Utopie? Apokalypse? Freisinn!

Wohl kaum ein Text der Deutschschweizer Literatur zeichnet ein erbaulicheres Bild von «1848» – vom hochsinnigen Denken jener Volksbewegung, die den Bundesstaat Schweiz erkämpft hat –, als Gottfried Kellers 1860 geschriebene Erzählung «Das Fähnlein der sieben Aufrechten». Allerdings hat Keller dieses Bild bereits 1877 selbstkritisch als «antiquiertes Grossvaterstück» bezeichnet, weil «die patriotisch-politische Zufriedenheit, der siegreiche altmodische Freisinn» schnell verschwunden und an seine Stelle «soziales Missbehagen, Eisenbahnmisere, eine endlose Hatz» getreten sei.[1] Im desillusionierten Altersroman «Martin Salander» hat Keller dieses Bild in den 1880er Jahren dann vollends mit den Farben eines düsteren Realismus übermalt.

Trotzdem oder gerade deshalb ist das «Fähnlein» ein wichtiger Text geblieben: Er ruft in Erinnerung, welch grosse Idee hinter der Bundesverfassung gestanden hat, erinnert aber auch an deren Geburtsfehler, der darin bestand, die Freiheitsrechte und die sozialen Rechte nicht zusammengedacht und verschränkt zu haben. Mann war damals, nicht nur im Kreis der sieben Aufrechten, der Meinung, die soziale Frage am Stammtisch mit dem schönen Wort der Freundschaft und zuhause mit einer tüchtigen Frau erledigt zu haben.

Erst wenn man diesen «Freisinn» von 1848 in den Blick nimmt, versteht man, warum seither Autoren oft scharf formulieren, wenn sie das Tun und Lassen der real existierenden schweizerischen Freisinnigen ihrer Zeit kritisieren. Als C. A. Loosli zum Beispiel 1917 «De[m] Niedergang des Freisinnes in der Schweiz» eine zehnteilige Zeitungsserie widmete, eröffnete er sie mit dem lakonischen Satz: «In den folgenden Ausführungen, in der Form eines raschen Überblickes, versuche ich nachzuweisen, wie und aus welchen Gründen der schweizerische Freisinn, der einst eine geschichtliche und politische Kraft bedeutete, der eine neue Schweiz gebar und die Volksbereitschaft in der Deutschschweiz zu neuem Leben erweckte, auf die Stufe einer veralteten, kraftlosen und ein wenig lächerlichen politischen Lehre herabgesunken ist.» [2]

*

1989 hat Urs Widmer das «Fähnlein» im Berliner Verlag Klaus Wagenbach neu herausgebracht und mit einem einführenden Essay unter den Titel «Geschichten aus einem anderen Land» ergänzt. In der Tradition einer Geschichtsschreibung gegen den Strich, zu der nach 1968 verschiedene Deutschschweizer Autoren Beiträge geliefert haben (Max Frisch: «Wilhelm Tell für die Schule», Otto Marchi: «Schweizer Geschichte für Ketzer» u.a.), skizziert Widmer, wie es 1848 zu diesem «wundersamen Sieg der Demokratie» gekommen ist und wie das «Fähnlein» – «rittlings zwischen den Zeiten» – seine Wirkung entfaltete. Er zeigt aber auch, warum sich «die schmerzende Erkenntnis» schnell durchgesetzt habe, «dass diese herrliche Demokratie viele Ungerechtigkeiten überhaupt nicht abschaffte, sondern sogar – ihre schönsten Vorteile nutzend – eine dem geldgierigsten Kapitalismus besonders günstige Staatsform war.» (Keller, S. 113)

Widmers Essay schliesst mit einem Hinweis auf die damals aktuelle Affäre um die freisinnige Bundesrätin Elisabeth Kopp, die über die «dubiose[n] Finanzaffären» ihres eigenen Ehemannes stolperte. Die freisinnige Utopie von 1848 sei unterdessen zu einem System verkommen, schrieb er, in dem hinter «einer[r] Art spanischen Wand, […] die wenigen mit dem vielen Geld tun, was sie wollen.» Und ohne die Neue Weltordnung der eben heraufkommenden Globalisierung bereits ganz erkennen zu können, fügte er bei, die Demokratie der herrschenden Geldwirtschaft funktioniere nur dann, «wenn die Freiheiten der Demokratie mit denen des Marktes gleich werden». (171 f.)

*

Nun ist – als originelles Buch – Keller «Fähnlein» samt Widmers Essay im Rotpunktverlag erneut erschienen, diesmal ergänzt um eine 2015 geschriebene Erzählung von Guy Krneta unter dem Titel «Schneidermeister Hedigers Erben». Krneta hat sich inspirieren lassen von den fünfundzwanzig Foliobänden des «Schweizerischen Republikaners» in Schneidermeister Hedigers «wohlaufgeräumte[m] Hinterstübchen», die Gottfried Keller zur Charakterisierung seines Protagonisten gleich auf der ersten Seite des «Fähnleins» hinstellt. (S. 11 f.)

Krnetas Erzählung setzt «kurz nach der Jahrtausendwende» ein (S. 179), der «Republikaner» ist unterdessen zum Medienkonzern geworden, und der Autor schöpft – als medienpolitischer Aktivist, der mit anderen seit Jahren in Basel der Blocher-BaZ das Leben schwer macht – aus dem Vollen. Halb erkennt man im «Republikaner» die heutige NZZ, halb die BaZ, auftretende Figuren tragen Züge von Tito Tettamanti, Christoph Blocher oder Markus Somm. Die Geschichte wirft ein Schlaglicht auf die heutige Funktionsweise schweizerischer Medienkonzerne im Spannungsfeld zwischen freisinnig marktreligiöser Geldmacherei (gute Publizistik ist die, die sich gut verkauft) und rechtspopulistischer Medienpolitik (gute Publizistik ist die, die in Richtung unsozialer, nationalistischer Isolation manipuliert).

Keller liess seinen Hediger noch sagen: «Glücklicherweise gibt es bei uns keine ungeheuer reichen Leute, der Wohlstand ist ziemlich verteilt; lass aber einmal Kerle mit vielen Millionen entstehen, die politische Herrschsucht besitzen, und du wirst sehen, was die für einen Unfug treiben!» (S. 46). Krneta schildert nun am Beispiel eines Medienkonzerns, welchen Unfug politisch herrschsüchtige Geldmenschen heute treiben, dabei routinemässig ihre Todschlägerbegriffe Selbstbestimmung und Eigenverantwortung dozieren und – so der Milliardär der Erzählung – bei Gelegenheit sogar Gottfried Kellers «Fähnlein» zitieren: «Keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustür zu treten und nachzusehen, was es ist.» (S. 13 und 199)

*

Der Zufall wollte es, dass mir nach dieser «literarischen Schweizer Geschichte in drei Stücken» (so die «Vorbemerkung» des Rotpunktverlags), ein Buch der Journalistin Diana Johnstone über die US-amerikanische Präsidentschaftkandidatin Hillary Clinton in die Hände kam [3]. Das Buch ist eine ideologiekritische Lehrstunde, und ich konnte mich nicht dagegen wehren, die kritisierte Ideologie trotz Unvereinbarem ein Stück weit als eine in die Weltpolitik unserer Tage projizierte freisinnige zu verstehen, an der sich in Gottfried Kellers Worten zeigt, zu welchem Unfug Geldmenschen fähig sind, wenn sich «anderwärts […] grosse Massen Geldes zusammenhängen»: «Dann wird es gelten, dem Teufel die Zähne zu weisen.» (Keller, S. 47)

Johnstones Analyse: Die USA ist eine von «‘Wirtschaftseliten’ geführte ‘Oligarchie’», dominiert vom Militärisch-Industriellen Komplex (Johnstone, S. 27 ff.). Der aktuelle Wahlkampf wird auf Seiten der Demokraten und der Republikaner gleichermassen von Milliardären finanziert, die auch an diesem Komplex verdienen und deshalb interessiert sind an der Weiterführung unprovozierter Aggressionskriege, die die USA seit langem kontinuierlich führt. Clinton ist die «Lieblingskandidatin der Kriegspartei» (S. 238), weil sie sich als kriegstreibende Aussenministerin unter Barack Obama bewährt hat. Ohne wissen zu können, dass Donald Trump republikanischer Kandidat werden würde, schrieb Johnstone im auf Englisch 2015 erschienenen Buch: «Da die Kriegspartei beide Zweige des Zweiparteiensystems dominiert, lässt die Erfahrung der letzten Jahre darauf schliessen, dass die Republikaner einen Kandidaten nominieren, der so schlimm ist, dass Hillary Clinton sich neben ihm gut ausmacht.» (S. 241)

Vor dieser Schlussfolgerung zeigt die Autorin anhand der Kriege im Kosovo, in Libyen, in Syrien und in der Ukraine kenntnis- und quellenreich, wie die Globalisierung als «Amerikanisierung der ganzen Welt» (S. 47) ideologisch vorbereitet und militärisch durchgesetzt wird. Und zwar so: Die Machtstruktur ist unipolar, ein Teil der Welt hat’s nur noch nicht begriffen. Geltende Werte sind «Demokratie», «Freiheit» und «Menschenrechte» im Sinn und im Interesse der USA. Das heisst: Wen die USA aus dem Weg geräumt haben will (z. B. Milošević, Saddam Hussein, Gaddafi oder, wie es zunehmend scheint, Putin) wird als «Diktator» denunziert, der – ganz egal, was er im einzelnen getan hat – eliminiert werden muss. Wen die USA im Sinn ihrer Interessen umgekehrt als nützlich erachtet, ist ein Kämpfer für Freiheit und Menschenrechte und gehört an die Macht (z. B. der UÇK-Kommandeur Hasim Thaçi, der in Kosovo für den Handel mit Organen von Kriegsgefangenen verantwortlich sein soll oder rechtsextreme Gruppierungen, die in der Westukraine Massenmorde begangen haben). Dabei geht es nicht primär darum, Kriege zu gewinnen, sondern die Länder soweit ins Chaos zu stürzen, dass sie – auch wenn sie für die Strategie des Hegemons nicht instrumentalisiert werden könnten, doch vorderhand keinen strategischen Nutzen mehr haben für jene, die die unipolare Weltordnung noch nicht begriffen haben.

Für diese Weltsicht ist Hillary Clinton die bestmögliche nächste Präsidentin der USA.

*

Und Europa? Johnstone zitiert den einflussreichen US-amerikanischen Politikwissenschaftler Zbigniew Brzeziński, für den es «drei grosse Imperative imperialer Geostrategie» gibt: «Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen und dafür zu sorgen, dass die ‘Barbaren’-Völker sich nicht zusammenschliessen.» (S. 177) Zum Beispiel geht es also darum, die 28 Länder der Europäischen Union als «Vasallen» und «Tributpflichtige» abhängig, gehorsam und geschützt von der NATO «in einem Zustand der permanenten Unentschlossenheit» zu halten und zu verhindern, dass es auf dem eurasischen Kontinent zu einem friedlichen und prosperierenden Zusammenleben zwischen Europa und Russland kommen könnte. (S. 178)

Und was die europäische Linke betrifft: Sie ist besiegt und hat vom Imperium den «Trostpreis» zugesprochen bekommen, moralisch skandalisierend «die ideologische Hegemonie im emotionalen Bereich der menschlichen Beziehungen, besonders dem der ‘Menschenrechte’» mit den «Konzepten Multikulturalismus, Sorge um Minderheiten und Antirassismus» zu hegen und zu pflegen (S. 58). Statt für den Klassenkampf ist man nun für eine möglichst ausdifferenzierte Identitätenpflege zuständig. So produziert die linke Sittenpolizei in Europa für sich ein gutes Gewissen und für den Hegemon die empirische Basis, auf der er bei Bedarf einen missliebigen Staatschef als «Diktator» zum Abschluss freigeben kann – von Fall zu Fall mit dem Applaus von «Amnesty international» und «avaaz» (S. 116 f).

Nach der Lektüre dieses Buches habe ich Grund zu schweigen, wenn tischauf, tischab zum besten gegeben wird, selbstverständlich würde man, wäre man US-AmerikanerIn, Clinton wählen, schon nur, um diesen furchtbaren Trump zu verhindern.

*

Der Zufall wollte es, dass mir nach dieser Lektüre ein Buch der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, ihre «politische Utopie» über die «Europäische RePublik», in die Hände kam [4]. Die Sache ist die: «Die EU ist kaputt. Europa indes bleibt eine Aufgabe» (Guérot, S. 13). Diese Situation habe dazu geführt, dass immer mehr Leute sagten: «Europa ja, EU nein.» (S. 24) Kaputt sei die EU, weil «das Politische schlechthin» verloren gegangen und weil «die Emanzipation Europas von den USA nicht gelungen» sei (S. 26). Der «Bruch mit der Dominanz des (US)-Finanz-Kapitalismus» (S. 210) und «die Emanzipation Europas von den USA» gehörten «zu den Denkaufgaben der nächsten Jahrzehnte» (S. 206).

Detailliert schildert Guérot vorab in fünf Kapiteln «das europäische Malaise» (S. 24 ff.), bevor sie in einem ideengeschichtlichen Exkurs Entwicklungslinien des liberalen Staats- resp. Republik-Begriffs entfaltet. Im Anschluss an den US-amerikanischen Freiheitsbegriff gehe es immer mehr um «Macht, Markt und Geld» (S.19).  Heute seien die europäischen BürgerInnen bloss noch ein Anhängsel des EU-Binnenmarktes (S. 185): «Am unteren Ende der Gesellschaft sind die Menschen heute eigentlich nur noch frei zu scheitern, weil sie von der Gesellschaft keine soziale Einbettung mehr erfahren, dann aber selbst dafür verantwortlich sind, denn sie hätten ja im Sinn formaler Freiheit prinzipiell alles machen, erreichen und tun können.» (S. 102 f.) Und wie die Freiheit am oberen Ende der Gesellschaft funktioniert, handelt sie lakonisch ab: «Hier ist nicht der Ort, die geballte kriminelle Energie der jüngsten Finanzmarktparty nachzuzeichnen» (S. 104)

Gegen diese «Freiheit vom Staat» stellt Guérot auf der Linie der französischen Diskussion um republikanische Werte einen Begriff, der Freiheit und Gleichheit nicht in Opposition, sondern als gegenseitige Bedingung versteht: Es geht um Étienne Balibars «Égaliberté», zu Deutsch «Gleichfreiheit». Die Idee hinter dem Begriff geht auf Rousseau zurück, der zwar keine in einem sozialistischen Sinn egalitäre Gleichheit gefordert hat, aber doch eine, die garantiert, dass keine derart Reichen entstünden, «dass sie sich andere Bürger ‘kaufen’ können, und keiner so arm sein darf, dass er sich ‘verkaufen’ muss». (S. 97) Zusammenfassend notiert sie fürs freisinnige Parteibüchlein: «Freiheit durch Recht, nicht Freiheit vom Recht, immer wieder ist dies die zentrale Stellschraube zwischen einem republikanisch verstandenen Liberalismus und einem funktional entkernten Liberalismusbegriff». (S. 103) Der Neoliberalismus sei zu entlarven «als Totengräber einer wirklich authentisch liberalen Gesellschaft» (S. 253).

*

An diesem Punkt steigt die Wissenschaftlerin allerdings nicht überlegen lächelnd vom Katheder, sondern macht sich im zweiten Teil des Buches angreifbar, indem sie eine Utopie zur Überwindung der heutigen «postdemokratischen EU» entwirft. Grundsätzlich geht es ihr um die Repolitisierung des europäischen Raums, und zwar so: «Die Konstruktion der Europäischen RePublik vollzieht sich […] durch die Dekonstruktion der europäischen Nationalstaaten und die Föderation der Regionen Europas» (S. 153 f.), wobei die «optimale staatliche ‘Betriebsgrösse’» der «Provinzen», die als neue politische Einheiten die Nationalstaaten ablösen, bei 7 bis 15 Millionen EinwohnerInnen liegt – die Schweiz wäre demnach eine ideale Provinz (S. 152). Die Legislative der RePubik besteht aus zwei Kammern – einem Senat (2 Senatoren pro Provinz) und einem Repräsentantenhaus (gewählt nach dem Prinzip one man, one vote). Die Exekutive bildet ein Präsident, der von allen europäischen BürgerInnen gemeinsam gewählt wird {S. 150). Leisten soll diese Republik, «europaweit gesellschaftliche Präferenzen zwischen kulturell unterschiedlichen europäischen Provinzen auszutarieren – anstatt obskure nationale Interessen geltend zu machen», wie dies heute in der EU geschehe (S. 161).

Das Pièce der résistance, an dem sich Guérot abarbeitet, ist «die wirtschaftliche Neuordnung Europas» (S. 172 ff): Sie schlägt eine «Europäische digitale Manufaktur  als Antipode zur ruinösen Globalisierung» vor mit staatlich finanzierten Bereichen öffentlicher Aufgaben, weil es bei Infrastruktur, Netzen, Krankenhäusern oder Schulen in einer gemeinwohlorientierten Republik keinen Platz für den Markt gebe (S. 205) Zentral für diese Manufaktur wären im Zug der Repolitisierung Europas Gemeinwohlbindung, soziale Kontrolle der Wirtschaft und Berücksichtigung des ländlichen Raums (S. 172 f.), also «eine Dezentralisierung und Regionalisierung der Produktion», was eine «territoriale Neuordnung» Europas unumgänglich mache (S. 191). Dies wiederum bedinge, dass «Nationalstaat und nationale Industriekonzentration […] zusammen dekonstruiert werden» müssen (S. 192).

Drunter macht’s Frau Guérot nicht, weil es letztlich darum gehe, dass Europa vorangehe auf der Suche nach einem «Ausweg aus der systemisch verursachten Vernichtung von Mutter Erde», die der Mensch im Anthropozän in Gang gesetzt hat (S. 193). Wenn Europa aber die Europäische RePublik realisiere, könne dieser Kontinent «zur Avantgarde für eine zukünftige Weltregierung» werden (S. 196).

Nach der Skizzierung ihrer Utopie kommt Guérot auf den altgriechischen Mythos zu sprechen, auf Zeus, der sich in einen weissen Stier verwandelt, um Europa, die Tochter des phönizischen Herrschers Agenor, zu erobern. Heute gehe es darum, so Guérot, diesen Stier, der die Europa verführt, um sie entführen und vergewaltigen zu können, zu kastrieren (S. 226) und Europa als Frau, als «la sinistra, das Weibliche, die Mondseite, die linke, die soziale Seite […] in die heutige europäische Lebenswelt» zu integrieren (S. 234).

Als «historisches Subjekt» (S. 232) sieht Guérot die Jugend, die sich nicht mehr für die EU interessiert, sondern an «einer[r] grosse[n], transnationale[n] europäische[n] Emanzipationsbewegung» arbeitet; «von unten, postnational, eingebettet in einen mehr oder weniger radikal anderen Lebensentwurf» (S. 230 f.). Allerdings spricht sie von einem kleineren, bildungspriviliegierten Teil der europäischen Jugend. Es geht «ein tiefer Riss durch die nächste Generation»: Die massenhaften jugendlichen Globalisierungsverlierer in Europa träumen nicht von einer europäischen Republik, sondern schliessen sich populistischen Bewegungen an (S. 236 f.), wobei sie ein «vorrevolutionäre[s] populistische[s] Potential auf der Rechten wie Linken» und eine «‘Weimarisierung’ Europas» konstatiert (S. 50).

Terminlich sieht es so aus: Am 8. Mai 2045 wird diese RePublik von einer gesetzgebenden Versammlung mit einem europäischen Contrat social konstituiert (S. 118). Klar ist von einer Utopie die Rede, aber für mich ist dieses Datum sogar als unverbesserlicher Schweizer ein Grund, 91 zu werden: Mit eigenen Augen zu sehen, dass die real existierenden europäischen Liberalen die Europäische RePublik realisieren helfen und die real existierenden US-amerikanischen Liberalen dies zulassen, dafür würde ich glatt 100 werden wollen.

*

Und klar hoffe ich, dass sich der Nationalstaat Schweiz auf diesen Zeitpunkt hin auflöst, um als Provinz der Europäischen RePublik beizutreten – ganz im Sinn des geschäftstüchtigen Zimmermeisters Daniel Frymann in Kellers «Fähnlein». Frymann sagt am Stammtisch der sieben Aufrechten einmal, in beschaulicher Stunde fasse er ab und zu «das sichere Ende seines Vaterlandes ins Auge»: «Ein Volk, welches weiss, dass es einst nicht mehr sein wird, nützt seine Tage um so lebendiger […]; denn es wird sich keine Ruhe gönnen, bis es die Fähigkeiten, die in ihm liegen, ans Licht und zur Geltung gebracht hat, gleich einem rastlosen Manne, der sein Haus bestellt, ehe denn er dahinscheidet. […] Ist die Aufgabe eines Volkes gelöst, so kommt es auf einige Tage längerer oder kürzerer Dauer nicht mehr an, neue Erscheinungen harren schon an der Pforte ihrer Zeit!» (Keller, S. 34 f.)

Ich weiss mich mit Meister Frymann einig, wenn ich sage: Lösen wir jetzt – wenn nötig gegen die real existierenden Freisinnigen – unsere Aufgaben. Der 8. Mai 2045 wartet nicht. (La Fornace, Bucine, 3.-17.9.2016)

[1] Gottfried Keller: Das Fähnlein der sieben Aufrechten, gelesen von Urs Widmer, wiedergelesen von Guy Krneta. Zürich (Rotpunktverlag) 2015, S. 110.

[2] C. A. Loosli: Der Niedergang des Freisinnes in der Schweiz, in: C. A. Loosli: Bümpliz und die Welt. Gesammelte Werke Band 5. Zürich (Rotpunktverlag) 2009, S. 318 ff.

[3] Diana Johnstone: Die Chaos-Königin. Hillary Clinton und die Aussenpolitik der selbsternannten Weltmacht. Frankfurt am Main (Westend Verlag GmbH) 2016.

[4] Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie. Bonn (Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH) 2016.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5