Wems nicht passt, der kann ja gehen

Ich möchte ja eigentlich auch nicht Journalist sein. – Das kann hören, wer mit jenen redet, die konsumieren, was wir Schurnis anrichten. Ich auch nicht, möchte man antworten, würde die Selbstachtung nicht gebieten, dem, was man tut, einen Sinn abzugewinnen.

Alle, die nicht von der Zeitungsbranche leben, würden heute vermutlich unterschreiben, dass Zeitungen in jeder Beziehung dünner werden: oberflächlicher, unpräziser, unsorgfältiger, unkritischer. Die einzigen, die ihre Qualität unverdrossen rühmen, sind die, die ChefredaktorInnen und andere PR-Verantwortliche: Sie sind ihr Geld wert, wenn es ihnen gelingt, Abbau als Ausbau zu verkaufen und trotz steten Abo-Rückgangs schwarze Zahlen zu vermelden.

Strukturwandel der Öffentlichkeit

Wenn ich an Jürgen Habermas einen Wunsch offen hätte, würde ich mir wünschen, dass er eine aktualisierte Neuauflage von «Strukturwandel der Öffentlichkeit» verfasst. Darin hatte er 1962 postuliert, «die in der politischen Öffentlichkeit agierenden Mächte [müssten] dem demokratischen Öffentlichkeitsgebot effektiv unterworfen werden». Abgesehen davon, dass das «demokratische Öffentlichkeitsgebot» hierzulande vorwiegend ein privatwirtschaftlich produziertes Öffentlichkeitsangebot ist, hat sich unterdessen das Gegenteil des Postulats durchgesetzt: Die in der Öffentlichkeit agierenden Mächte haben sich «das Öffentlichkeitsgebot effektiv unterworfen»; demokratisch, wie sonst. In knapp fünfzig Jahren hat sich die Struktur der Öffentlichkeit möglicherweise stärker verändert als seit der Einführung des Buchdrucks zuvor in fünfhundert Jahren.

Die elektronische Revolution hat «Öffentlichkeit» fragmentiert in unzählige abgeschottete Community-Spielwiesen. Diese werden über Informationskanäle versorgt, deren publizistischer Freiheitsdrang sich darin erschöpft, keinem Service public verpflichtet zu sein. Um den Rechercheaufwand zu minimieren, werden immer kleinere Bereiche des öffentlichen Raums immer spektakulärer ausgeleuchtet. Immer grössere Bereiche werden entöffentlicht (was den Markt nicht kostendeckend interessiert, interessiert nicht) – oder privatisiert (wo tatsächlich gehandelt wird, gibt es keine Öffentlichkeit). Die gesellschaftlichen Player steuern heute ihren Auftritt mittels Public Relations (nach 1968 sprach man deren dilettantische Vorformen noch als «Manipulation» an) und bestimmen den für sie günstigsten Zeitpunkt des Auftritts mittels Agendasetting; unkontrolliert verbreitete Neuigkeiten, zum Beispiel Indiskretionen, sind nur scheinbare Betriebsunfälle – meist handelt es sich um verdeckte PR, auch wenn die instrumentalisierten JournalistInnen ihre «Enthüllung» als Rechercheleistung bezeichnet haben möchten.

Öffentlichkeit hat heute ein Janusgesicht: Vorn ists ein grellbuntes Schminkwunder, hinten der grob gehauene Holzkopf des Verlautbarungsjournalismus. Wo zu Zeiten der Weltkriege die «Obrigkeit» zensurgestützt unhinterfragbar gewesen ist, sind es heute die gesellschaftlichen Player dank ihren PR-Abteilungen. Versuchte man damals, Konformität mittels Informationsentzug herzustellen, gelingt dies heute zuverlässiger mit fürsorglicher Infomüllflut für die JournalistInnen.

Strukturwandel des Berufs

So möchte ich als Journalist nicht mehr dabei sein. – Das sagt in der schrumpfenden Branche heute mit Vorteil niemand laut. Alle dürfen ja gehen, wenns ihnen nicht passt. Wie jeder technologische Fortschritt hat auch der in der Medienwelt Effizienzgewinne gebracht. Wozu noch Angestellte, wenns die Maschinen billiger machen? Was die erste industrielle Revolution in anderen Branchen bereits im frühen neunzehnten Jahrhundert gebracht hat, bringt die bisher letzte den Zeitungen: kunsthandwerkliche Einzelanfertigung wird ersetzt durch industrielle, arbeitsteilig gefertigte Massenproduktion.

Wenn in diesem Jahr in der Schweiz Hunderte von altgedienten JournalistInnen entlassen werden, findet zwar im Windschatten der konjunkturellen und strukturellen Krise auch eine Personaloptimierung statt (billige, hungrige Newcomer statt teurer, satter Pfründenhocker, die halbtags von Inhalten reden statt zu arbeiten). Aber gleichzeitig wird zurzeit der Journalistenberuf neu erfunden.

In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts waren JournalistInnen vorzugsweise EinzelkämpferInnen, die ihren Narzissmus zu einem sozialverträglichen Berufsethos sublimiert haben; sie produzierten eigene Texte aufgrund von Recherchen, die sie ab und zu sogar ausser Haus führten; sie waren kunsthandwerklich geschickt, politisch informiert und in ihren Kommentaren nicht immer berechenbar. Heute sind sie vom Endprodukt entfremdete FliessbandarbeiterInnen; durch die branchenweite Verschulung qualitätsstandardisiert; technisch up to date für die Verarbeitung von unüberprüfbaren Halbfabrikaten zuhanden verschiedener Endprodukte (Crossmedia), ethisch und politisch indifferent (eine Meinung zu haben, ist dilettantisch – Professionalität heisst, Meinungen flink, zeilengenau und für jede Nachfrage herzustellen).

Solchen JournalistInnen gehört die Zukunft. Der Soziologe Kurt Imhof lokalisiert sie wie olgt: «Bei den Einstiegsmedien für die neuen Journalismusgenerationen […] ergibt [sich] eine weit geringere Wertorientierung an klassischen Qualitätskriterien wie Objektivität, Sachlichkeit, Glaubwürdigkeit und journalistische Ethik.» Daneben fühlen sich diese neuen Profis, so Imhof weiter, «besonders wenig verpflichtet gegenüber Werten wie Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich». (NZZ, 17.11.2009)

Strukturwandel des Journalismus

Guter Journalismus würde eben vieles erleichtern, seufzen jene manchmal, die konsumieren, was JournalistInnen anrichten. – Genau!, möchte man ausrufen, guter Journalismus ist kritischer Journalismus! Aber man sagt dann nichts, denn was heisst heute «kritisch» noch? Und was «Journalismus»?

Am 14. November stand am diesjährigen «Berner Medientag» die «Ausgepresste Presse» zur Debatte. Dank des ehemaligen «Bund»-Chefredaktors Hanspeter Spörri kam dabei zehn Minuten lang das Kreuz mit dem Journalismus zur Sprache (die restlichen zweieinhalb Stunden betrafen das Geldverdienen, also das weitere Auspressen der Presse). Spörri wies darauf hin, dass Redaktionsangestellte zur «Manöveriermasse», zu «Computerknechten» und «Kostenfaktoren» degradiert würden, weil sie sich die Begriffe «Reportagen», «Berichte», «Analysen» und «Kommentare» hätten nehmen lassen und selber nur noch von «Content» redeten. «Content» sei «Retortenjournalismus» – eine austauschbare und deshalb verzichtbare Ware.

Das hat vielen wohlgetan. Allerdings: Wer sollte den Journalismus, den Spörri im Sinn hat, heute machen? Bekannt ist, dass es seit Ende Juli 2004 keinen Presse-Gesamtarbeitsvertrag mehr gibt und seither auch jene JournalistInnen, die in ihren Medien zu unabhängigen Instanzen gesellschaftspolitischer Kritik inszeniert werden, als Beschäftigte rechtloser sind als angestellte Maler, Maurerinnen oder Mechaniker. Anfang dieses Monats hat Ringier bekannt gegeben, in der «Blick»-Gruppe durch Änderungskündigungen und Lohnsenkungen gegen den Willen der Redaktionen das Crossmedia-Projekt «Newsroom» einführen zu wollen. In einer solchen Situation hat man andere Probleme als darüber nachzudenken, ob man sich für Inhalte stark machen oder «Content» verwursten soll.

C. A. Loosli hat als freier Journalist unter dem Titel «Anstaltsleben» ab 1924 im Alleingang eine publizistische Kampagne eröffnet und durchgezogen, die heute als reformerische Zäsur in der Geschichte der schweizerischen Heimerziehung unbestritten ist. Anwaltschaftliche, sozialkritische Reportagen von Peter Surava bis zu Niklaus Meienberg oder Mariella Mehr haben Missstände öffentlich gemacht und dadurch Debatten und ab und zu Reformen angestossen.

Heute werden die Zeitungen dominiert von der «Spagat-Publizistik» der Forumspresse, die allen etwas bietet und niemandem wehtut. Heutige Bachelor- und Master-JournalstInnen haben als erstes Axiom gelernt: PR und Journalismus sind die beiden Seiten des gleichen Berufs. Axiom 2: Im PR-Bereich verdient man doppelt so viel wie im Journalismus. Axiom 3: Wer längerfristig im Journalismus bleiben möchte, ist selber schuld.

Kritischer Journalismus?

Wer heute als Journalist seine Arbeit aufnimmt, weiss, dass er das in einem kleinen Land tut, das sich zurzeit politisch gegen aussen wieder vermehrt abschottet; in einem Land, in dem über das rechtsnationale Milieu hinaus zunehmend ein Klima der geistigen Enge geschürt wird, – ein Klima, das sich schon nach 1945 als wirksam erwiesen hat, die Spielregeln der illiberalen Berichterstattung auch in Friedenszeiten weiterzuführen. Niemand kann heute von jungen JournalistInnen erwarten, wie die damaligen nonkonformistischen GesinnungstäterInnen für eine liberalere Öffentlichkeit das berufliche Fortkommen zu riskieren.

Kritischer Journalismus? Von den PionierInnen der Arbeiterpresse über Loosli bis zum heutigen WOZ-Kollektiv: Niemand hat je branchenüblich verdient, der sich in den Dienst der Kritik gestellt hat. Wer im Grossraumbüro als Müllschlucker alle paar Monate einmal zu rülpsen wagt, ist deswegen noch kein kritischer Journalist. Journalistisches Ethos ist eine Lebenshaltung und tangiert nicht nur das Handwerk des Profis, sondern auch sein Portemonnaie. So einfach ist das. Und so schwierig.

Als der Schriftsteller Jörg Steiner im November 1967 auf seinen Auftritt als Redner an einer Militärverweigerer-Demonstration angesprochen wurde, hat er geantwortet: «Man bedeutete mir […], dass in der Schweiz jeder sagen dürfe, was er wolle, sofern er in der Lage sei, die materiellen Folgen zu tragen. Das ist eine der eindrücklichsten politischen Lehren, die ich in den letzten Jahren empfangen habe und ich bin auch dankbar dafür.»

Nie wird kritischer Journalismus von einer Chefredaktion verordnet werden. Immer wird man ihn neu erfinden müssen, wenn er stattfinden soll. Aber immer wieder werden Einzelne kommen, die die «materiellen Folgen» ihrer Wortmeldung zu tragen bereit sind. Mehr war da am Anfang nie. Ausser ein weisses Blatt.  

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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