Staatsbürgerkunde bei der Zofingia

 

«Silentium corona!», ruft der Präsident. Ein letzter Bierflaschenpfropfen fliegt knallend unter die Decke, dann wird es still. Durch das offenen Fenster des «Zofingia»-Hauses an der Alpeneggstrasse tönen durch den Lärm von Berns Abendverkehr für einen Augenblick von der Reitschule herauf Trommeln: rhythmisch und dumpf eine grosse, in hellen Wirbeln dazwischen eine kleinere.

Der Präsident – auf dem Kopf eine flache Schirmmütze, die «casquette», und über der rechten Schulter das «couleur», eine rot-weiss-rote Schärpe – begrüsst Aktive und Altherren (Peter Sager und Jean Ziegler fehlen heute) inklusive die holden Begleitungen (nicht verbindungsfähig). Das Thema ist ernst, die Tradition der «Zofingia» jedoch seit der Abspaltung der «Helvetia» anno 1834 nicht-(mehr)-schlagend. Deshalb wird heute diskutiert, und zwar über die beiden Volksinitiativen, die in kaum einem Monat die Schweizerarmee ins Herz treffen wollen.

Auf dem Podium sitzen die Diskutanten. Von links, für die Armee: Ulrich Zimmerli, Ständerat der SVP, jovial professoral, ein wenig müde und zunehmend reizbar; Andreas Kägi von der hiesigen Offiziersgesellschaft, nonchalanter Pfeifenraucher, der seine Argumente in einem blauen Bundesordner mitgebracht hat. Gegen die Armee: Peter Vollmer, SP-Nationalrat, gestenreich im Dienst der Sache, mit obligater Fliege (schwarz); Nico Lutz, GSoAt, Mitglied des «STOP-F/A-18-Initiativkomitees», jugendlicher Volkstribun, sattelfest und redegewandt. Der Präsident geht ab. Applaus.

Der Moderator, «Bund»-Redaktor Michael Schorer, ein «Zofingia»-Altherr, weiss, was sich gehört und lädt den bernischen Ständeherrn gleich zu Beginn zur Kür: Ob man – gewitzigt durch die Volksrentitenz gegen F/A-18-Kampflugzeuge und den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen – Initiativen mit Rückwirkungsklauseln nicht verbieten sollte? Zimmerli, Staatsrechtsprofessor an der Uni Bern, turnt vor seinen Studis einige elegante Pirouetten (seine Haltung kennt man aus der Ständeratsdebatte): Ja, man sollte allerdings. Da meldet sich der freche Lutz und sagt, bei Initiativen gehe es nicht um staatsrechtliche Spitzfindigkeiten, sondern um die Frage: «Wer ist der Souverän?» Zimmerli schaltet ob solch banausischem Demokratieverständnis reflexartig auf die Wahl von Bundesrätin Ruth Dreifuss letzthin, als demonstrierende Frauen Christiane Brunner zur Bundesrätin gefordert hatten, und findet die Pointe: «Der steht in der Regel vor dem Bundeshaus.» Gelächter, Applaus, studentische Knöden poltern auf die vernutzten Tischblätter. («Zofingianer» – einer ihrer Gründerväter ist Jeremias Gotthelf – haben es noch nie nötig gehabt, für ihre Interessen auf den Bundesplatz zu gehen. Seit der Gründung des Bundesstaats 1848 sass gewöhnlich einer der ihren im Bundesrat, zuletzt Pierre Aubert).

Zu reden geben die 3,5 Milliarden Franken, mit denen der Staat für die Armee 34 F/A-18-Kampfflugzeuge kaufen will. Was mit diesem Geld alles gemacht werden könnte! Impulsprogramm für Arbeitsbeschaffung oder Sicherung der AHV oder internationale Hilfe. «Ich bin der Meinung», sagt Lutz, «das man in UNSERE Sicherheit sinnvoller investiert, wenn man das bestehende Reichtums-Ungleichgewicht abbaut, wenn WIR UNS solidarisch verhalten mit Europa, mit Osteuropa und mit dem Süden.» Und Vollmer fährt fort: «Es geht darum, dass WIR gegenwärtig in einer Situation sind, in der WIR in zentralen Staatsaufgaben gravierende Abstriche machen müssen, weil WIR einfach das Geld nicht mehr haben. Gleichzeitig stimmen WIR einer solchen Beschaffung zu und geben leichtfertig das Geld aus. Dagegen sind WIR. Das können WIR nicht verantworten.» Zimmerli hält nichts von sozialen Phatastereien: «Das Geld bleibtauf jeden Fall dort, wo es ist, nämlich beim Militär. WIR haben eine Finanzplanung des Militärs. WIR sollten dem Volk nicht vormachen, man könne die dreieinhalb Milliarden für etwas anderes einsetzen.» 

Jetzt greift Kägi ein: «Es geht doch darum, ob WIR bis ins Jahr 2000 keine neuen Kampfflugzeuge mehr beschaffen dürfen.» Lutz kontert: «Das Problem liegt darin, dass WIR viele Arbeitslose haben und auf diese Bedrohungssituation reagieren müssen.» Dann wieder Vollmer: «WIR müssen fragen, wie setzen WIR heute die beschränkten Mittel ein? Machen WIR’s wir früher, wo die Bedrohungslage eine andere war? Im Kalten Krieg war man überzeugt, dass WIR mit hohen Militärausgaben UNSERE Sicherheit garantieren könnten. Heute haben WIR ganz andere Bedrohungen, die die Existenz UNSERES Landes aufs Spiel setzen. Es fragt sich: Wie setzen WIR die Gewichte?» Zimmerli plädiert für eine sicherheitspolitische «Alleingängerphilosophie mit Solidarität», die darin bestehe, «dass WIR Leistungen erbringen, damit WIR UNS im Verbund in Europa wehren könnten, damit WIR nicht zum wehrlosen Innenhof, zu einem sicherheitspolitischen Ballenberg werden. So wären WIR in Europa nicht mehr glaubwürdig.»

Natürlich plazieren die Referenten im Verlaufe des Abends ihre  eingeübten Sprüche. Kägi appliziert der «Initiative für eine Schweiz ohne neue Kampfflugzeuge» die EMD-Sprachregelung «Flugzeugverhinderungs-Initiative». Lutz speist das hübsche Bonmot ein: «Der F/A-18 macht die Schweiz nicht sicherer, sondern nur ärmer.» Zimmerli – nach seiner Vorstellung der zukünftigen Schweizerarmee befragt –, rattert ohne nachzudenken herunter: «Kleiner als heute, schlagkräftig, modern, glaubwürdig, Milizarmee, die getragen wird durch das Volk und innen- und aussenpolitisch eingebettet ist; natürlich inklusive F/A-18.» Und Vollmer verurteilt moralisch empört die drastische Propaganda der Initiativgegner, die mit Fotos aus dem Bosnien-Krieg zu manipulieren versuchten. «Ich finde es traurig», sagt er, «traurig für UNSERE politische Kultur, dass man diesen grausamen Krieg missbraucht, um hier eine Flugzeugbeschaffung durchzudrücken.»

Jetzt wieder Kägi, dem Kalten Krieg nachtrauernd (immerhin darf er sich auch ein ganz klein wenig zu den Siegern zählen): «Sicher ist, dass WIR heute in der Sicherheit wesentlich instabiler sind als noch vor vier, fünf Jahren. Wenn WIR eine glaubwürdige Landesverteidigung wollen, müssen die alten Flugzeuge ersetzt werden. Es ist halt schon ein Problem, dass UNSERE Piloten abgeschossen werden, bevor sie im eigenen Radar das feindliche Flugzeug überhaupt sehen.» Vollmer gibt Gegensteuer: «WIR müssen doch einmal analysieren, ob UNS bei dieser instabilen Lage die Anschaffung von Hochleistungsflugzeugen eine zusätzliche Sicherheit bringt oder nicht.» Kägi, zurückgedrängt in seine argumentative Igel-Stellung, verteidigt diese tapfer: «Es geht darum, dass WIR UNSEREN Luftraum glaubwürdig behaupten können.» Dann wieder Lutz: «Das eine tun und das andere nicht lassen: Das können WIR in Situationen, in denen es UNS wirtschaftlich sehr gut geht. Im Moment haben WIR jedoch eine Situation mit knappen finanziellen Ressourcen. Die Frage ist deshalb: Wo investieren WIR am sinnvollsten in die Sicherheit des Landes?» Trotzig drauf Zimmerli, sichtlich leidend unter dem rhetorischen Schwung all der politischen und staatsrechtlichen Unbekümmertheiten: «Tatsache ist, dass WIR Kompensationsgeschäfte machen können.» Und so weiter.

Dann kommt noch einmal der Präsident, dankt und kündet den «actus secundus» an. Bier und Schinkengipfeli. Ich, zum Beispiel, werde gegen die Kampfflugzeuge und den neuen Waffenplatz stimmen. Mein Argument allerdings ist heute abend übersehen worden. Es lautet: Wenn ich schon gefragt werde, bin ich natürlich dagegen, dass SIE IHRE Armee weiter aufrüsten. – Nach der Veranstaltung standen die frischbekränzten Laubbäume um das Haus der «Zofingia» desinteressiert in der milden Frühlingsnacht. Unten in der Reitschule waren die Trommeln verstummt. Hinterhältig fragte ich MEIN Velo: «Fahren WIR zusammen nach Hause?» und trat voll in die Pedale.

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 21-25. (Dokumentiert wird die Buch-Version.)

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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