Wenn der Bundesrat Musik will, soll er selber jodeln

In den Jahren 1974 bis 1989 habe ich vier Gedichtzyklen geschrieben, experimentelle Spracharbeit, die weitestgehend in einem echolosen Raum stattgefunden hat. Weil ich, um weiterzukommen, zunehmend auf Echo angewiesen bin, habe ich mich zur Publikation dieser Texte entschlossen.

Ich habe folgendes überlegt: Weil ich meine ökonomischen Bedürfnisse nicht an die Literatur gehängt habe, kann ich es mir leisten, den Rahmen des knallharten Literaturmarkts von vornherein zu verweigern. Weil ich es nicht nötig habe, als Lyriker zu gelten, muss ich nicht an den trostlosen Ritualen des Literaturbetriebs teilnehmen. Ich kann zum Beispiel – solange ich sie bezahlen kann – versuchen, eine nicht-warenförmige Publikation zu machen.

Und weil jedes Ding einen Namen braucht, nannte ich mein Projekt «Konvolut». Beim Bier hat mir zwar Karl Marx unwiderlegbar bewiesen, dass meine Idee ein Hirngespinst aus monströser ökonomischer Naivität sei und dass es eine nicht-warenförmige Publikation in der kapitalistischen Welt gar nicht geben könne. Später ist Till Eulenspiegel dazugekommen. Er hat gesagt: Tu's trotzdem.

Der Grafiker Daniel von Rüti hat das «Konvolut» gemacht. Er hat mit grafischen Mitteln die Warenästhetik des Buches gebrochen, so dass die Berner Genossenschaftsdruckerei «Widerdruck» im letzten Dezember nicht ein Buch, sondern 520 Unikate, eben «Konvolute», gedruckt hat. Diese verteile ich nun nach und nach an Leute, auf deren Urteil, Kritik und Widerspruch ich Wert lege. Kurzum: Das «Konvolut» gibt es. Es ist veröffentlicht. Es ist sogar öffentlich zugänglich: Ein Exemplar habe ich der Landesbibliothek geschickt zur Ergänzung ihrer «Helvetica»-Bestände. Aber das «Konvolut» ist nicht kaufbar.

Rahmenlose Kunst lügt

Jetzt stellt mir die Redaktion der Zytglogge Zytig die Frage: Was sagt der Verfasser des «Konvoluts» zum Stichwort Kulturverweigerung? – Das «Konvolut» hat gar nichts mit Kulturverweigerung zu tun! Das «Konvolut» verweigert nicht Kultur, es ist, mit Verlaub, Kultur. – Aber das «Konvolut» kann man ja nicht einmal kaufen! Was verweigert es dann, wenn nicht die Kultur? – Den Rahmen des Büchermarkts! Ist denn der Markt die einzige Kultur, die es noch gibt? Er vermanscht doch jegliches sprachliche Herzblut zu papierender Blutwurst. Er verramscht Wahn, Traum und Utopie wie Zahnpasta oder Turbomotoren.

Was ist denn ein Kunstwerk? Nichts als nett geformter Inhalt? Die verengte Perspektive der bildungsbürgerlichen Ästhetik macht es glauben. Für sie ist Kunstproduktion eine Art verklärtes Säuseln in den abgehobenen Gefilden der Absichtslosigkeit, schön durchgeistigter Mist. Sie zwingt die Kulturschaffenden zur Schizophrenie, entweder KünstlerIn oder StaatsbürgerIn zu sein, doch niemals beides gleichzeitig. Sie gesteht Kulturschaffenden keine politische Verantwortung als öffentlich redende Menschen zu (und, um ehrlich zu sein, die meisten sind froh ob dieser Entmündigung, denn was hätten sie zu sagen, nähme man sie ernst?). Wird Kunst politisch, dann, sagt diese Ästhetik, wird Kunst zur Ideologie. Wie wenn Kunst, die sich a-politisch gibt, nicht auch ideologisch wäre!

Was also ist ein Kunstwerk? Mehr als nur Form und Inhalt, nämlich Form, Inhalt und Rahmen, also Ort und Zeit seines Erscheinens.

In einem Aufsatz, der dem «Konvolut» beigefügt ist, heisst es: «der rahmen bestimmt massgeblich den sinn / die aussage des kunstprodukts, und zwar unverhältnismässig stärker, als umgekehrt das kunstprodukt fähig ist, den sinn seines rahmens umzudeuten.» Zwar sei «das rahmenlose kunstprodukt allemal das erfolgreichere, weil es von den herrschenden verhältnissen nach belieben zu repräsentationszwecken eingesetzt (und entsprechend honoriert)» werden könne, «aber das rahmenlose kunstprodukt kann emanzipativen anspruch höchstens simulieren.»

Es gibt Kunstschaffende, die sagen: Ob Stadt- oder Strassentheater, ob Casino oder Reithalle, ob CH 700 oder Anti-Apartheid, ob Suhrkamp- oder Selbstverlag, der in meinem Werk materialisierte Geist erstrahlt unverändert. Sie anerkennen die Bedeutung des Rahmens als mitprägenden Faktor der ideologischen und ästhetischen Aussage nicht. Entweder übersehen sie ihn, dann sind sie naiv. Oder sie leugnen ihn und verfallen damit der bildungsbürgerlichen Ästhetik als Ideologie.

Wer sich nur der rahmenlosen Kunst verpflichtet fühlt, wer meint, die Diskussion, welche Geldgeber, welche Aufführungs- und Ausstellungsräume, welche Verlage und Labels akzeptabel resp. inakzeptabel seien, habe nichts mit Ästhetik zu tun und könne dem kulturpolitischen Disput über Sponsoring überlassen werden, betreibt l'art pour l'art und handelt sozial und politisch unverantwortet, in der Praxis zumindest auch im Interesse der jeweiligen GeldgeberInnen. Wer aber die künstlerische Arbeit sozial und politisch verantwortet, muss nicht nur Form und Inhalt, sondern auch den jeweiligen Rahmen bewusst bestimmen, das heisst: ihn akzeptieren oder verweigern.

Publikum um welchen Preis?

Haben Sie, und sei's nur beim Bier, schon einmal einen Dichter sagen hören: Ich will zu einem grossen Verlag, weil ich mehr Geld und mehr Sozialprestige brauche? Ich auch nicht. Aber ab und zu tut ein zerfurchtes Angesicht kund, wie wichtig es gerade für die nächste Arbeit wäre, dass sie grössere Verbreitung fände, denn das Entscheidende, was noch zu sagen gewesen sei, werde eben hiermit gesagt.

Die Selbsteinschätzung, die die allerdings oft höchst beklagenswerte ökonomische Situation und die Bedeutung der eigenen Spracharbeit nicht mehr auseinander halten kann, führt gewöhnlich zur Gewissheit, man habe, soweit die PR-Maschinerie des Verlags Lesebedürfnisse schaffe, der Menschheit etwas mitzuteilen. 

Aber wem hat Literatur schon etwas zu sagen? Den Leuten aus Finanz, Wirtschaft oder Politik? Den Abhängigen am Tropf der kulturellen Fastfood-Industrie? Dem ziemlich aus der Mode gekommenen revolutionären Subjekt des Proletariats? Von wegen. Lediglich für das potentielle Publikum marginaler, weitverstreuter Literaturbeflissener, die sich mittelständisch an etwas differenzierteren Inhalten delektieren möchten, verteidigt die Literatur einen quantitativen, unpolitischen Publikumsbegriff, der Himmel, Hölle und den ärgsten Feind miteinbezieht.

Ich dagegen habe nicht allen Leuten etwas zu sagen. Wenn ich's recht bedenke, will ich gar nicht allen Leuten etwas zu sagen haben. Es gibt eine überwiegende Mehrheit von Leuten, denen ich schon deshalb nichts sagen möchte, weil es ihnen nicht im Traum in den Sinn kommen würde, mir zuzuhören. Wozu soll ich diese Mehrheit beim Argumentieren mit einem weltumspannenden Publikumsbegriff mitdenken?

Gesagt wird: Ich schreibe für alle, denn Kunst muss für alle da sein. Gemeint ist damit: Ich möchte in möglichst grossen Auflagen gedruckt werden, damit möglichst viel verkauft und über mich gesprochen wird. Wahr ist aber, dass das Zielpublikum für einen bestimmten Text beschränkt und im Groben absehbar ist. Dass Kaufleute das anders sehen, ist klar: Ihnen geht's nicht um den Text, sondern ums Geld. Publikum? Wer sich um bestimmte Kunst wirklich bemüht, (er)findet sie.

Versozialdemokratisierte Kultur

Es gibt Linke und Rechte, es gibt antagonistische soziale und ökonomische Interessen, es gibt reaktionäre und emanzipative Argumente in jeder gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Aber merkwürdigerweise gibt es scheinbar nur die Kultur, die Musik, die Literatur. Dabei ist klar: Wer für alle Kunst macht, macht sie abgehoben von allen gesellschaftlichen Widersprüchen und verschleiert sie damit. Verschleiernde Kunst ist Kunst der herrschenden Verhältnisse. Das ist hundertmal geschrieben und tausendmal nachgebetet worden, auch in diesem Land. Von den Konsequenzen aus dieser Erkenntnis will niemand gerne etwas wissen.

Das Unsägliche am Schweizer Kunstschaffen ist, dass es kritisch und wohlgelitten sein will. Es scheint im Hinblick darauf produziert zu werden, durch solides Mittelmass und den fortgesetzten Tatbeweis der Unauffälligkeit der nicht ganz uneinträglichen Gnade des obrigkeitlichen Segens nicht verlustig zu gehen. Das hiesige Kunstschaffen versozialdemokratisiert; es hat auf niedrigem Level Geld und Geist zusammengebracht. Das ist legitim, aber zum Gähnen. Seither sind in diesem Land sogar die Utopien mehrheitsfähig. Und darum hat es keine mehr.

Wie soll ein Land eine politische Opposition haben, wenn es nicht einmal zur einer opponierenden Kunst fähig ist? Nötig wäre eine Kunst, die die gesellschaftlichen Widersprüche aufdeckt und in selbstgewähltem Rahmen zur Diskussion stellt. solche Kunst benennt Freund und Feind, darum wird sie geliebt und gehasst. Sie schert sich nicht ums Publikum; darum hat sie eines. Sie verweigert sich; darum wird sie – wo sie auftaucht – zur Kenntnis genommen. Sie ist nicht programmierbar: Wenn der Bundesrat Musik will, soll er jodeln lernen. Kunst, die ich meine, sagt «nein». Dadurch wird ihr «ja» bedeutsam.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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