Weil alle es verdient haben

 

Die einen stellen das Haus auf, die anderen bauen es auf. Die einen, Maurer und Poliere zum Beispiel, dürfen früher in Pension. Die anderen, Maler und Dachdecker etwa, müssen immer noch krampfen, bis sie krank werden. Diese Benachteiligung des Baunebengewerbes gegenüber dem Bauhauptgewerbe soll aufgehoben werden. Die Gewerkschaften GBI und Smuv fordern in den kommenden GAV-Verhandlungen des Baunebengewerbes die Frühpensionierung. (Red.)

Im Büro des Berner GBI-Sekretärs Guglielmo Grossi wird politisiert. Er sitzt am kleinen Tisch neben aufgetürmten Stössen von Sichtmäppchen mit den beiden Malern Heinz Brönnimann und Fredy Hadorn. Sie reden über die laufenden Verhandlungen zum Pensionsalter 60 in ihrem Beruf. Grossi hat eben über den Stand den Dinge informiert (siehe Kasten). Jetzt diskutieren sie die Verhandlungsstrategie der Gewerkschaften.

Der Unfall auf der Bockleiter

Seit Mitte der siebziger Jahre arbeiten Hadorn und Brönnimann in den gleichen Unternehmen, zeitweise als Vorarbeiter, zuerst zwanzig Jahre lang für Wasserfallen, Lüthi & Co. Dort war Mitte der neunziger Jahre endgültig fertig: Die Chefs hatten in Liegenschaften investiert und waren – wie viele andere auch – nach dem Platzen der Spekulationsblase abgestürzt. Seit 1995 arbeiten sie beide für die Walter Garbani AG, zurzeit in einem grossen Verwaltungsgebäude an der Monbijoustrasse in Bern.

Dort steht Brönnimann einen Tag nach dem Treffen mit Grossi oben auf der Bockleiter – den Farbkessel am Gelenk eingehängt – und streicht mit der grossen Rolle ein Treppenhaus, als ein Holzholm direkt unterhalb des Gelenks bricht, der eine Leiterteil wegrutscht und Brönnimann auf dem anderem liegend zu Boden knallt. Farbe spritzt herum. Hadorn, der weiter oben arbeitet, ruft, rennt herunter, hilft, Brönnimann, bleich und benommen, kommt langsam wieder auf die Beine. Später hilft der Abwart der Liegenschaften beim Putzen des Bodens und der Arbeitskleider. Tags darauf beim Fototermin klagt Brönnimann über einen Druck im Kopf. Vielleicht eine leichte Gehirnerschütterung. Glück gehabt.

So selten sind solche Zwischenfälle nicht. Hadorn zum Beispiel ist letztes Jahr auf einer Baustelle im Krauchtal in ein ungenügend gesichertes Loch gestürzt. Das eine Bein sank ein, das andere blieb draussen. Der Schlag auf das schräg oben abwinkelnde Knie war hart: Es musste operiert werden. Längere Zeit war er danach arbeitsunfähig.

Hadorn: Das Haus in Gümligen

Fredy Hadorn wird im Dezember 60. Als Jugendlicher war er Fussballer, der die 80 Meter locker unter 10 Sekunden lief. 1959 begann er bei der Gipser- und Malergenossenschaft seine dreieinhalbjährige Stifti: «Ich erinnere mich, dass die Maler damals noch mit der Krawatte zur Büez gekommen sind. Heute steigen sie nach der Arbeit wi dSöiniggle ins Tram.» Seinerzeit hätten sie gar noch Schriften gemalt, heute könne kaum mehr einer richtig tapezieren oder maserieren.

Er besitzt die Hälfte seines Elternhaus in Gümligen; die er mit seiner Freundin bewohnt. Dieses Haus in gutem Zustand zu halten, bezeichnet er als sein Hobby: «Wir sind gopfridstutz nie zu faul gewesen, um zu krüppeln und zu krampfen.»

Nitrodämpfe und Preisdruck

Die Gipser, geben Brönnimann und Hadorn zu, haben die schwerere Arbeit: «Aber wir haben die giftigere.» Zwar sei der Anteil der lösungsmittelhaltigen Farben kleiner geworden. Trotzdem komme es auch heute noch vor, dass man zwischenhinein «e sturmi Bire» habe, sagt Hadorn. Und Brönnimann ergänzt: «Früher sind wir stark konfrontiert gewesen mit den Dämpfen, vor allem, wenn wir in geschlossenen Räumen arbeiten mussten.» Hadorn erinnert sich, dass er einmal beim Ablaugen eines Reservoirbassins in Muri-Gümligen derart «besoffen» gewesen sei, dass er den Arbeitsplatz nicht mehr allein habe verlassen können. Das Einatmen von Nitrodämpfen kann zu Schädigungen der Atemwege, der Nerven und des Gehirns führen.

Ein Hauptproblem für beide ist heute der Arbeitsdruck. «Seinerzeit war man zu zweit oder zu dritt, um eine Arbeit zu machen, die ich heute in der gleichen Zeit allein machen soll», sagt Brönnimann. Der Gesamtpreis, den der Arbeitgeber für einen bestimmten Auftrag aushandelt, rechnet er anschliessend auf profitable Malertage um. Der Preisdruck, mit dem er kämpft, gibt er so als Arbeitsdruck an sein Personal weiter. Gleichzeitig ist seit 1999 die Arbeitszeit flexibilisiert. Zwar gilt laut Gesamtarbeitsvertrag «im Durchschnitt» die 40-Stunden-Woche. Aber die «wöchentliche Höchstarbeitszeit» beträgt 48 Stunden. Heute wird die Rechnung nicht mehr am Schluss gemacht, sondern der Preis am Anfang. Deshalb wird nicht mehr so lange gearbeitet, bis die Arbeit fertig ist, sondern die Arbeit muss so schnell gemacht sein, dass sie rentiert.

Brönnimann: Die «zweite Heimat» auf Gran Canaria

Heinz Brönnimann ist 58 und arbeitet ebenfalls seit der Stifti auf dem Beruf. Dass sich das Gewerbe verändert hat, sagt auch er: «Das, was wir früher gemacht haben, macht heute der Restaurateur. Wir sind fast nur noch Walzenführer, bei uns zählen nur noch die gemachten Meter.»

Er engagiert sich für den Radfahrertouring-Bund und als Vizepräsident des Fussballclubs Ittigen. Gereist ist er immer gern: Jugoslawien, Griechenland, Marokko. Seit einigen Jahren ist ihm Gran Canaria zur «zweiten Heimat» geworden, auch wegen des milden Klimas. Es lindert seine Rücken- und Gelenkbeschwerden, die er sich in all den Jahren auf den zugigen Baustellen geholt hat. Er wohnt mit seiner Freundin zusammen in der Stadt Bern. Heute sagt er: «Vierzig Jahre im Baugewerbe sind genug.»

Die Taube auf dem Dach

Guglielmo Grossi, der GBI-Sekretär, ist als Italiener 1961 in die Schweiz gekommen und hat sich 1999 einbürgern lassen. Heute sitzt er als Mitglied der SP-Fraktion im Berner Stadtparlament. Er hat seinen Kollegen Hadorn und Brönnimann aufmerksam zugehört und den Verhandlungsstand mit den Arbeitgebern von verschiedenen Seiten her kommentiert. Einig werden sich die drei an diesem Abend nicht.

Das Pensionsalter 60 sei die richtige Forderung, sagt Hadorn: «Aber mir wäre der Spatz in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach.» Er liebäugelt mit einer Lösung, wie sie den welschen Kollegen letzthin gelungen ist: Für sie gilt ab Juli 2004 das Pensionsalter 62. Und Brönnimann sagt: «Ich würde nehmen, was der Maler- und Gipsermeisterverband zu geben bereit ist, weiterverhandeln kann man immer.»

Grossi seinerseits bleibt dabei: «In die Minimalvariante einwilligen kann man immer.» Er möchte für die Gewerkschaften ein «ehrenvolles Ergebnis». Hadorn und Brönnimann möchten eines, von dem sie auch noch profitieren.

Wie Heinz Brönnimann und Fredy Hadorn statt pensioniert arbeitslos wurden:«Uns nimmt doch niemand mehr», Work 29. 8. 2008.

[Kasten]

Stand der Verhandlungen

Für die Deutschschweiz, den Tessin und den Jura werden die Verhandlungen um das Pensionsalter im Maler- und Gipsergewerbe zwischen dem Schweizerischen Maler- und Gipserunternehmerverband (SMGV) und den Gewerkschaften GBI und SYNA geführt. Das gewerkschaftliche Ziel: Pensionierung mit 60 Jahren, wie sie das Bauhauptgewerbe im letzten Jahr erstritten hat. Gestützt auf eine Studie der Winterthur-Versicherung ging der SMGV vorerst davon aus, diese Forderung werde 7 bis 10 Lohnprozente kosten. Deshalb machte er ein wesentlich weniger weitgehendes Angebot: frühzeitige Pensionierung für die 63- und 64jährigen, aber keine weiteren Verhandlungen bis 2010. Hintergedanke: Gemäss Artikel 25 des geltenden Gesamtarbeitsvertrags sind die Arbeitgeber ab der Allgemeinverbindlichkeiterklärung verpflichtet, pro ArbeitnehmerIn und Monat 45 Franken an die Vorfinanzierung des «Frühzeitigen Altersrücktritts» zu bezahlen. Dafür haben die ArbeitnehmerInnen ab April 2002 auf eine grössere Lohnerhöhung verzichtet. Dieses SMGV-Angebot wäre für die Arbeitgeber deshalb kostenneutral.

Die Gewerkschaften haben daraufhin gemeinsam mit dem SMGV beim Treuhandbüro Visura eine zweite Studie in Auftrag gegeben. Neues Ergebnis: Die Pensionierung mit 60 könnte im Maler- und Gipsergewerbe mit 4 Lohnprozenten finanziert werden, dazu kämen Beiträge für die Bildung von Reserven. Unterdessen anerkennt der SMGV, dass diese wesentlich niedrigeren Zahlen realistisch sind. Trotzdem wehrt er sich weiterhin. Weil die Kosten zu vier Fünfteln von den Arbeitgebern, und einem Fünftel von den ArbeitnehmerInnen getragen werden sollen, argumentiert er, seine Basis werde diese Lösung nicht akzeptieren. Darüber hinaus gebe es bei den bisherigen Berechnungen zu viele Unbekannte.

Deshalb haben die Gewerkschaften nun einen Kompromissvorschlag ausgearbeitet:

• Auf 1.1.2005 werden die 63- und 64jährigen pensioniert;

• Auf 1.1.2008 werden die 62jährigen pensioniert;

• Im Rahmen der GAV-Verhandlungen von 2007 wird über das weitere Vorgehen bei den 61- und der 60jährigen entschieden.

Ziel sei es, sagt der GBI-Sekretär Guglielmo Grossi, dass die Pensionierung der 60jährigen, spätestens im Jahr 2010, also vier Jahre nach dem Bauhauptgewerbe, erreicht sei. Am 14. Mai gehen die Verhandlungen weiter. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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