W. M. Diggelmanns Hinterlassenschaft

«Wir Schweizer müssen endlich erwachen! Auch wir haben eine unbewältigte Vergangenheit, haben Schmach und Schande auf uns geladen. Es ist Zeit, dass wir damit ins Reine kommen.» So wagten karrierebewusste Linksliberale in diesem Land 1996 zu mahnen. Doch Walter Matthias Diggelmann (1927-1979) hat dies bereits 1965 in seinem Roman «Die Hinterlassenschaft» geschrieben. Die entsprechende Stelle: Mitten in der Wirtsstube redet der junge David Fenigstein auf den feigen Redaktor des Lokalblatts ein, der Wirt versucht Fenigstein hinauswerfen, eine Gruppe betrunkener Jugendlicher mischt sich ein, schüttet dem Redenden Bier ins Gesicht. Dann werden sie handgreiflich. Kurz darauf ist Fenigstein tot. Ein Schläger sagt: «Wenn man schon ein Jude ist, muss man sich anpassen…». Fenigstein ist der Protagonist im Roman «Die Hinterlassenschaft».

Der Eklat der Zertrümmerer

Mitten in der Arbeit an diesem Roman reist Walter Matthias Diggelmann am 12. September 1964 an die Expo, die Landesausstellung in Lausanne. Angesagt ist der «Tag der Schweizer Schriftsteller», am Abend soll sein Einakter «Der Pilot» aufgeführt werden. Beim Mittagessen wird er gefragt, ob er am Nachmittag auftreten wolle – beim Podiumsgespräch unter dem Motto «Schweizer Schriftsteller denken über die Zukunft unseres Landes nach» fehle ein Diskussionsredner. Diggelmann sagt zu, hört sich mit wachsendem Unmut seine Vorredner an, wird langsam wütend über die vaterländischen Salbadereien und macht seinem Ärger Luft: Er finde es indiskutabel, dass dieses Land einerseits zwischen zweihundert und dreihundert Millionen Franken für eine Landesausstellung ausgebe und andererseits jenen fünf AutorInnen, die je einen Einakter geliefert haben, kein Honorar ausrichte. In einem zweiten Votum sagt er, es seien in diesem Land die Institutionen zu zertrümmern, es sei der «Urwald der erstarrten und darum lebensfeindlichen Gewohnheiten zu urbarisieren». Bei mehreren jungen Kollegen findet Diggelmann lautstarke Unterstützung.

Der Expo-Auftritt der jungen, zornigen «Zertrümmerer» ist ein Skandal. Die Schweizerische Politische Korrespondenz fragt sich, «ob die jungen Diskussionsteilnehmer wirklich ‘schweizerische’ Schriftsteller sind oder bloss Schweizer Schriftsteller aufgrund ihres Heimatscheins.» Der Geschichtsprofessor Walther Hofer, Nationalrat der Bauern- Gewerbe- und Bürgerpartei BGB, attackiert in einer Rede «gewisse publizistische und literarische Kreise»: «Hier ist keine Rede von loyaler Opposition. Sie ist vielmehr bösartig, destruktiv, manchmal auch direkt verleumderisch, überheblich.» Im Weiteren, schreiben die «Tages-Nachrichten» am 5. November 1964, habe Hofer von «literarischen Gartenzwergen» gesprochen, ohne Namen zu nennen, «aber jedermann wusste, wer gemeint war: M. Frisch, F. Dürrenmatt, W. M. Diggelmann».

Im Berner «Bund» wettert der konservative Schriftsteller Ernst Eggenberg: «Dem Nullpunktgefasel muss entschieden die konstruktive Tat, das Bekenntnis zu Freiheit, Unabhängigkeit und Treue gegenübergestellt werden, und im künstlerischen Schaffen dem Versuch der Bestand. Der Destruktion, dem Zynismus (…) sei endlich wieder das entgegengestellt, was von Verantwortung gegenüber der menschlichen Gemeinschaft, den geistigen und kulturellen Werten zeugt.» Diese Formulierung nimmt Diggelmann in seiner «Zürcher Woche»-Kolumne «Feststellungen» auf und kommentiert: «Hier wird allerdings nicht nur das Missverständnis sichtbar, sondern auch patriotische Dummheit: im Zeitalter der Kybernetik: Blut und Bodengesinnung.»

Eine Woche später präsentiert Diggelmann an gleicher Stelle den antisemitischen Brief eines Akademikers an ihn, in dem von der «fortschreitenden Verjudung unseres Volkes» die Rede ist. Diggelmanns Antwort gipfelt in den Sätzen: «Jener Sohn Gottes, auf den Sie sich berufen, war genannt König der Juden, und er war Jude und ist als Jude ermordet worden, und jener Gottvater, auf den Sie sich in ebenso monströser Schamlosigkeit berufen wie auf die Eigenarten des Schweizers, war und ist der Gottvater der Juden.» Brief und Replik fügt Diggelmann in «Die Hinterlassenschaft» ein als journalistische Arbeit David Fenigsteins.

Dokument und Fiktion sind ihm zwei Seiten der gleichen Wirklichkeit, wie ihm Autor und Citoyen zwei untrennbare Funktionen der gleichen Person sind. Da gibt es nichts auseinander zu dividieren. Als er am 27. November 1964 im nonkonformistischen Berner Keller «Junkere 37» einen Abend lang mit dem Publikum diskutiert, bekennt er (laut Tonbandaufzeichnung des Abends): «Für mich ist die Zukunft ganz eindeutig sozialistisch und nicht kapitalistisch.» Eine Sentenz, die er in der «Hinterlassenschaft» fast wörtlich zwei verschiedenen Figuren in den Mund legt.

Das Bürgertum schlägt zurück

Als «Die Hinterlassenschaft» im Herbst 1965 erscheint, gibt Diggelmann der nonkonformistischen Zeitschrift «neutralität» ein Interview. Er erzählt, dass der Anstoss für den Roman seine Aufarbeitung des Pogroms von Thalwil gewesen sei: Auf dem Höhepunkt der Massenhysterie im Zusammenhang mit dem Aufstand in Ungarn war es im November 1956 und der folgenden Zeit in Thalwil zu schweren Ausschreitungen gegen den vermeintlichen Chefideologen der Partei der Arbeit, Konrad Farner, und dessen Familie gekommen. «Mich interessierte in der Folge», sagt Diggelmann, «nicht bloss der äussere Ablauf einer solchen Aktion (dieses eigentlichen Pogroms), sondern ich ging darauf aus, die Hintergründe zu entdecken, die Drahtzieher kennen zu lernen.» Seine Erkenntnisse spitzt er in folgender These zu: «Die antikommunistischen Brandstifter von heute sind weitgehend die faschistischen Brandstifter des Antisemitismus der dreissiger Jahre und die sogenannten ‘Vaterländischen’ (lies Anpasser) der vierziger Jahre.»

Diggelmann erfindet einen Plot, der ihm ermöglicht, diese These literarisch zu entwickeln: Der zwanzigjährige David Boller erfährt nach dem Tod des Vaters, eines Kommunisten, dass dieser in Wirklichkeit sein Grossvater gewesen sei und er das Kind von dessen Tochter und des deutschen Juden Reuven Fenigstein. Während er von seinem Grossvater adoptiert wurde, starben die Eltern in einem Konzentrationslager. David Boller macht sich auf die Suche nach den damals Verantwortlichen, gerät als Augenzeuge in das Pogrom von Thalwil, ändert seinen Namen in David Fenigstein und bringt die Zeitschrift «Zukunft» heraus, in der er die Ergebnisse seiner Nachforschungen zu publizieren beginnt. In diesen Plot sind als dokumentarisches Material Zeitungsausschnitte aus den dreissiger Jahren und Auszüge aus Carl Ludwigs Bericht über «Die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1955» montiert, der von den Behörden 1957 weitgehend an der Öffentlichkeit vorbeigeschmuggelt und schubladisiert worden war.

«Die Hinterlassenschaft» wirbelt Staub auf. Jener FDP-Politiker Ernst Bieri, der als NZZ-Redaktor 1956 mit der Veröffentlichung von Konrad Farners Privatadresse das Signal zum Pogrom von Thalwil gegeben hat, kandidiert eben im Herbst 1965 als Stadtpräsident für Zürich. Diggelmanns Buch wird zur Munition der nonkonformistischen Opposition gegen Bieri, die von Max Frisch angeführt wird. Das Bürgertum antwortet mit einer teils skurrilen, teils rufmörderischen Kampagne gegen Diggelmann.

Als Diggelmann am 22. Oktober 1965 erneut in der Berner «Junkere 37» auftreten und mit dem Publikum über sein neues Buch diskutieren will, interveniert am Vormittag desselben Tages die Gewerbepolizei und verlangt von den Veranstaltern mit Verweis auf das «Gesetz über den Warenhandel, das Wandergewerbe und den Marktverkehr» vom 9. Mai 1926, Diggelmann habe für diese Veranstaltung ein «Patent für das Wandergewerbe» zu beantragen. Politisch verantwortlich für die Schikane ist der kantonale Polizeidirektor Robert Bauder, ein Parteikollege  des Zürcher Ernst Bieris. Die Polizei nimmt die Forderung erst zurück, als die Veranstalter versichern, Diggelmann bekomme für den Auftritt weder Honorar noch Reiseentschädigung. Die Episode führt nicht nur zu einer sozialdemokratischen Interpellation im Grossen Rat, sondern zu spöttischen Zeitungsartikeln landauf, landab – sogar der «Spiegel» in Hamburg nimmt sie auf: «Der Veranstalter (…) zahlte dem Schriftsteller dennoch nachträglich zehn Fränkli aus – die Literaten [der ‘Junkere 37’, fl.] wollen sehen, was die Berner Behörden nun gegen den ‘unbequemen Entblösser unbewältigter Schweizer Vergangenheit’ (…) unternehmen werden.»

Literatur ohne Narrenmütze

Bedeutend bösartiger ist kurz darauf die Diffamierung durch den Zürcher Verleger Alfred Rascher. An der Frankfurter Buchmesse 1965 streut er das Gerücht, Diggelmann sei der Letzte, der berechtigt sei, die schweizerische Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs zu kritisieren, nachdem er selber in dieser Zeit bei der Waffen-SS Dienst getan habe. Diggelmann war zwar 1944, mit siebzehn Jahren, nach einem Streit von zu Hause ausgerissen und nach einer Odyssee durch Nazi-Deutschland als Zwangsarbeiter, Flüchtling und Häftling kurz vor Kriegsende in die Schweiz abgeschoben worden – mit der SS hatte er nie etwas zu tun. Raschers Verleumdung ist also frei erfunden. Gleichwohl wird sie in der Presse kolportiert. Diggelmann strengt einen Ehrverletzungsprozess an. Rascher gibt vor der Schlichtungsstelle sofort klein bei. Der im «Volksrecht» vom 15. Dezember 1965 publizierte Widerruf endet mit den Worten: «Er [Rascher, fl.] bedauert, W. M. Diggelmann dadurch in seiner Ehre verletzt zu haben und erteilt ihm volle Satisfaktion.» Aber Diggelmanns Ruf ist kompromittiert.

Dafür wird die Schweiz im Zweiten Weltkrieg immerhin für die Intellektuellen zum Thema: Am 11. März 1966 druckt die «Weltwoche» einen Diskussionsbeitrag ab, den Max Frisch in der «neutralität» bereits im September 1965, noch vor Erscheinen der «Hinterlassenschaft», erstmals veröffentlicht hat. Titel: «Unbewältigte schweizerische Vergangenheit?» These: «Tatsächlich ist meines Wissens wenig erzählt oder geschrieben worden, was als Bewältigung unserer Vergangenheit gewertet werden könnte.» Otto F. Walter antwortet, dann Jean Rodolphe von Salis, dann Peter Bichsel. Dieser verweist auf die eben erschienene «Hinterlassenschaft»: «Dies, um den Namen Diggelmanns ins Gespräch zu bringen, längst schwebt er ja im Hintergrund des Gesprächs mit.» Zwar sei das Buch nach dem Rezept «Verpack es in eine Geschichte» gemacht, aber es «bleibt trotzdem so wichtig, dass ich Diggelmann dafür verehre».

Nun lädt die «Weltwoche» auch Diggelmann zur Stellungnahme ein. Er erklärt, wie es zu seinem Roman gekommen sei: «Ich hatte nicht die Absicht, einen auch nur halbwegs politischen Roman zu schreiben.» Mit den Erfahrungen der Familie Farner in Thalwil sei es vielmehr so gewesen: «Als Bürger dieses Landes ohne antikommunistisches Brett vor dem Kopf, weil jeglichem Absolutismus abhold, will ich alles erfahren. (…) Aber: der Bürger nimmt den Schriftsteller mit. Der Schriftsteller guckt dem Bürger über die Schultern, da dieser unwahrscheinlich anmutende Dokumente (…) studiert. Und es verläuft wie bei einer heimtückischen Krankheit: der Bürger infiziert den Schriftsteller. Ohne dass sich der Schriftsteller dessen zunächst bewusst wird, beschäftigt auch er sich mit dem Fall. Es geht noch weiter: allmählich reisst er den Fall an sich. Eine Geschichte, sagt er sich.» Der Bürger geht in den Schriftsteller, das Dokument in Fiktion, Zeitgeschichte in Literatur über: «Jetzt schaut der Bürger dem Schriftsteller über die Schultern, liest und prüft misstrauisch das Werdende und flüstert dem Schriftsteller ins Ohr: ‘Nun einmal keine Belletristik, wenn ich bitten darf. (…) Zieh diesmal deine Narrenmütze vom Kopf, der literarische Maskenball findet erst nächstes Jahr wieder statt. Jetzt steh dazu. Nicht auf ein neues Auschwitz warten!» So oszilliert Literatur zurück in Zeitgeschichte, Fiktion in Dokument, der Schriftsteller in den Bürger. Diggelmanns Hinweis zur Entstehung der «Hinterlassenschaft» ist eine wichtige ästhetische Stellungnahme für die nonkonformistische Publizistik jener Jahre. Konsequent den dokumentarischen Weg geht übrigens damals Alfred A. Häsler: Im Juli 1967 erscheint seine Sachbuch «Das Boot ist voll… Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933-1945».

Fallstrick des Kalten Kriegs

Das schweizerische Bürgertum allerdings foutiert sich noch weitere dreissig Jahre lang um die «unbewältigte Vergangenheit» und hält die nonkonformistische Männeropposition – es hat kaum öffentlich auftretende Nonkonformistinnen gegeben – mit «Geistiger Landesverteidigung» in Schach. Es sind die Jahre, in denen man zu jedem, der den Mund aufmacht, sagt: Geh doch nach Moskau, wenn’s dir nicht passt. Und es sind die Jahre, in denen man sich als Oppositioneller kaum Fehler erlauben darf.

Diggelmann erlaubt sich einen zu viel: Es geht um eine kaum zehnzeilige Passage, als der Verlag «Volk und Welt» die DDR-Ausgabe der «Hinterlassenschaft» vorbereitet. Die Frau von Alois Hauser (der Konrad Farner zum Vorbild hat), fragt, was sei, wenn es sich in diesen Novembertagen 1956 in Ungarn «gar nicht um eine Linksrevolution» handle. Hauser verweist in seiner Antwort auf die sowjetische Grossmachtpolitik, Russland könne Ungarn als «Aufmarschgebiet westlicher Truppen» so oder so nicht preisgeben. Diese Passage muss raus. Diggelmann gibt nach, vermutlich aus Sympathie für die Lektoren, die unter grossem ideologischem Druck arbeiten, und lässt Hauser antworten: «Was heisst Linksrevolution? Es ist doch ganz klar, dass die alten Faschisten aus ihren Schlupfwinkeln gekrochen sind.» Damit wird der Ungarnaufstand in der «Hinterlassenschaft» zur faschistischen Konterrevolution – das ist die stalinistische Lesart der Ereignisse. Auf Diggelmanns Eingriff in den Wortlaut seines Romans stösst der im Tessin lebende Schriftsteller Hans Habe, ein gebürtiger Ungar. Habe macht Diggelmanns «Sündenfall» öffentlich. Allen voran «Beobachter», «Nebelspalter» und NZZ schreiten daraufhin zur Generalabrechnung.

Diese Geschichte habe Diggelmann in der Schweiz «politisch vollends das Genick» gebrochen, schreibt dessen spätere Lebenspartnerin Klara Obermüller: «Er war von Stund’ an nicht nur als Nestbeschmutzer, sondern auch als ‘Linker’, als «‘Marxist’ und ‘DDR-Sympathisant’ verschrieen und brauchte entsprechend nicht mehr ernst genommen zu werden.» Diggelmann hat danach noch ein halbes Dutzend Romane, verschiedene Erzählungen und mit «Schatten. Tagebuch einer Krankheit», die Geschichte seines Krebsleidens geschrieben. Am 29. November 1979 ist er 52jährig in Zürich gestorben.

Zwanzig Jahre nach dessen Tod Walter Matthias Diggelmann neu zu entdecken, heisst, sich eines zu Unrecht fast schon Vergessenen zu erinnern. Es heisst, dem immerhin mit existentiellen Risiken verbundenen nonkonformistischen Kampf für eine (selbst)kritischere Öffentlichkeit Respekt zu zollen. Und es heisst, sich ein unzeitgemässes Literaturverständnis zu vergegenwärtigen, das die Aussage vor die formale Gestaltung stellt und dessen Leidenschaft jenseits der Sprache dem gesellschaftspolitischen Engagement für eine gerechtere Welt gilt.

Zwischen 2000 und 2006 ist in der Edition 8 in Zürich eine sechsbändige Werkausgabe Diggelmanns erschienen, siehe «Der letzte Liebesdienst»

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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