Saison der Literaten

Als er in den Schatten des Bieltors trat, war es kurz vor neun. Am Kiosk kaufte er die Wochenendausgabe der «Solothurner Zeitung». Dann trat er durch das Tor in das helle Licht der Gurzelengasse, in der sich wie jeden Samstagmorgen die Marktstände reihten. Er schlug die Zeitung auf und überflog im Gehen die Frontseite: «5. Solothurner Literaturtage eröffnet» stand unter einem Bild, auf dem Otto F. Walter lesend vor Zuhörern zu sehen war. Eine ältere Frau mit Einkaufstaschen in beiden Händen drängte sich an ihm vorbei. Stehendbleibend las er die Bildlegende fertig. Veränderung würde dieses Jahr versucht: «Die Richtung, auf die die Veränderung abzielt, lässt sich unter die Leitworte Reduktion, Vertiefung und Offenheit zusammenfassen.» In der Strasse war Betrieb.

Texte, die gelesen, nicht mimisch dargestellt, nicht gesungen, nicht doziert, rezitiert, hinterhergerufen, nicht vorgelesen, sondern gelesen werden wollen: Das ist auch eine Eigenart von Literatur. Ein Dilemma von Literaturtagen, wie sie übers Wochenende in Solothurn, in der Genossenschaftsbeiz Kreuz und im gegenüberliegenden Landhaus stattfanden, ist deshalb: Kein Besucher kommt hierher, um in einer stillen Ecke Texte zu lesen. Wer hier literarische Texte vermitteln will, muss sie verlesen und hinterherrufen, dozieren, rezitieren, singen oder mimisch darstellen. Weder ist der/die Literaturvermittelnde dazu im Durchschnitt fähig, noch sind die Texte im Durchschnitt dazu gedacht. Deshalb wurden von den verlesenen Texten immer Manuskriptkopien aufgelegt, zum Mitlesen. So las man mit, ob der/die Vorlesende richtig ablas.

Freitagnachmittag: TEXT IM GESPRÄCH. Parallelveranstaltung: Hanna Johannsen, Hans-Rudolf Lehmann («Lukas Hartmann») und Otto F. Walter stellen eigene Texte vor beschränkter Zuhörerzahl zur Diskussion. Walter liest aus seinem neuen Roman («Das Staunen der Schlafwandler am Ende der Nacht»). Dann setzt man sich in Arbeitsgruppen, versucht im knalligen Scheinwerferlicht eines arbeitenden Fernsehteams eine Viertelstunde lang über den Text zu sprechen: Was hat sich Herr Walter wohl gedacht, als er… «Volkshochschule spielen», schreibe ich auf meinen Notizblock. Danach werden im «Plenum» die «Gruppendiskussionen» zusammengefasst. Die ist der methodisch-didaktische Vermittlungsversuch von Literatur.

PARABEL VON DER MUSCHEL (I): Wo ich hinkomme, redet man heute vom «Kuchen», von «Szenen» und Gruppierungen, die sich gemeinsam auf die Suche nach einer Muschel machen: Wenn wir den Deckel schliessen, dann stimmt die Welt wieder. Aber nicht, wer in der Muschel sitzt, bestimmt, wann der Deckel zugeht, das meinen nur jene, die sich in die Muschel setzen. Was den Deckel schliesst, so nennen es mindestens jene rastlosen, einäugigen Polemiker, die man die «Linken» nennt, ist der «gesellschaftliche Druck». Nun ist also der «Literatenszene», dem «Literaturkuchen» der Deckel zugeknallt worden. Die, die drin sitzen, sagen dazu: Wir haben den Deckel zugemacht, um uns der «Neuen Innerlichkeit» zu widmen. Aus der Not eine Tugend zu machen, ist auch eine Kunst.

Am Freitag- und Samstagnachmittag finden «Offene Blöcke» statt: Reihenweise treten Autoren und Autorinnen auf, die noch kaum veröffentlicht haben. Während sich die Lesenden ablösen und abmühen und die Zeit lang wird, kritzle ich böses Zeug auf meinen Schreibblock: «Warum macht ihr denn alle derart brave, schöne, langweilige Sätze? Ihr tut ja gerade so, als ob ihr immer noch ins Gymnasium ginget.» Später: «Ein sozialdemokratischer Literaturansatz: Zu sagen haben wir alle nichts, darum sollen ruhig alle schreiben.» Aber vielleicht sind auch die Lesungen in den «Offenen Blöcken» ein Problem der Vermittlung. Die Romanausschnitte von Erhard von Büren oder Beat Sterchi – ein witziges Portrait eines klassenkämpferischen Dorforiginals und die Dorfbeizszene, in der sich Bauern mit träfen Sprüchen über die Modernisierung in ihren Betrieben streiten –, das war doch sofort klar, dass ich diese Romane mit Vergnügen lesen werde (sofern die beiden Autoren Verleger finden)? Ja, lesen. Nicht mir vorlesen lassen.

Seine Augen folgten den Holzbalken an der Decke der Säulenhalle im Landhaus. Die Lesungen des «Offenen Blocks» zogen sich hin. Er gähnte. Als sich vorn am langen Tisch mit den Mikrofonen eben eine neue Gruppe von Autoren zum Lesen vorbereitet, tritt Otto F. Walter ans Mikrofon, spricht, ohne Vorankündigung, leicht vornübergebeugt, mit leiser, dringlicher Stimme von der Mediensituation in diesem Land, die er als «lebensbedrohend für die Demokratie» bezeichnet, von der zentralen Stellung der Medien in den aktuellen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen und von den bedrohten freien Medien. Dann ruft er die über zweihundert Anwesenden unumwunden auf, etwas zu tun, zum Beispiel die WochenZeitung zu abonnieren. Gemurmel im Saal. Als Walter vom Mikrofon zurücktritt, meldet sich mit lauter Stimme von zuhinterst einer, er heisse Brülisauer – «Der Chefredaktor der ‘Solothurner Zeitung’», raunt es – und Herr Walter solle doch endlich einmal den Beweis antreten, dass das stimme, was er nun schon seit Jahren von der bedrohten freien Presse öffentlich herumbiete. Wieder vorn am Mikrofon entgegnet Walter, spricht vom Inserateanteil an der Finanzierung von bürgerlichen Zeitungen, vom Druck, den der Globus und die Autoimporteure durch Inserateentzug in den Jahren 1980/81 auf den Tages-Anzeiger ausgeübt hätten. Schütterer Applaus, Brülisauer will entgegnen, kommt aber nicht mehr zu Wort: Ein aufgebrachter Besucher der Literaturtage ruft in den Saal, man solle endlich fortfahren, Literatur zu verlesen und hier nicht eine Journalismusdebatte anzetteln. Die Aufregung war vorüber, seine Augen suchten wieder die Holzbalken an der Decke der Säulenhalle.

PARABEL VON DER MUSCHEL (II): Wer in der Muschel sitzt, sitzt sicher wie in einem Raumschiff. Über die Orientierung, so hoffen die Einsitzenden, mache sich der Bordcomputer Gedanken. Auch kann man jetzt wieder alles sagen, alles behaupten (auch das Gegenteil), sich baden in dem, was man für seine eigene Sprache hält. Sogar KRITISCH könnte man jetzt wieder werden, doch ist das nicht nötig: Ist erst der Deckel zu, wird die TOLERANZ grenzenlos. Gesagt wird: REPRESSION herrsche ausserhalb, in den Gefilden der parteilichen Handlungen, in den Regionen der unpopulären Wörter WIDERSPRUCH und WIDERSTAND. Aber die Leute, die das sagen, kennt man ja nachgerade zur Genüge.

Manchmal ergab sich Vermittlung spontan: das waren für mich die stärksten Augenblicke. Nachdem Mariella Mehr am Freitagabend eine unveröffentlichte Erzählung vorgelesen hat, bildet sich im verrauchten Kreuzsaal eine Gesprächsrunde, mittendrin die Autorin, locker, sehr präsent. Über Frauensprache und Männersprache redet man: Sie schreibe nicht bewusst eine Frauensprache, sagt die Autorin, in dem Mass, in dem sie Frau werde, schreibe sie auch eine eigenständige Sprache. Otto F. Walter mischt sich ein, dann Fritz H. Dinkelmann, Rolf Niederhauser, andere, Leute, die wissen, wovon sie reden. Das Gespräch weitet sich aus, was passiert in dir, wenn du schreibst?, prägnant, pointiert, unterhaltend, Grund zum Lachen gibt es, Grund zum Nachdenken. – Am nächsten Morgen ist alles anders: Säulenhalle, plötzlich Herren mit Krawatten, am Arm ihre Damen – es war Parfum in der Luft –, Peter Weibel, schreibender, durchgeistigter Berner Doktor stellt sich vor: Kein Satz gelingt ihm, der nicht triefen würde vor Literatur. Dann beginnt er zu lesen: «Aber es sind nur noch die Bilder, die nachdauern, sie sind wie ein Rahmen, der verfügbar geblieben ist; die Bewegungen, die diese Bilder verbinden könnten, bleiben unscharf, verschwommen, sie lassen sich heute nur noch mit Mühe erkennen: Einsamkeit und Angst, ruheloses Getriebenwerden, Mutlosigkeit und der unablässige Versuch, durchzustehen: zu überleben, mit grösser gewordener Hoffnung.» Der Ton ist leise, monoton, mystisch. Ich beginne, auf meinen karierten Schreibblock zu kritzeln: «Der Rahmen ist so erschlagend, dass ich selten dazu komme, auf Inhalte zu hören. Natürlich ist da auch ein Personenkult. Nicht wichtig, wer die Rolle des Lesenden, des Meisters, des Gurus spielt. Hier sitzen Leute, die sich dann als Elite verstehen, wenn sie die Gemeinde eines Meisters bilden dürfen. Wem klatschen die, wenn sie nach der Lesung applaudieren?»

Literatur vermitteln mit List. Am Samstagabend im Kreuzsaal: «Le cabaret romand». Der Raum verdunkelt, ein Projektor wirft spärlich Dias auf eine Leinwand, einige Texte sind auf Tonband vorproduziert, andere werden von zwei Schauspielerinnen und einem Schauspieler gesprochen. Mit der List minimalster Blickfänge, Gesten, Bewegungen werden dem Betrachter-Zuhörer so anderthalb Stunden lang Gedichte, Romanauszüge, Erzählungen von zwanzig welschen Autor/inn/en untergejubelt.

Am nächsten Morgen: «Liederapéritif» in der Säulenhalle: Literatur vermitteln mit List. Das Trio «Schattentöne» (Aschi Frei, Kjell Keller, François Thurneysen) machen aus lyrischen Texten Lieder. Danach spricht die Schauspielerin Silvia Jost Texte über ein von Heinz Reber mit elektronischen und akustischen Instrumenten vorproduziertes, raffiniert-diskretes Klangband. (So unterhaltend und eindrücklich war für mich kein anderer Versuch, Texte zu transportieren.) Aber das Dilemma bleibt: Wie kann man Literatur vermitteln: Ohne akustische und visuelle Hilfsmittel, ohne Anleihen bei Musik, Theater, Fotografie?

PARABEL VON DER MUSCHEL (III): Wieso eigentlich soll Literatur Orientierungshilfe sein in diesem Land, in dieser Zeit? Man kann doch wirklich Literatur machen, die sich foutiert um den «gesellschaftlichen Druck» (das ist die hohle Phrase der linken Vögel, Du erinnerst Dich). Literatur kann doch auch Hilfe sein, sich in einer windgeschützten Zeitnische, in einer Gegenwelt einzurichten. Und warum sollte sich denn die Gegenwelt zur Welt subversiv verhalten? Das hat doch nichts miteinander zu tun. Literatur als Opium fürs Volk. Nein, im Ernst, warum denn nicht? Opium macht schöne Träume. Und ist schmerzstillend.

Das Interview war abgemacht auf Sonntagnachmittag. Ich hatte nur einen Fragenkomplex, den ich mit Rolf Niederhauser und Otto F. Walter besprechen wollte: Was bedeutet das, wenn die Literatur nichts mehr mit dem zu tun haben will, was ich als «Realität» wahrnehme? Was bedeutet das, wenn Literatur die aktuellen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen ausblendet, nicht zur Kenntnis nimmt, verleugnet? Was bedeutet das, wenn Literatur ihre Ratlosigkeit zur Antwort auf meine Frage machen will, wenn sie ihre Sprachlosigkeit zur literarischen Tendenz stilisiert? Was bedeutet das, wenn sich Literaten, Literatinnen, zum Teil mit bewundernswürdigem Kunsthandwerk, auf derart triviale Themen stürzen? «Wir haben die Literatur, die wir haben, nicht die, die wir uns wünschen», beginnt Walter. Dann bitten beide, ich solle das Tonbandgerät nicht anstellen. Dies sei, sagt Niederhauser später, schon unter der Türe, nicht die Zeit der Antworten, dies sei die Zeit der Fragen. Während des ganzen Sonntags in der Strasse vor dem Kreuz Militärfahrzeuge, Soldaten. Natürlich wurden die dorthinbefohlen. Natürlich nicht wegen der Literaturtage.

Am Nachmittag in der Säulenhalle das Podiumsgespräch: «Darf Literatur unterhaltend sein?» Erwähnenswert nur deshalb, weil dem Argument des Präsidenten der Karl-May-Gesellschaft, Claus Roxin, Karl May habe mit seinen Büchern eine Gegenwelt geschaffen, und diesen Traum brauche man für das wirkliche Leben, kaum widersprochen wurde. Wenn aber die Gegenwelt gar keine ist, sondern nur die verfremdete Festschreibung von bestehenden Macht- und Rollenverhältnissen, wenn sich die Gegenwelt «affirmativ» zur realen Welt verhält, wird dann nicht der Leser in seiner Hoffnung betrogen, die das Lesen erst zum Denkprozess werden lässt: dass die Welt (noch) veränderbar sei? Und, in diesem Punkt, trifft sich das, was Karl May machte, nicht genau mit dem Anspruch der «Neuen Innerlichkeit»? Ist «Neue Innerlichkeit» nur eine faule Ausrede?

Als er am Sonntagnachmittag zum Bahnhof hinübereilte, lag Regen in der Luft. Über der Aare war böiger Wind. Hinter der Stadt lag der Weissenstein im Regengewölk. Der Schnellzug fuhr 16.47 Uhr. Er hatte noch zehn Minuten Zeit und holte die Wochenendausgabe der «Solothurner Zeitung» aus der Umhängetasche. Während er unter der Perronüberdachung die Zeitung aufklappte und die Frontseite überflog, klatschten erste Regentropfen auf die Bahngeleise. Sein Blick fiel wieder auf das Bild, auf dem Otto F. Walter lesend zu sehen war. Brülisauer wird sich freuen, ausgerechnet Walter auf der Frontseite, ging ihm durch den Kopf. Befremdet schaute sich eine Gruppe von Wandersleuten auf dem Perron um, als er für einen Augenblick laut auflachte. Dann fuhr der Schnellzug ein.

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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