Ich bin im letzten Monat sechzig geworden und verzog mich in den Tagen um den Geburtstag, weil ich meine Ruhe haben wollte, ins Bad Ramsach. Dieses Bad im oberen Baselbiet gehört zur Gemeinde Läufelfingen und ich kenne es, seit ich vor vierzig Jahren, im Frühling 1974, im Schulhaus dieses Dorfs meine erste Lehrerstelle angetreten habe, die meine letzte werden sollte. Geht man auf der Strasse Richtung Bad Ramsach bergwärts, kommt man nach dem Schulhaus einige Schritte weiter oben an der Kirche vorbei und überblickt gleich dahinter linkerhand das Gräberfeld des Friedhofs. Jedes Mal, wenn ich hier vorbeikomme, blicke ich hinüber und denke an die damaligen Lehrerkollegen, die drüben liegen, insbesondere an den Oberlehrer Hans Itin, der mich damals gefördert hat.
Blicke ich über jenen Friedhof, denke ich aber jedesmal auch an den Kollegen B., den ich – das entnehme ich meinem Tagebucheintrag vom 13. Mai 1974 – zwei, drei Mal gesehen und ein einziges Mal gesprochen habe. Erinnerung an ihn habe ich keine mehr. Ich arbeitete damals kaum eine Woche, als es im Lehrerzimmer hiess, B. falle für längere Zeit aus, weil er einen Herzinfarkt erlitten habe. Kurz darauf ist er im Kantonsspital Liestal gestorben. Am 15. Mai nahm ich an der Beerdigung teil und notierte danach:
«Strahlender Maifrühnachmittag. Eine Strasse voller dunkler Kleider, die die Wärme anziehen. Warten auf den Umzug, an dem sämtliche lokale Ränge und Namen sich beteiligen. Sein Beginn: kranztragende Kinder, Blechmusik mit Trauermarsch (dieser resonanzlose Lärm, als sie an mir vorbeigehen), kranzgeschmückter Leichenwagen, vorgespannt sabbernder Kaltblüter, im Schlepptau die würdevoll-versteinerten Gesichter der Angehörigen, gefolgt von der zweihundertköpfigen ‘Trauergemeinde’, die sich desto ungestörter unterhält, je weiter sie vom trauerheischenden Geschehen entfernt ist. Auf dem Friedhof: Sanfter Wind vom Hauenstein – dieses schöne Wetter – unübersehbar: herumstehende ‘Trauernde’ und herübergewehte Monologfetzen des Pfarrers vor dem offenen Grab, das man links von der einsatzbereiten Blechmusik ahnen kann. Abdankung in einer übervollen Kirche, wann waren es das letzte Mal soviele in den heiligen Hallen? Bei welcher Beerdigung? Abdankungsredelauschend zwei Meter innerhalb der Kirchentür stehend zwischen gestreckten Hälsen eingeklemmt. Naheliegender Vergleich mit Pestalozzi wird gezogen, im Sinn von: Jeder Pädagoge hat etwas Pestalozzihaftes, vorallem ebenverstorbene. Liedervorträge: Schulkinder, Frauenchor (ach du Schreck), gemischter Chor. Danach Orgel und Geige (klingt nach gezwungenem Schulkind, seine Künste vor versammelter Gemeinde unter Beweis stellen müssend, D-Saite Viertelton zu tief). Letztes Amen, letztes Lied, zum Ausgang gedrängt hat sich’s ausgetrauert. Verweinte Angehörige drängen sich durch glotzende Menge; ich verziehe mich, den sonnigen Nachmittag zu geniessen.»
Dass mich der Tod dieses Kollegen B. damals mehr betroffen machte, als diese Zeilen ahnen lassen, hat einen Grund, über den ich bis heute ab und zu nachdenke. Im Lehrerseminar Langenthal, wo ich in diesem Frühling 1974 meine Ausbildung abgeschlossen hatte, machte ich, wie andere auch, in Stil der bewunderten Berner «Troubadours» um Mani Matter Chansons, die ich ab und zu, bei passenden und unpassenden Gelegenheiten, vortrug.
In den dreiwöchigen Frühlingsferien, die zwischen dem Abschluss der Seminarausbildung und dem Stellenantritt in Läufelfingen lagen, habe ich zwei Dinge gemacht, die den Tod von B. einen Monat später bis heute in ein merkwürdiges Licht rücken. Zum einen habe ich ein Chanson mit dem Titel «Uf e Lehrer Amtma» geschrieben; das Lied eines Dörflers, der abends am Stammtisch von der Beerdigung des Lehrers Amtmann erzählt, die gleichentags stattgefunden hat. Zum anderen hat mich – laut Tagebucheintrag am 14. April 1974 – mein Bruder Andreas, der ein Revox-Spulengerät und ein Mikrofon besass, dabei unterstützt, meine gesammelten Chansons akustisch zu verewigen – unter anderen eben «Uf e Lehrer Amtma».
Als ich am 15. Mai an B.’s Beerdigung teilnahm, hatte ich in mir das eben einstudierte Chanson auf Abruf bereit und hätte es im Prinzip in der Kirche von Läufelfingen problemlos vortragen können. Allerdings wäre ich damals vor Scham lieber im Boden versunken, als an so etwas auch nur zu denken. Ich habe das Lied danach überhaupt nie vorgetragen und stattdessen kurz darauf die Klampfe endgültig weggelegt. Aber ich habe den «Lehrer Amtma» damals als Mahnung mit mir herumgetragen: Lass dich nicht reinziehen, sonst endest du als Lehrer Amtmann. Ein gutes Jahr später habe ich die Stelle gekündigt und bin nach Basel gezogen, um Musik zu studieren.
Letzthin bin ich nun als Sechzigjähriger wieder einmal an der Kirche von Läufelfingen vorbeigekommen und mir ging durch den Kopf, dass Kollege B. wohl etwa drei-, vierundsechzig geworden sein wird. Seit damals habe ich von Berufs wegen viele Veranstaltungen besucht, bin in vielen Kirchen gestanden, um zuzuhören, in geistlichen und in säkularen. Und immer ist weit vorn einer gestanden, der wusste, wie es ist und dafür bezahlt wurde zu sagen, dass alles besser wäre, wenn es so wäre, wie er sagt. Seit B.’s Begräbnis ist mir dies geblieben: Ich habe immer geschaut, dass ich beim Zuhören hinten stehe, am liebsten zwei Meter neben der Kirchentüre. Damit ich die Sonne nicht verpasse, wenn sie draussen plötzlich zu scheinen beginnt. (1.5.2014)