Self-Checkout: Exit will den Altersfreitod

Die Sterbehilfeorganisation «Exit Deutsche Schweiz» hat über 71'000 Mitglieder (dazu kommen 18'500 bei «Exit Suisse Romande»). Der Verein setzt sich «für das Selbstbestimmungsrecht des Menschen im Leben und im Sterben ein» und präzisiert im Zweckartikel: «Bei hoffnungsloser Prognose, unerträglichen Beschwerden oder unzumutbarer Behinderung soll ein begleiteter Suizid ermöglicht werden.» 2013 begleitete Exit im Kanton Bern 80 Personen in den Tod; insgesamt waren es in diesem Jahr 459, im Jahr zuvor noch deren 356 (plus 29 Prozent).

Und nun will der Verein sein Geschäftsfeld massiv erweitern: In einer Umfrage haben sich über 95 Prozent von gut 8000 Vereinsmitgliedern dafür ausgesprochen, an der Generalversammlung im Mai den Zweckartikel wie folgt zu ergänzen: «Exit engagiert sich für den Altersfreitod und setzt sich dafür ein, dass betagte Menschen einen erleichterten Zugang zum Sterbemittel haben sollen.»

Mit diesem Zusatz soll der Verein beauftragt werden, sein Geschäftsfeld in Richtung «Bilanzsuizid» zu erweitern. Schon heute, sagt die Exit-Präsidentin Saskia Frei, begleite man ungefähr in zwanzig Prozent der Fälle Menschen in den Tod, die nicht wegen «hoffnungsloser Prognose» sterben wollten. Es gebe also bereits heute eine «Grauzone»: «Wir haben jetzt das Anliegen, diese Grauzone zu verlassen. Wir wollen deutlich sagen, worum es geht und darüber eine gesellschaftliche Debatte führen.» (SRF/Samstagsrundschau, 5. April 2014)

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Letzthin kaufte ich mir in der Migros am Dammweg um die Mittagszeit ein Sandwich. In der Reihe wartend beobachtete ich, was sich neben der bedienten Kasse tat: Unter einem grossen Plakat «Subito – einfach & schnell einkaufen. Self-Checkout» arbeiteten dort vor allem junge Kunden und Kundinnen an Selbstbedienungskassen, zogen die Strichcodes von Warenverpackungen über die Scanner und hantierten selbstvergessen mit ihren Maestro- und Kreditkarten. Diskret daneben stand eine Verkäuferin der Migros und leitete an, wenn es Probleme gab. Eine tragikomische Situation: Lohnabhängige Stifte der nahegelegenen Berufsschule leisteten für den Grossverteiler Gratisarbeit, um die Lohnabhängige, die sie anleitete, wegzurationalisieren und arbeitslos zu machen.

Der Begriff «Self-Checkout» verband sich in meinem Kopf allerdings sofort mit einer ganz anderen Geschichte, die ich eben zuvor im Büro gelesen hatte: «Exit. Suizid im Alter soll kein Tabu sein» (Beobachter 6/2014). Zwar kam in diesem Artikel der Begriff «Self-Checkout» nicht vor, aber die Rede war von nichts anderem: Eine Organisation arbeitet daran, möglichst viele Menschen dahin zu bringen, sich selbstbestimmt handelnd möglichst billig aus dem Spiel zu nehmen, sobald sie nur noch kosten.

In der Sprache der Sterbehilfeorganisation klingt das so: «[Es] stellt sich die grundsätzliche Frage, ob das Menschenrecht auf den eigenen Tod nur gestützt auf eine medizinische Diagnose ausgeübt werden darf. Oder ob bei betagten Sterbewilligen nicht auch andere Faktoren wie z.B. Verlust des sozialen Netzes, Perspektivlosigkeit, Sinnentleerung etc. sowie das selbstbestimmte Vermeiden drohender Pflegeabhängigkeit und drohenden Autonomieverlusts als legitime Gründe für einen Sterbewunsch – und damit auch für eine Rezeptierung des Sterbemedikamentes – gelten dürfen.»

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Unterdessen hatte ich in der Migros der Kassenfrau eine Minute Lohnarbeit gesichert und stand nun Sandwich kauend vor dem Rotlicht an der Lorrainestrasse, als in mir plötzlich einer sagte:

Aber was hat eine Selbstbedienungskasse mit einem begleiteten Bilanzsuizid zu tun?

Viel! Mehr als 95 Prozent der Exit-Mitglieder plädieren für die uneingeschränkte Konsumfreiheit bis in den Tod. Sobald sie im Supermarkt ihres Lebens zur Meinung gelangen, weiteres Shopping hätte für sie keinen Sinn mehr – wenn sie also «lebenssatt» sind –, wollen sie das Recht zum sofortigen Abgang haben: Self-Checkout mit Exit.

Na und? Humpelst du aufs Alter am Stock der Christenmoral?

Nein. Die Exit-Mitglieder, die das Recht auf ihren Altersfreitod fordern, sollen sich so, wie sie es wünschen, umbringen dürfen. Das Problem ist, dass der Verein das Recht auf den Bilanzsuizid zu einem gesellschaftspolitisch akzeptierten Lösungsansatz machen muss, um die Ärzteschaft dazu zu bringen, fleissiger Giftrezepte auszustellen. Insofern der Verein nun öffentlich missioniert, erhält er Züge einer säkularen Sekte. Darum reicht die Statutenänderung nicht, es braucht die öffentliche Kampagne.

Falls es so wäre: Wo ist das Problem?

Das Problem ist, dass der Bilanzsuizid zwar unter HedonistInnen ein Cüpli lang als pikantes Gesprächsthema unterhaltend sein mag. Als gesellschaftspolitische Debatte ist das Thema aber gefährlich. Blauäugig legt Exit Feuer an die Lunte eines Pulverfasses, dessen Explosion kein staatsbürgerlich denkender Mensch verantworten kann.

Jetzt übertreibst du. Nicht jeder Kaninchenzüchterverein ist eine Staatsaffäre.

Exit lobbyiert nicht für Kaninchen, sondern für Suizid: Wer das Recht auf den Altersfreitod auf die gesellschaftspolitische Agenda setzt, lädt sämtliche politisch Interessierten ein, diese Forderung zu unterstützen und damit gesellschaftsfähiger zu machen.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel die Krankenkassen-Industrie, der man nur empfehlen kann, ab sofort Exit zu sponsern. Nützlichere Idioten findet sie nicht.

Weshalb das?

Weil «wir wissen, dass in etwa die Hälfte sämtlicher lebenslangen Gesundheitskosten einer Person in den letzten sechs Monaten vor dem Tod anfallen», wie der damalige Gesundheitsminister François Couchepin 2009 in einer Rede gesagt hat. Allein für Behandlungen im Bereich der obligatorischen Krankenpflegeversicherung wurden 2012 rund 25,7 Milliarden Franken ausgegeben (NZZ, 25.9.2013). Mit dem Gerede über den Bilanzsuizid sollen Wertvorstellungen gesellschaftsfähiger gemacht werden, wonach es anständig und rücksichtsvoll sei, zu gehen, bevor man kostet. Wenn man bedenkt, dass zurzeit bloss etwa «zehn Prozent aller Selbsttötungen [als] wohlüberlegte Handlungen» gelten (so der Psychiater Martin Hatzinger im «Beobachter»), dann kann man geradewegs ableiten: Würde es gelingen, diese Quote bei betagten und hochbetagten Menschen deutlich zu erhöhen, würden die Krankenkassen bald einmal Milliarden sparen.

Dass im Moment mit der obligatorischen Pflegeversicherung «für Menschen ab einem gewissen Alter» eine bisher bürgerliche Forderung neu von links in die Diskussion gebracht wird (Der Bund, 4.4.2014), zeigt, dass die gesellschaftliche Entsolidarisierung bereits SP-kompatibel wird. Die Logik dieser Forderung: Alte Menschen sind Kostenfaktoren; Alte sind immer mehr eine unbezahlbare Belastung; Alte sind nichts mehr wert: Wenn sie trotzdem noch leben wollen, sollen sie für den gesellschaftlichen Schaden, den sie darstellen, selber aufkommen. Nach 30 Jahren neoliberaler Gehirnwäsche liegt es zwar nahe, auch die eigene Existenz nur noch ökonomistisch zu denken. Aber unter sozialem Aspekt ist diese Perspektive eine gesellschaftliche Bankrotterklärung.

Kommt hinzu: Gelingt die allmähliche Implementierung dieses Wertewandels,  wird das soziale Klima vergiftet: Ältere Menschen sind ja immer auch Erb-Lasser. Je billiger und schneller sie sterben, desto mehr lassen sie zurück. Was kostet schon ein Pentobarbital-Cocktail gegen einen möglicherweise mehrjährigen Heimaufenthalt? Neben dem bekannten Mobbing in der Berufswelt könnte eine Art Altersmobbing Mode werden: Mutti, wenn du Gift nimmst, hilfst du uns am meisten. Und Exit hilft gern.

Aber damit ist die Exit-Kritik an der Spitzenmedizin nicht widerlegt. Stimmt es denn nicht, dass immer wieder schwer Kranke und Sterbende auch aus finanziellen Interessen am Leben gehalten und so ihrer menschlichen Würde beraubt werden? Ist es demnach nicht vernünftig, gehen zu wollen, bevor man in diese Mühle gerät?

Diese Kritik ist um so weniger stichhaltig, je mehr Menschen ihren Willen in einer «Patientenverfügung» festschreiben und je mehr die Palliativcare ausgebaut wird – die nicht nur Medizin, sondern auch Pflege und Begleitung beinhalten muss. Die Stilisierung der Spitzenmedizin zum suizidlegitimierenden Feindbild ist schon heute eine Strategie, um etwas anderes diskutabel zu machen: den gesellschaftlich respektierten, massenhaften Selbstmord von alten Menschen. Wie in der Migros jemand, der merkt, dass er nicht mehr genug Geld in der Tasche hat, möglichst diskret verschwinden soll, sollen alte Menschen sich dann «lebenssatt» fühlen und die Konsequenzen ziehen, wenn sie zu kosten beginnen.

Exit hat dazu beigetragen, den Glauben an die Allmacht der Spitzenmedizin zu relativieren. Das ist ein Verdienst. Nun gibt der Verein aber auf die gestellte Frage eine falsche, weil gesellschaftspolitisch verantwortungslose Antwort. Die richtigen Antworten auf die Probleme, die ältere Menschen heute in ihrem Alltag haben, lauten: Gesundheitsförderung in der ganzen Breite des Begriffs, Motivierung zur sozialen Teilhabe und für Leute in Krisen Depressions- und Suizidprävention.

Aber damit wird die Überalterung der Gesellschaft noch weiter gefördert!

Überalterung ist ein Unwort! In der Schweiz waren 2012 gerade mal 17,3 Prozent der Bevölkerung über 65. Jene die heute von «Überalterung» faseln sind jene, die morgen die Volksinitiative «Pentobarbitalfreigabe ab 50!» lancieren werden. Nicht die voraussichtlich noch ein bisschen steigende Prozentzahl an alten Menschen ist das Problem. Das Problem ist, dass Exit mit ihrer Mission für den Altersfreitod an einem gesellschaftlichen Klima arbeitet, das Ausschluss statt Integration als Lösung anbietet und die älteren Leute statt zur Mitarbeit an der gemeinsamen Zukunft zum vorzeitigen Abgang motiviert.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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