Tödlicher Schuss im Gemälde

Es ist die Zeit nach dem 11. September 2001. Plötzlich wird die Selbstverständlichkeit, als die die Wirklichkeit gewöhnlich erscheint, unterspült und überschwemmt von Ängsten und Verschwörungstheorien, von zwanghaften Vermutungen und paranoiden Spekulationen: Der Barfüssige mitten im Winter im Tram mutiert im Kopf des Erzählers vom Friedensapostel zum fanatischen Taliban in Osama Bin Ladens Diensten. Ein Bekannter aus der Bar ist davon überzeugt, die bei einem Unfall umgekommene Bekannte sei seine eigene Freundin gewesen – und stürzt ab. Der Blumenverkäufer im Spital wird zum Organhändler und zum «Herrscher über Menschenschicksale», der es auf das Herz des Erzählers abgesehen hat.

In seinem neuen Buch «Der Nachlass des Buchhalters» belegt H. U. Müller in elf Erzählungen die These, die er einer seiner Figuren in den Mund legt: dass nämlich jeder «seine eigene Methode» habe, «mit der Wirklichkeit umzugehen».  Der psychiatrieerfahrene Schriftsteller Müller zeigt verschiedene dieser Methoden – keine nimmt den Ereignissen das Bedrohliche durch beruhigende Erklärungen. Da entwickelt zum Beispiel einer die zwanghafte Idee, so lange in einer bestimmten Bar zu sitzen und zu beobachten, bis sich jene Personenkonstellation einstellen würde, die auf dem Gemälde «Nighthawks» von Edward Hopper zu sehen ist. Endlich gelingts: Der Zwang löst sich, er zieht einen Revolver, schiesst durch die geschlossene Tür der Bar und tötet einen Mann, der eben das Lokal betreten will. Später, im Gefängnis, ist der Schütze überzeugt, dass er mit der Waffe niemanden getroffen haben kann, weil es die Figur des Opfers auf Hoppers Gemälde nicht gibt. Demzufolge kann es auch keinen Toten und keinen Täter geben.

Wenn die Pappkulissen wegkippen

Diesem Absinken in den Wahn steht in der Story «Spätvorstellung» das allmähliche Auftauchen aus dem Wahn gegenüber: Ein Kinofreak schaut sich immer wieder einen drittklassigen Italowestern an, um aus dem «Showdown», in dem das Gute mit «fünf Mal päng» über das Böse siegt, «einen tüchtigen Schuss Lebenskraft» zu schöpfen. Erst als er ins Tränengas einer Demonstration gerät, bricht seine wahnhafte Parallelwelt ein. Die quälende Vision eines Mannes, der einen jugendlichen Junkie zusammenschlägt, wird ihm als reale Erinnerung verständlich, und er kann sich auf die Suche nach seinem verlorenen Sohn machen.

Mit seinen Kurzgeschichten hat Müller nicht nur formal, sondern auch inhaltlich Neuland betreten. Auf höchst spannende Art problematisiert er das, was er in seinen bisherigen Büchern erarbeitet hat. Nach der grossen Trilogie «Der Ausgerissene» (1984), «Der Entfesselte» (1986) und «Der Unvergleichliche» (1988), die die Rekonstruktion des Ichs eines «Seelenzuchthäuslers» dokumentierte, beschwor er mit dem Bericht «Eldorado-City» (1992) und dem Roman «Stadt ohne Echo» (2000) in starken Bildern und Geschichten den Lebensraum der Stadt.

Nach diesen Entfaltungen von innerer und äusserer Welt, nähert sich Müller in den Storys von einer neuen Seite dem Beängstigenden und Abgründigen, das die Wirklichkeit an ihren Rändern ist. Freilich geht es diesmal nicht mehr – wie in der Trilogie – um die Anatomie einer individuellen psychischen Krise, sondern um die Beschwörung einer gesellschaftlichen Realität: Wie Pappkulissen sind am 11. September 2001 plötzlich die Sicherheiten und Gewissheiten weggekippt, die man für Fundamente einer unveränderlichen Wirklichkeit hielt.

In Müllers locker erzählten Geschichten ist es möglich ­ – etwa wenn der Bus-Chauffeur Otto zur Amokfahrt durchstartet –, dass schliesslich nichts passiert; oder es ist möglich, dass wegen nichts etwas passiert – etwa wenn ein Pädophiler sich wegen eines Bluffs den Fuss amputieren lässt. So oder so zeichnet Müller Bilder von einem Bewusstsein davon, dass das Unvorstellbare wahrscheinlich schon passiert ist und wir zunehmend unter Druck geraten zu reagieren, bevor wir wissen können worauf.

H. U. Müller: Der Nachlass des Buchhalters. 11 Stories, Zürich (WOA Verlag) 2003. 

In der WOZ erschien der Text unter dem Titel «Weggekippte Gewissheiten». – Zu H. U. Müller siehe «Realität statt Milch und Honig». In der Anmerkung am Schluss jenes Textes führen Links zu Rezensionen von Müllers weiteren Büchern.

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