Sondierbohrung

Warum kann man in der Schweiz eigentlich Eigenheimbesitzer so schlecht von den Gartenzwergen unterscheiden, die sie vor ihre Häuser stellen? Weil in diesem Land ein Jahrhundert lang die Leute äusserst brutal normiert worden sind. Seither trägt man vorm Haus die Zipfelmütze der Harmlosigkeit, und den Pickel des Fleisses legt man draussen nie aus der Hand.

Im Auftrag des Zürcher Sozialdepartements hat der Historiker Thomas Huonker eine Studie zur Fürsorgepraxis in Zürich zwischen 1890 und 1970 verfasst, die diese Woche veröffentlicht wird. Sie zeigt: Fürsorge bestand nicht nur aus nachbarschaftlicher Denunziation und professioneller Bespitzelung – aber auch; nicht nur aus administrativer Anstaltsversorgung und Kindswegnahmen, aus Eheverboten, Kastrationen und Sterilisationen – aber dies waren ihre normalen Massnahmen.

Die fürsorgerische Erpressung und der psychiatrische Zwang standen im Dienst einer Weltanschauung, die gesellschaftlichen Fortschritt nur dann für möglich hielt, wenn er als Norm in Leib und Seele jedes einzelnen Menschen eingeschrieben wurde. Sie hiess «Rassenhygiene» oder «Eugenik», und Zürich war über Jahrzehnte eine ihrer Hochburgen. Viele vom damaligen Wissenschaftsbetrieb vertretenen Inhalte, konstatiert Huonker, würden heute «unter die nationalen und internationalen Bestimmungen der Rassismusstrafnorm» fallen, viele der damals getroffenen Massnahmen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstossen.

Denn die Herrenmenschen-Ambitionen der Eugenik wurden von den Fürsorgebeamten und Psychiatern – weitestgehend Männern – mit Drohung, Zwang und Skalpell in die Praxis umgesetzt. Opfer dieser Massnahmen wurden Blinde, Gehörlose, Kleinwüchsige und Epileptische; die Jenischen, die Homosexuellen, die psychisch Auffälligen oder zum Beispiel jene Frauen, die «unehelich» schwanger wurden: zwischen 1920 und 1934 hat man allein an der Frauenklinik Zürich 1957 Schwangerschaften abgebrochen. In 1395 Fällen wurden dabei die Frauen gleich auch sterilisiert. Bei ihnen handle es sich, schrieb ein zeitgenössischer Psychiater süffisant, vor allem um «Dienstmädchen» und «Haustöchter». Wie viele von ihnen den Dienst- und Hausherren auch sexuell zu Diensten sein mussten, hat er nicht recherchiert.

Huonkers Arbeit geht auf eine Interpellation von Katharina Prelicz-Huber zurück, Gemeinderätin der Grünen, die verlangte, «dieser dunkle Teil der städtischen Sozialpolitik» sei aufzuarbeiten. Dass die nun vorliegende Sondierbohrung in einem Bestand von zirka zweihunderttausend Dossiers vermutlich aussagekräftig ist, hat damit zu tun, dass die Departementsvorsteherin Monika Stocker mit Huonker einen versierten Kenner der Problematik beauftragte. Huonker – zusammen mit Regula Ludi – hat zuletzt zuletzt für die Bergier-Kommission den Band über die «Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus» veröffentlicht. Zwar befasst sich der neue Text mit der Stadtzürcher Fürsorgepolitik. Aber er macht mit vielen nationalen und internationalen Bezügen und einer umfangreichen Literaturliste unmissverständlich klar, dass er nicht nur ein Problem der Stadt Zürich darstellt.

In der Tat beginnt sich die historische Forschung endlich intensiver mit der Zurichtungsmaschine zu befassen, die Fürsorge und Psychiatrie im 20. Jahrhundert auch in der Schweiz gewesen sind:

• Im Kanton Zürich ist eine Gruppe mit Brigitta Bernet, Gisela Hürlimann, Marietta Meier und Jakob Tanner daran, die Rolle der psychiatrischen Kliniken Burghölzli und Rheinau zu erforschen.

• Seit dem 4. März läuft die öffentliche Ausschreibung des Nationalen Forschungsprogramms 51 mit dem Titel «Integration und Ausschluss». Der Rahmenkredit beträgt zwölf Millionen Franken, die Forschung soll Ende 2006 abgeschlossen werden.

Dann wird es hoffentlich genauere Antworten geben auf die Frage, warum sich hierzulande Gartenzwerge und Eigenheimbesitzer derart gleichen.

Thomas Huonker: Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen. Zürich (Edition Sozialpolitik Nr. 7) 2002.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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