«Wir sollten zeigen, was wir können»

Ein Bürogebäude an der Schaffhauserstrasse in Zürich Oerlikon. Im ersten Stock liegen die Räume von «ChangeKultur», einer Organisation, die Jugendliche mit Migrationshintergrund bei der beruflichen und sozialen Integration unterstützt. Hier arbeitet Liri Lushaj als Sozialpädagogin.

2001 ist Lushaj aus Albanien in die Schweiz gekommen. Eben vor einigen Tagen hat sie den Antrag auf Einbürgerung gestellt. Seither hat ihr das zuständige Amt bestätigt, dass in ihrem Fall die Rahmenbedingungen erfüllt seien: gute Deutschkenntnisse, ein Beruf, ein ausreichendes Einkommen, Weiterbildungen, dazu die Mindestaufenthaltsdauer von zwölf Jahren. Im Moment wartet sie auf Formulare, die sie ausfüllen soll.

«Ich will Schweizerin werden», sagt sie. «Erst wenn ich den Pass habe, bin ich wirklich integriert. Erst als Schweizerin kann ich überall aktiv am Leben teilnehmen. Wenn ich stimmen und wählen darf, dann kann ich meine Meinung vertreten und Stellung nehmen.» Dazu kommt: «Für mich wäre der Schweizer Pass die Anerkennung, dass ich meine Arbeit hier gut mache.»

Von Beruf Problemlöserin

Liri Lushaj arbeitet als sozialpädagogischer Coach. Nicht nur, aber vor allem mit albanischen Familien, die in eine Krise geraten sind. Solche Krisen bedeuten Konflikte, überforderte Eltern, dazu schwierige, manchmal gar straffällige Kinder. Ihre Arbeit besteht darin, solche Krisen auf den Punkt zu bringen, zu vermitteln, zu informieren, nicht Verstandenes zu übersetzen, falsch Verstandenes zu klären und so eine neue Perspektive in die mitunter verfahrene Situation zu bringen.

Lushaj weiss, dass die meisten ihrer Landsleute mit Hoffnungen und dem Willen in die Schweiz kommen, Land und Leute zu respektieren und sich zu integrieren. Insbesondere die hohe Sprachbarriere führe aber oft zu verunsichernden, manchmal verletzenden Erfahrungen. So wachse die Angst zu reden, man ziehe sich zurück und daraus ergäben sich immer neue Schwierigkeiten.

«Die grösste Schwierigkeit ist sicher die Sprache», sagt sie. Das sehe sie gerade bei albanischen Frauen. Spreche man mit ihnen im privaten Rahmen auf albanisch, seien sie voller Vitalität, interessiert und neugierig. Aber sie zu motivieren, Deutsch zu lernen, aus dem Haus zu gehen, zum Beispiel Gewerkschaftsarbeit zu machen, das sei fast unmöglich. «Sie ziehen sich zurück, statt zu zeigen, was sie wissen und können.»

Auch wenn Liri Lushaj Albanisch spricht, begegnet man ihr in den Familien nicht selten skeptisch: «Ich spüre, dass die Frage im Raum ist: Kommt diese Frau, um zu helfen, oder wird sie geschickt, um uns zu kontrollieren?» Vielleicht auch deshalb möchte sie im Gespräch kein konkretes Beispiel erzählen, wie sie einen Konflikt coacht. Zu wichtig ist ihr das gewonnene Vertrauen. Darum keine Beispiele, auch keine mit veränderten Namen. Der Erfolg gibt ihr recht: «Es ist für mich sehr befriedigend, dass ich immer wieder sehr direkt helfen kann.»

Auf der Bühne fürs Leben lernen

Neben ihrer Berufsarbeit leitet Liri Lushaj als Schauspielerin und Theaterpädagogin ehrenamtlich das Zürcher Integrationszentrum für Soziokultur «Alexander Moissi», das sie 2004 mitgegründet hat. «Zuvor war bei jeder Zeitungsmeldung über eine Gewalttat meine grösste Sorge, dass albanische oder kosovarische Namen im Spiel sein könnten.» Darum habe sie sich entschlossen, mit Leuten, die Probleme haben, zu arbeiten.

«Die Idee war, die Theaterarbeit als Medium einzusetzen zur Lösung von soziokulturellen Problemen», erzählt sie. «Wir machen eine Art Forumstheater: Ich studiere das Stück mit den Kindern ein, aber bei der Aufführung kommen auch die Eltern auf die Bühne und werden Teil des Spektakels.» Das führe zu spannenden Situationen: «Kinder, die zu Hause nicht den Mut haben, den Eltern etwas für sie Wichtiges zu sagen, sagen es ihnen auf der Bühne, weil sie in diesem Moment Theater spielen.» Ähnliche Effekte erlebe sie bei Rollenspielen, etwa wenn ein Kind die eigene Mutter spiele. «Wenn die Grenze zwischen Inszenierung und Leben verschwimmt, kann etwas passieren.»

Am Schluss des Gesprächs ist Liri Lushaj noch einmal auf die Bedeutung der Einbürgerung zu sprechen gekommen: «Sie ist ein grosser Schritt zur Integration.» Darum hat sie eine klare Meinung zur Frage, die das Parlament in diesen Tagen diskutiert, ob die Mindestaufenthaltsdauer für Einbürgerungen von zwölf auf acht Jahre verkürzt werden soll: «Für alle, die sich integrieren wollen, wäre die kürzere Frist eine echte Motivation, noch aktiver zu werden.»

 

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Die Schauspielerin

Liri Lushaj (* 1954) wuchs in der albanischen Hauptstadt Tirana auf und wurde Schauspielerin. Unter dem Künstlernamen Liri Lushi arbeitete sie mehr als zwanzig Jahre am Theater der Adriastadt Durres und als Filmschauspielerin. Zum Star der weltweiten albanischen Community wurde sie durch die Darstellung der Freiheitskämpferin Shote Galica (1895-1927) im verfilmten Theaterstück «Gërsheti i luftërave» («Die Wirren der Kriege», 1978).

2001 kommt sie wegen der schwierigen Situation in Albanien in die Schweiz, lernt Deutsch und macht verschiedene Weiterbildungen. Zurzeit absolviert sie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ein Masterstudium im Bereich Kriminalität, Dissozialität und Rückfallprävention. Sie arbeitet als Sozialpädagogin bei «ChangeKultur» in Zürich Oerlikon. Zudem leitet sie ehrenamtlich das Integrationszentrum für Soziokultur «Alexander Moissi». In der Schweiz hat sie als Schauspielerin 2004 im Kriminalfilm «Strähl» und 2008 in der Fernsehserie «Tag und Nacht» mitgespielt.

Liri Lushajs ist Unia-Mitglied, lebt in Winterthur und hat zwei erwachsene Kinder. Ihr Hobby ist lesen – zum Beispiel Goethe und Schiller im Original; etwas, das sie sich immer gewünscht hat.

Dieser Beitrag ist auf albanisch übersetzt worden und erschien unter dem Titel «Ne duhet të tregojmë atë që dimë të bëjmë!» in Horizonte Shqip, Nr. 6/2013, der Zeitung für albanischsprachige Mitglieder der Gewerkschaft Unia.

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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