Ausrottung ist überall), wie Marti in einem Gedicht den italienischen Lyriker Andrea Zanzotto zitiert.

Für die Ästhetik der «kleinen zeitrevue» charakteristisch ist eine dreifache Indienststellung: Die Form wird in den Dienst des Inhalts, die Einzelstücke in den Dienst des erzählenden Zyklus und das lyrische Ich in den Dienst des Zeitzeugen gestellt. Diese Position ist für Kurt Marti allerdings erstaunlich: In den sechziger Jahren hat er als junger Autor gegenüber jenen, die ihre Heimatlyrik mit allen Mitteln in den Dienst der vaterländischen Rechtgläubigkeit stellten, die Autonomie des Kunstwerks mit den Argumenten der ästhetischen Moderne verteidigt. 1967 war es – so schliesst sich ein Kreis – Werner Weber, der mit einer begeisterten Rezension des Gedichtbands «rosaloui» massgeblich zum Durchbruch des Lyrikers Kurt Martis beitrug.

Wenn Marti heute das «Literarische der Literatur» im weberschen Sinn zurücknimmt und seine Texte demonstrativ an ein Ethos der desillusionierten Menschlichkeit bindet, dann wohl weniger, um das NZZ-Feuilleton zu ärgern. Ein tieferer Grund lässt sich aus der «kleinen zeitrevue» selber ableiten. In einer Zeit, in der die Ausrottung überall ist, gibt es für eine verantwortbare Literatur keine geschützte Werkstatt der Autonomie mehr: Niemand kann sich dichtend dieser umfassenden Ausrottung stellen ohne zu sagen, ob er für sie ist oder wider sie.

Kurt Marti: kleine zeitrevue – erzählgedichte, Zürich/Frauenfeld (Nagel & Kimche) 1999. 

[1] Angespielt wird auf: Günter Grass: Mein Jahrhundert. Hundert Erzählungen, Göttingen (Steidl Verlag) 1999.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5