Schmierentheater oder Machtzentrum?

Ein bemerkenswertes Zusammentreffen: Eingeladen von der «Anti-WTO-Koordination» und der «attac» haben am 22. Januar im Berner «Schlachthaus»-Theater die Journalisten Res Strehle und Constantin Seibt über ihre Erfahrungen mit dem WEF berichtet – Strehle, heute Chefredaktor des «Magazins», als einer, der es ins Innere des Forums geschafft hat; Seibt, vorgestellt als «Punk unter den Journalisten», als einer, der jeweils ohne WEF-Badge nach Davos gereist ist. Bemerkenswert war das Zusammentreffen der beiden deshalb, weil Strehle zwischen 1981 und 1986 der ideologische Kopf der WoZ-Redaktion gewesen ist und Seibt in der heutigen WoZ-Redaktion eine vergleichbare Rolle spielt.

Weltanschauliche Uniformität

In seinem Vortrag schilderte Strehle das durch ein kompliziertes Regelwerk von Zutrittsbewilligungen hierarchisierte Innere der WEF-Tagungen. Die Schwierigkeit des Medienschaffenden bestehe darin, dass der Zutritt um so restriktiver gehandhabt werde, je informativer die jeweilige Veranstaltung zu werden verspreche. Schwer verdaulich sei die weltanschauliche Uniformität, die etwas «Sektiererisches» habe: «Ich kann mir vorstellen, dass unter dem Aspekt der Geschlossenheit des Weltbildes ein weltweiter Scientology-Kongress ähnlich verläuft.» Das Glaubensdogma sei in den letzten Jahren das «Paradigma des Neoliberalismus» gewesen, wonach nur die weitere Liberalisierung der Wirtschaft den grössten Wohlstand für alle bringen könne.

«Undemokratisch, antimedial»

Mit Strehles verhalten ironisch grundierter Sachlichkeit kontrastierte Seibts rotzige Anti-Davos-Performance. Die WoZ-Redaktion habe ihn, begann er, nach Davos geschickt mit der Bemerkung: Sie werden dich überall rauswerfen, schreib was darüber. Deshalb habe er rund um das WEF die Prominenz beobachtet und sich seine Gedanken gemacht. In Bezug auf das Verhältnis des Forums zu den Medien postulierte er, das WEF sei zwingenderweise «undemokratisch und antimedial», weil die Akteure des Forums nicht auf Publizität angewiesen seien, sondern im Gegenteil auf Exklusivität und jene Privatheit, die das offene, informelle Hinterzimmergespräch ermögliche. Deshalb könnten die «Schurnis» in Davos lernen, dass sie, wenn es einmal drauf ankomme, nicht die vierte Gewalt im Staat seien, sondern «einfach Dreck».

In der anschliessenden Diskussion zeigte sich, dass sich die beiden Referenten weder in der Einschätzung der Bedeutung dieses Forums einig sind noch in der Frage, was kritische Medienschaffende dagegen tun können. Strehle geht davon aus, dass die Strategien der Weltherrschaft sich nicht aus abstrakten Gesetzmässigkeiten ergeben, sondern «von Menschen gemacht sind». Deshalb ist für ihn das WEF als «bedeutendste Versammlung, an der sich die Spitzen aus Politik und Wirtschaft treffen», nichts weniger als «das Machtzentrum». Seibt dagegen sagte, das Erstaunliche an den «Wirtschaftsbossen» sei nicht, dass sie «mies», sondern dass sie «dumm» seien. Diese Leute hätten nämlich begonnen, an ihre eigene Propaganda zu glauben, die «Leader der Welt» zu sein. Entsprechend ist für ihn das WEF eine grelle Schmierenkomödie, in der die Widersprüche gleich «en masse» auf dem Silbertablett serviert würden: «Man muss dort nur mit offenen Augen herumgehen, dann wird man reich beschenkt, falls man darauf aus ist, Ärger zu machen.»

«Welche Strategie?»

Ähnlich unterschiedlich fielen die Antworten auf die Frage aus, was Medienschaffende gegen das WEF ausrichten könnten. Strehle plädierte für das Kerngeschäft des Informierens «über Analysen und Strategien aus dem Inneren»: «Das stärkt die Anti-WEF-Front so viel, wie Aufklärung eben stärken kann.» Seibt dagegen verriet seine zwei Methoden zur Erledigung der Veranstaltung: Einerseits gebe es die «Haifisch»-Theorie, die auf der Einsicht beruhe, dass Haifische am besten von Haifischen gefressen werden; deshalb müsse man hungrige Haifische auf verwundete Artgenossen – zum Beispiel das WEF – aufmerksam machen, der Rest erledige sich von selber. Andererseits gebe es die «Piraña»-Theorie, die kurzum aus einer Image-Beschmutzungskampagne mit allen Mitteln bestehe.

Medienschaffende, die bei nächste Gelegenheit nach Davos an das Weltwirtschaftsforum fahren, müssen sich entscheiden, ob sie willfähriges Sprachrohr spielen wollen oder eine kritische Rolle – und wenn letzteres, ob mit den Methoden des Chefredaktors oder jenen des Punks.

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