Sippen-Guru und Paradiesvogel

Wie wenn die Zeit stehen geblieben wäre: «Pro Höllvetia, Stadt Zureich, Migros Kult-Protz und die diversen Bankgeheimnisse sollen sich keine Feder an den Hut stecken dürfen.» Nur «Freunde und Freundinnen» sollten am Zustandekommen beteiligt sein. Selbstausbeutung statt Subvention: So plante Urban Gwerder – Poet, Gestalter, Animator, Ideenbündel, Outlaw, Netzwerker, wie er sich nennt – stilgerecht die Herausgabe seines gesammelten Schaffens. Entstanden ist ein wunderschönes  «Blätterbuch» im A4-Format mit Reprints seiner längst vergriffenen Gedichtbände, mit Materialien und Zeitdokumenten, Fotos, Cartoons und mit verbindenden autobiografischen Zwischentexten. Das Ganze in verschiedenen Typografien und auf verschiedenen Papiersorten – wenn’s sein muss sogar auf Bütten! –, von Dutzenden von Leuten über lange Wochenenden von Hand zusammengetragen, ein «bibliophiles Juwel», wie der kleine Zürcher Alternativverlag «woa» schreibt. Und man muss zugeben: Er hat Recht.

Vom Senkrechtstarter zum Drop-out

Nicht alle könnten aus der Geschichte ihres Lebens ein derart überbordendes Buch machen. Gwerders Leben gäbe, so scheint es, mit Leichtigkeit Stoff für mehrere Bände her. Er war gerade acht Jahre alt, als sich sein Vater, der Lyriker Alexander Xaver Gwerder als noch nicht Dreissigjähriger das Leben nahm: auf der Flucht vor den «wehrhaften Spiessbürgern» und «dem Zwang der Ämter und des Berufs». Kurz darauf beginnt Urban selber zu schreiben. Mit fünfzehn Jahren verfasst er bereits Gedichte, die in der damals wichtigsten Literaturzeitschrift der Deutschschweiz, in Hans Rudolf Hiltys «Hortulus», dokumentiert werden: «Militärschädel / Unter Sonntagshut / Gespiesste Bürger: / Schablone soundsoviel – / Mir graut. // […] Eng geschnürter Geist: / Blechmusik. / Sag, Vater, ist’s nicht so?» Mit achtzehn veröffentlicht er seinen ersten Gedichtband, «Oase der Bitternis», im Arche-Verlag, gilt vielen als lyrisches Wunderkind, fliegt aus dem Lehrerseminar, weil seine Freundin schwanger wird, zieht, noch nicht zwanzig, mit Frau und Kind nach Südfrankreich, schlägt sich als Expressbote, Bahnpöstler, Kulissenschieber, Buchhändler, Siebdrucker oder Bauarbeiter durch, kehrt vier Jahre später zurück, wird mit seiner Familie zum Thema von Fredi M. Murers legendärem Film «Chicorée», geht 1966 mit einer Rhythm & Blues-Band als Poesie-Performer auf Tournee («Poëtenz»), gibt einen weiteren Lyrikband heraus («Tilt»), findet Kontakt zum «Underground Press Syndicate» und gründet im März 1968 «Hotcha!», die «kreative Sippenzeitung für Subkultur, Alternative, Mutation, (R)Evolution, Bewusstseinserweiterung, Leben, bizarre & Community-Bedürfnisse». Jetzt ist er einer der wichtigsten Köpfe der Hippie-Bewegung im Land, kreativ, lebendig, anarchistisch, ein Selfmademan, der nichts mehr verachtet als die verbalradikalen Linken an den Universitäten – der Diskussionskeller «Junkere 37» in Bern verleiht ihm 1969 im Namen der «Kritischen Untergrundschule der Schweiz» die Doktorwürde ehrenhalber «für seine Verdienste auf dem Gebiet der Einführung der Schweizer Jugend in sämtliche Untergrund-Wissenschaften».

In den frühen siebziger Jahren engagiert er sich zunehmend für Frank Zappa, dessen Rockmusik für ihn eine «Offenbarung» gewesen sei, und zieht sich gleichzeitig mit seiner Familie aufs Land zurück, versteht sich nun als Pionier der biologischen Landwirtschaft, engagiert sich für artgerechte Tierhaltung, alternative Produkte-Vermarktung, Tauschwirtschaft. Sein Bergbauernhof im Prättigau habe für viele eine fast vollständige Selbstversorgung gebracht: «Ein kleines Paradies.» 1993, nach dem Tod seiner Partnerin Tina, kehrt Gwerder von der Alp nach Zürich zurück, entdeckt für sich das Duo «Stiller Has» und wird deren launischer Booklet-Texter.

Trotz allem trotzdem

Wie treu er sich weltanschaulich durch all die Jahre geblieben ist, zeigte 1990 seine Mitarbeit bei P. M.s Buch «Olten – alles aussteigen. Ideen für eine Welt ohne Schweiz». Was um 1968 der «underground» der Hippies war, den die Soziologie etwas voreilig zur «Gegengesellschaft» stilisierte; was im folgenden Jahrzehnt der Ausstieg aufs Land wurde, durch den man sich mit harter Arbeit ökonomisch von der zerstörerischen Welt des Kapitalismus abzukoppeln versuchte («Selbstversorgung») , das lockte seit den achtziger Jahren unter Chiffern wie «bolo’bolo» oder eben «Olten» – und meinte immer den gleichen schönen Traum einer utopischen Lebenswelt, mit der «wir» mit P. M.s Worten die «Lebensvernichtungsmaschine des heutigen Beton-Blech-Atomstaats» würden stoppen und schliesslich überwinden können.

Weil Gwerder immer wieder praktische Antworten suchte auf die Frage, wie sich Verweigerung und Veränderung kombinieren lasse, ist seine Geschichte auch die Geschichte von Niederlagen. «Was bleibt? Bleibt etwas?», schreibt er und antwortet: «Bewusstseinserweiterung war mal ein Anliegen […] – da könnte man dranbleiben. Hergozack, wir sind doch nicht da, um irgendwelche Regeln zu bestätigen, oder uns durch ‘Sachzwänge’ stressen zu lassen!» In den «Last words» seines Buches fasst er seine Lebensmaxime in den Satz: «Alles ist erlaubt, was niemandem schadet» und beharrt: «Trotz allem trotzdem.»

Und kommt beim Lesen und Blättern in Gwerders zuallererst poetischem Lebensbuch trotzdem ab und zu ein Unbehagen auf, dann deshalb: Spricht hier nicht ein bisschen zu oft ein 55j-ähriger Mann mit dem ungebrochenen Sendungsbewusstsein des renitenten Wunderkindes von damals? Schildert er die kulturhistorisch zweifellos bedeutsamen Episoden seines Leben nicht ein klein wenig zu unkritisch, distanzlos und selbstverliebt? Warum versucht Gwerder auch heute noch jene Rolle – halb Sippen-Guru, halb Paradiesvogel der Hippiebewegung – zu spielen, die er damals so unvergleichlich gespielt hat? Der dokumentarischen Bedeutung seines Buches tut das wenig Abbruch. Aber es zeigt – nicht immer nur zwischen den Zeilen –, dass verlorene Lebensträume, wenn man sie nicht loslassen zu können meint, hinterrücks zu Oasen der Bitternis werden.

Urban Gwerder: Im Zeichen des magischen Affen. Zürich (woa verlag), 1998, unpaginiert [360 Seiten].

Aktuell

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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