«Sag einfach Lilo zu mir.»

68 Milliarden für die UBS, aber keinen Franken für die AHV ab 62. Da ist der work-Leserin Lilo Barthod-Malat (63) aus Huttwil (BE) der Kragen geplatzt. Jahrelang hat sie um Arbeit gekämpft. Hat sich schliesslich vorzeitig pensionieren lassen. Heute lebt sie mit 2700 Franken AHV und Egänzungsleistungen pro Monat. Als ehemalige Sekretärin schreibt die fünffache Mutter und dreifache Grossmutter einen Brief an die work-Redaktion. Diese liest ihn, ist beeindruckt und rückt ihn in die Zeitung [untenstehend, fl.]. Der Brief spricht vielen Lesern und Leserinnen aus dem Herzen, wie Zuschriften an die Redaktion zeigen. Dann entschliesst sich Lilo Barthod-Malat, an der Nationalen Demonstration für die AHV-Initiative teilzunehmen und lädt work ein, mitzufahren.

Als der Zug im Zürcher Hauptbahnhof einfährt, sagt Lilo Barthod-Malat: «Ich gebe alles für die AHV. Hoffentlich haben alle begriffen, dass wir jetzt auf die Strasse müssen.»

In der Bahnhofstrasse beginnt sie, an Vorübergehende die mitgebrachten Work-Zeitungen zu verteilen. Mit entwaffnender Offenheit spricht sie die Leute an («Sag einfach Lilo zu mir»), verwickelt sie in Gespräche, erzählt von sich, argumentiert, wirbt, kämpft um jede Stimme für die AHV-Initiative. Wovon sie überzeugt ist, das kann sie verkaufen: Eine zeitlang hat sie für die weltberühmte Rockband «Deep Purple» gearbeitet.

Kurz vor halb zwei auf dem Paradeplatz: 3500 Leute sind gekommen, über den Köpfen die Fahnen von Gewerkschaften und Parteien. Im Hintergrund der Hauptsitz der UBS, von unten bis oben verrammelt. Ein älterer Kollege faltet die Work-Ausgabe auseinander, hält es neben Lilo Barthod-Malat und ruft seinen beiden Kollegen zu: «Schaut her, das ist sie!»

Auf der Tribüne spricht Paul Rechsteiner, der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Es gebe auch eine «Ungleichheit vor dem Tod», sagt er. Wohlhabende Leute lebten im Durchschnitt zehn Jahre länger als solche, die schlecht bezahlte, körperliche Arbeit leisteten. «Also beziehen die wohlhabenden Leute im Durchschnitt zehn Jahre länger AHV als wir», sagt Lilo Barthod-Malat.

In der Aufwärmpause erzählt sie in einem Café von ihrer Langzeitarbeitslosigkeit, als sie zeitweise von weniger als 2000 Franken pro Monat gelebt hat: «Wenn’s nur reicht, um zuhause vor dem Fernseher zu sitzen, wirst du sehr schnell sehr einsam.»

Nach der Demonstration: Vor der Rednertribüne eine Gruppe ziemlich wild aussehender Jugendlicher. Die Delegierten der Unia Jugend Oberwallis besammeln sich zur Heimreise. Lilo Barthod-Malat ist sofort mit ihnen im Gespräch. Man ist sich einig:  In der Frage der AHV dürfen sich Junge und Alte nicht spalten lassen. Eine starke AHV ist keine Frage der Bevölkerungsentwicklung, sondern eine Frage des politischen Willens. «Am 30. November drücke ich uns allen den Daumen», sagt sie.

 

Die AHV-Initiative ist am 30. November 2008 mit 58,6 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt worden. – In der vorangegangenen Work-Ausgabe war am 7. November 2008 Lilo Barthod-Malats Brief dokumentiert worden. Er lautete:

«Liebe Redaktion, Liebe Work-Leserinnen und -Leser

Nein, mit der 68-Milliarden-Spritze für die UBS kann ich mich nicht einverstanden erklären. Es gibt so viele Gründe dagegen:

• Wie kommt man dazu, Banken mit unglaublichen Beträgen zu unterstützen, wenn man gleichzeitig ohne zu zögern Arbeitslose, Sozialbezüger, IV-Rentner usw. im Regen stehen lässt?

• Wie kommt man dazu, Banken, die unsere Pensionskassengelder an der Börse verspekulieren, auch noch zu unterstützen? Mit unserem Geld, notabene?

•  Wie kommt man dazu, Bankmanagern unter die Arme zu greifen, die vorher alles verjubelt haben?

• Wie kommt man dazu, Milliardenbeträge zu sprechen und Leute wie Ospel einfach ungeschoren davonkommen zu lassen? Keine Gesetze? Die kann man doch machen, oder?

Es ist mir ein Rätsel, wie man solche Beiträge sprechen kann, ohne dass das Parlament etwas dazu sagen kann. Oder gar das Volk! Denn es ist ja schliesslich unser Geld, unser Steuergeld, das da so grosszügig «verschenkt» wird. Wenn ich mir vorstelle, dass ich ein Leben lang gearbeitet habe (als Mutter von fünf Kindern natürlich zu Hause), später krampfhaft Arbeit auswärts suchte (bezahlte, nachdem Hausfrauen und Mütter ja nichts wert sind), um mein Leben ohne Arbeitslosenkasse oder Sozialamt zu fristen. Nichts gelang. Alte Leute (man ist mit 45 zu alt) braucht man nicht. Aber andererseits sollen wir arbeiten bis 70!

So kam also nach der Arbeitslosenkasse das Sozialamt, nach dem Sozialamt die Frühpensionierung mit 62. Nicht, dass ich das gewollt hätte. Aber um zu vermeiden, noch länger Hunderte von Bewerbungen für nichts schreiben zu müssen, noch weitere Jahre vom Sozialamt abhängig zu sein, biss ich in den sauren Apfel.

Meine Kinder straucheln immer wieder. Verkäuferinnen finden nur schwer eine Vollzeitstelle. Es wird fast ausschliesslich Teilzeit angeboten. Wie um des Himmels willen aber soll ein Mensch von einer Teilzeitstelle bei diesen Löhnen leben können? Zwei haben nun eine Vollzeitstelle gefunden (eine davon in Chur!). Das dritte Mädchen arbeitet zu 80 Prozent und ist heilfroh, wenigstens so viel und regelmässig arbeiten zu können. Mein Sohn wurde zweimal am Rücken wegen Diskushernie operiert und kann heute endlich eine durch die IV finanzierte Umschulung machen. Es kostete viel Mühe, bis er endlich wusste, ob dies klappt oder nicht. Seine frühere Arbeitsstelle als Lagerist verlor er nach der zweiten Operation natürlich.

Aber ich möchte mich nicht einmal beklagen. Es gibt Menschen und nicht wenige, denen geht es viel, viel schlechter. Doch muss man sich einmal vorstellen, was es gerade für diese Menschen heisst, von den Machenschaften der Bankmanager à la Ospel zu hören. Davon, dass zum Dank für das Misswirtschaften Banken mit Milliarden unterstützt werden! Menschen, die ihre Krankenkasse nicht bezahlen können (nicht «nicht wollen», nicht können!), erhalten keine Behandlung; wenn wir Rechnungen nicht gerade bezahlen können, werden wir betrieben. Aber Ospel & Cie. können Milliarden in den Sand setzen, die Weltwirtschaft an den Boden bringen, und man unterstützt sie noch mit Milliarden. Wir müssen wegen einiger Franken «dran glauben»! Das verbittert.

Jetzt endlich, endlich! Endlich erwacht die Schweiz! Ich kann nur hoffen, dass Levrat & Cie endlich gehört werden. Wie lange predigten Gewerkschafter, Sozi, Jungsozi, Kommunisten, dass wir uns wehren müssen. Vielleicht werden sie ja nun erhört? Aber ich habe Angst! Angst, dass wieder alles im Sand verläuft. Irgendwann haben die Schweizer das alles wieder ‘vergessen’. Man wird ihnen von rechter Seite her vorjammern, dass Stellen draufgehen, die Wirtschaft noch ganz den Bach runtergeht, wenn sie auf die Linken hören. Und die Schweizer werden wieder einschlafen, eingelullt vom Lächeln eines Ospel, von den netten, einschläfernden Worten der Wirtschaftsbosse. Wie es immer wieder passierte.

Wir hätten doch schon vor Jahren aufhorchen müssen. Als plötzlich alle davon sprachen, dass jeder Aktien kaufen sollte. Da konnte etwas nicht mehr stimmen. Man stellte auch fest, dass mit Pensionskassengeldern grosse Verluste eingefahren worden sind. Aber auch da reagierte niemand gross. Klar, die linken Politiker und Gewerkschafter warnten eindringlich. Aber was nützte es? Blocher hatte alle im Griff.

Ja, eine Volkspension, das wäre die einzige richtige Lösung. Ich habe sowieso nie verstanden, warum diese zweite Säule Banken und Versicherungen überlassen worden ist. Warum hat man nicht von Anfang an dafür die AHV eingeschaltet? Vor allem dann, wenn so etwas obligatorisch ist! Das kann und darf man doch nicht der freien Marktwirtschaft überlassen!

Jetzt geht es aber nicht ums Prinzip, sondern um einen konkreten Vorschlag. Und der liegt auf dem Tisch. Nach der 68-Milliarden-Finanzspritze für die UBS braucht es am 30. November erst recht ein Ja zur AHV-Initiative der Gewerkschaften. und ich bitte Sie, liebe Leserinnen und Leser von work, stimmen sie doch auch Ja!»

Lilo Barthod-Malat

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