Salty Dog, wohäre geisch?

«I by achtjährig gsy, wo si pprofiilet hei / (…) / mi Vatter isch gschtorbe / ir Schueu hei si ‘Rösslein Hü’ verzeut / i ha afa lehre Klavier schpile / d’Muetter het e Fernseh gkouft, wüu dr Vatter gschtorben isch / und s’Tscharnerguet het Ufrichtifescht gha / es het Schüblig gä / d’Muetter het dr Scheidegger lehre gkenne / pro Huus het’s zwe Lifte gha / d’Hochhüser si grau / Beton isch grau / dr Vatter het mr gfäut.» So hat sich Chlöisu Friedli später im «Tscharni-Blues» an seine Kindheit am Westrand Berns erinnert.

Seit 1957, seit er acht ist, geht Chlöisu in den Klavierunterricht, seit zwölf kopiert er Jazzmelodien, Ton für Ton ab Schallplatten: «Mit sechzehn Jahren hatte ich schon ein ansehnliches Repertoire beieinander.» Die erste Band spielt New Orleans Style, «sehr schlecht», wie er später schreibt. Als er neunzehn ist, engagiert ihn die legendäre «Longstreet Jazzband». Ihre Konzerte am Mittwochabend sind stadtbekannt, das Publikum in der «Schwarzen Tinte» jubelt. Die Musiker in schwarzen Hosen, schwarzen Gilets, weissen Hemden, Chlöisu mit dem Aschenbecher und der Bierflasche neben den Tasten. Sein Übername ist Salty Dog. «Etwas ernüchternd war immer der Schluss der Konzerte. Bis wir die Instrumente eingepackt hatten, waren keine Leute mehr zugegen, und die vielen hübschen Mädchen waren alle fort.» Tagsüber ist Chlöisu Stift im Konsum, später arbeitet er als Betonbrenner und als Kellner. Seine Mutter und seine beiden älteren Geschwister sind von Bern weggezogen.

Chlöisu Friedli heiratet früh. Urs Hostettler, Herausgeber von Friedlis Schriften schreibt in seinem Nachwort: «Einmal in diesem Winter [1971/72, fl.] ging er in die Kälte hinaus. Er kam zurück und weinte. Ein psychischer Zusammenbruch. Sie mussten einen Arzt holen. Chlöisu musste Medikamente schlucken.» Ein halbes Jahr später bringt Alice, Chlöisus Frau, die Tochter Julia zur Welt. Zu dritt ziehen sie als Landfreaks vor Bern hinaus in ein Bauernhaus im Weiler Zimlisberg. Dort begegnet Chlöisu beim Säubern der Heubühne einem Kobold: «Ich zündete genauer hin, und was ich nun sah, liess mir den Atem stocken: Vor mir stand, halb im Heu versteckt, ein hässliches, altes Männchen, vielleicht 20 cm gross, von brauner, dunkler Hautfarbe. Es hatte lange, spitzige Schlitzohren und eine schmutzige Zipfelmütze auf.» Eine beängstigende Begegnung, der Kobold droht, ihn vergesse keiner. «Benommen und fröstelnd», schreibt Chlöisu, sei er in die Küche hinuntergegangen, um eine Flasche Bier zu trinken. – «Eines Tages hielt ich es zu Hause nicht mehr aus und beschloss, nach Bern zu gehen, und zwar zu Fuss, quer durch den Wald. (…) Nach zwei Stunden anstrengenden Marsches durch ziemlich hohen Schnee erreichte ich die ersten Häuser eines Dorfes und stutzte. Dieses Dorf hatte ich noch nie gesehen. (…) Ist das ein verwunschenes Dorf? Ich erreichte die Hauptstrasse und bald das Ende des Dorfes. Ich war froh, das stille Nest hinter mir zu haben, und marschierte weiter. Da hatte ich plötzlich das Verlangen zurückzuschauen. (…) Neben der schmalen Strasse stand eine weisse Tafel mit der Aufschrift: Zimlisberg. Ich war in meinem Elend im Kreis gegangen.» Am nächsten Tag habe er seine Wohnung gekündigt.

Von Ziemlisberg aus muss Friedli in die Psychiatrische Klinik «Waldau», diagnostiziert werden «Depressionen», das ist im Advent 1973. «Ja, Herr Friedli, es ist wohl besser, wenn Sie einige Wochen bei uns bleiben. Sie werden pro Tag zwei Spritzen erhalten, das wird Ihren Zustand verbessern. In ein paar Wochen können Sie wieder lachen», habe der Arzt damals zu ihm gesagt, und was der Pfleger sagte, hat er später im «Sünneli-Blues» gesungen: «‘Weli Sitte weit dr hinech, Herr Friedli, di linggi oder di rächti?’ / Das wär e Schprütze. ‘Di linggi bitte, dert han i s’Gfüeu, s’tüeg mer e chly weniger weh’.» Nach dem Aufenthalt in der «Waldau» trennt er sich von Alice und der Tochter Julia, zieht in eine Einzimmerwohnung und arbeitet im Lager einer Schreibmaschinenfirma: «Nach sechs Wochen kannte ich jede Handbewegung, die ich beim Auspacken der Maschinen zu machen hatte, auswendig.» Drei Jahre lang arbeitet er allein in diesem Lager: «Es gab Tage, da sah ich von morgens 7 Uhr bis abends 17 Uhr keine Menschenseele.» Im Frühsommer 1975 fährt er mit dem Solex in den Wald vor der Stadt, hält «bei einem dichten Gestrüpp aus Jungtannen und wilden Brombeeren», schluckt Schlaftabletten, spült sie mit Henniez hinunter, schneidet sich die Pulsadern auf und dämmert hinüber. Er wird von Pfadfindern gefunden. Der herbeigerufene Polizist will zuerst einmal die Personalien aufnehmen.

Friedli beginnt zu schreiben. Autobiographische Stücke, zum Beispiel über seine Zeit als Kellner, über seine Zeit als Lagerist, über seine Zeit als Landfreak, über seine Zeit in der «Waldau». Daneben zwei Sorten von Fiktionen, die dunklen und die hellen. Die dunklen: die Geschichte von Meier, der nach jahrelanger Beschattung durch einen unheimlichen Freund eines Tages «aus dem Verkehr gezogen» wird, weil sein Leben «keinen tieferen Sinn» hat; oder der – in einer anderen Geschichte – eines Tages mit dem Bus bis an die Endstation fährt, zu Fuss «an wogenden Kornfeldern und grossen Kartoffeläckern vorbei» bis zum Bahngeleise geht und dort den Kopf auf die Schiene legt. Und die hellen: die Heinzelmännchengeschichten, die Geschichten von den Meerheinzelmännchen oder von den Waldheinzelmännchen, den sibirischen Heinzelmännchen oder den Bergheinzelmännchen, die – so Urs Hostettler – trotz der kleinen ironischen Brüche in den Texten mit Erfolg bereits Vorschulkindern vorgelesen werden können. Ob die kleinen Wichte dem streikenden Mond wieder in seine Umlaufbahn helfen oder ein Tessiner Bergdorf vor dem Waldbrand retten – immer stehen Friedlis Heinzelmännchen für eine sozial intakte Gemeinschaft, für Hilfsbereitschaft und Solidarität, für die Welt vor der Vertreibung aus dem Paradies, in dem der kleine Chlöisu am Stadtrand von Bern in den fünfziger Jahren aufgewachsen ist, im Wald, am Gäbelbach, wo sie einen geheimen Weg durch die Katzenstiele zur Wasserhöhle wissen, wo der Kalk der Quelle jedes hingelegte Blatt innert einer Woche versteinern lässt». Aber dann klotzten sie die Hochhäuser des Gäbelbach- und des Tscharnergutquartiers in die Matten, und dann starben kurz nacheinander Chlöisus Vater und sein bester Schulfreund, Küse. Mag sein, der unversöhnte Bruch, der zwischen den hellen und den dunklen Geschichten Friedlis verläuft, spiegelt nur jenen anderen der Vertreibung aus dem Paradies, der ihren Autor schliesslich zerrissen hat.

In einem der autobiographischen Texte schreibt Friedli: «Es gibt heute so viele Berufe, so viele Arbeitsplätze, Fabrikarbeit, Büroarbeit, Bauarbeit, Landarbeit, aber überall ist ein Chef da, überall zählt die Rentabilität der geleisteten Arbeit, die Schnelligkeit und damit der Stress und das Unpersönliche und schliesslich ein krankhafter Wettbewerb unter den Angestellten. Ich möchte hier fragen: Wo in aller Welt kann heute ein psychisch angeschlagener Mensch vollkommen frei und nach seinem Wunsch bei schönstem Sonnenschein mitten in einen Abhang eine lächerliche, baufällige Treppe bauen und damit neuen Mut zum Leben gewinnen?» Friedli konnte das – in La Colle in der Haute-Provence, wo er 1977/78 in einer therapeutischen Wohngemeinschaft lebt. Bis ihn eine neue selbstzerstörerische Krise weitertreibt: «Ich hatte plötzlich die Eingebung, ich sei nicht mehr fähig weiterzuleben. (…) Wie wild stiess ich mit dem Messer zu und schlitzte mir den Bauch auf.» Jetzt kommt er in die psychiatrische Klinik von Digne, danach in die Therapeutische Gemeinschaft von Bordei im Centovalli. Neben seiner Arbeit auf dem Bau spielt er dort wieder Klavier. Und er schreibt weiter an seinen Geschichten. Der Präsident der Stiftung «Terra Vecchia» von Bordei ist Klaus Schädelin, alt Gemeinderat der Stadt Bern und Jugendschriftsteller («Mein Name ist Eugen»). Er empfiehlt Friedlis Texte beim Zytglogge Verlag. Die letzte Zeit in Bordei ist eine Tortur. Chlöisu schreibt in einem Brief, die Krisen häufen sich, der Arzt im Team wolle ihn nicht mehr betreuen, die Gruppengespräche bereiten ihm Kopfweh. Schliesslich kommt auch der längst erwartete Bescheid vom Verlag: Sein Manuskript ist abgelehnt.

«Mit dreckigen Hosen und ungewaschenen Haaren stehe ich da und schaue der Welt zu, wie sie ohne mich fertig wird.
Erbrochenes bleibt im Schnee länger liegen, weil es von der Kälte konserviert wird.
Ich lebe in den Tag hinein. Am Abend habe ich jedesmal ein Hochgefühl, dass ich ins Bett darf. Aber zurück bleibt ein schaler Geschmack im Mund, da ich den Tag verbringe, als ob ich in einem Buch blättere, ohne es eigentlich lesen zu wollen.» («Erbrochenes»)

Im Herbst 1980 singt Chlöisu seinen «Tscharni-Blues» für das Fernsehen: «Beton isch grau / dr Vatter het mr gfäut / Tscharnerguet, du bisch es / Tscharnerguet, du bisch es ja / itz darfsch mau, Tscharnerguet!» Chlöisu ruft’s, fast schreit er. Dann geht die Klavierbegleitung über in einen langsamen Blues, franst immer mehr aus, mit der linken Hand klimpert er noch eine chromatische Tonfolge aufwärts, noch einen Ton abwärts, dann lacht er auf, wie resigniert. Dann hört man das helle Klacken des Klavierdeckels. Im Frühling 1981 versucht er, von den Psychopharmaka loszukommen. Es geht ihm sehr schlecht. Als er spürt, dass seine Freundin Syle, die er in Bordei kennengelernt hat, an die Grenzen ihrer Belastbarkeit kommt, geht er freiwillig zurück in die «Waldau». Dort ein kleiner Zwischenfall: Er reagiert unwirsch gegenüber einem aufsässigen Mitpatienten. Der herbeigeeilte Pfleger wittert Fremdgefährdung und schlägt Alarm: Friedli wird ruhiggestellt, zwangsmedikamentiert. Das ganze monatelange Leiden um das Absetzen des Psychogifts war für die Katz gewesen. «Meier steigt das Bahnbord hinauf und bleibt auf den Geleisen stehen. Er fällt auf die Knie und legt sich hin, so dass der Kopf auf eine Schiene zu liegen kommt.» Am Abend des 3. Juli 1981 ist Friedli hinter der «Waldau» unter den Zug gegangen.

Anlass und Hauptquelle der Reportage waren Chlöisu Friedlis Schriften, die Urs Hostettler unter dem Titel «Das Gesetz des Waldes» herausgegeben hat (Bern [Fata Morgana) 1993). Bereits früher veröffentlichte Fata Morgana eine Sammlung von Liedern und Stücken von Friedli («Wohäre geisch?», LP [1982], CD [1991]).

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 63-68. (Dokumentiert wird die Buch-Version. Der Titel der Zeitungsversion lautete: «…und schaue der Welt zu, wie sie ohne mich fertig wird».)

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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