Das Verfahren dauert fünf Jahre und findet seinen Abschluss in einem Sitzungszimmer des ehemaligen Völkerbundpalasts in Genf. Dort tagt das UNO-Komitee gegen die Folter und weist die Beschwerde des Mehmet Kayguzuz ab gegen die letztinstanzliche Ablehnung seines Asylgesuchs in der Schweiz.
In seinem breit angelegten Roman «Der Besuch des Schuhmachers» porträtiert Werner Spirig den Lebensweg des kurdischen Protagonisten vom Gebirgsdorf Hêlineqertel, wo er seine Kindheit verbringt, bis zu seiner schliesslichen Ausweisung aus der Schweiz. Kayguzuz hat früh die Repression des türkischen Staates gegen den kurdischen «Bazillus des Terrorismus und Separatismus» kennengelernt. Vor ihr flieht er mit seinen Eltern in die Stadt, wird Schuhmacher und gerät selber ins Visier des türkischen Staatschutzes, nachdem er damit begonnen hat, den KämpferInnen der Kurdischen Arbeiterpartei PKK Schuhe zu liefern. Er entgeht seiner Verhaftung und flieht mit Hilfe von mafiösen Schleppern via Istanbul und Italien in die Schweiz, wo er ein Asylgesuch stellt. Unterstützung bei seinem Kampf, im Land zu bleiben, findet er hier bei Ayse, jener Frau, die er in der Türkei von fern bewundert hat und die ihm als unglücklich verheiratete Frau eines Landsmanns wieder begegnet.
Werner Spirig gehört nicht zu den vollamtlichen Romanciers: Er betreibt in Bern seit 1986 ein Advokaturbüro, Asyl- und Ausländerrecht gehören zu seinen Spezialgebieten. Darum kennt er die Schwierigkeiten und Nöte, in die Geflüchtete aus einem anderen Kulturkreis während eines Asylverfahrens geraten können, besser als jene. Vor allem zeichnet er eindrücklich die Unmöglichkeit, als Asylbewerber die Tücken des formal korrekten Verfahrens zu durchschauen, dessen Zweck es ist, aktenkundig gewordene Widersprüche zu Ausweisungsgründen zu machen. Auch Kayguzuz hat keine Chance. Je mehr er mit seiner Wahrheit zur Klärung seiner Geschichte beitragen will, desto unnachgiebiger weist man ihm die Widersprüche in seinen Aussagen nach. In der Schweiz lernt er, dass nicht nur Willkür oder brachiale Gewalt, wie er sie in der Türkei kennengelernt hat, unmenschlich sind. Er findet hier weder Recht noch Gnade. Er wird zum Glücksritter gemacht, der sich mit Lügen den Aufenthalt erschwindeln will.
Werner Spirigs Buch ist einerseits ein Muss für alle, die genauer wissen wollen, wie ein Asylverfahren funktioniert und warum es derart belastend ist für jene, die es über sich ergehen lassen müssen. Andererseits kann man nicht darüber hinwegsehen, dass dieses inhaltlich wichtige Buch literarisch passagenweise eher gut gemeint als gut gemacht ist.
Das hat vor allem zwei Gründe. Zum einen hat Spirig eine zu wenig klare Idee der Erzählposition: Sie schwankt konzeptlos zwischen einem allwissenden Erzähler mit einem Drang zu didaktischen Einschüben und der Perspektive Kayguzuz’, der den türkischen und schweizerischen Beamten mit gleichbleibend naiver Ratlosigkeit gegenübersteht. Zum zweiten hätte Spirigs grosse Arbeit ein Lektorat verdient, das über die othografische Bereinigung hinausgegangen wäre. Wenn – pars pro toto – auf Seite 369 Kayguzuz’ vierter Flüchtlingstag in Bern zum dritten gemacht wird (vgl. Seiten 116ff., 277ff. und 319), dann stört das, umso mehr als er sich an jedem Flüchtlingstag eine Jahrestag-Markierung auf sein Armband nähen lässt: Am effektiv vierten Flüchtlingstag habe er dem grünen und dem orangen Strich einen schwarzen hinzufügen lassen, schreibt Spirig. Den roten – «Farbe der Liebe» –, den sich Kayguzuz «im Beisein von Ayse» hat aufsticken lassen (319), hat der allwissende Erzähler wieder vergessen.
Trotz solch störender Unsorgfältigkeiten überwiegen die Gründe, die für die Lektüre des Buches sprechen: Schon so oft hat man das Wort «Asylverfahren» gelesen, aber besser begriffen, was dieses Wort eigentlich bedeutet, habe ich nie als bei der Lektüre der Geschichte von Mehmet Kayguzuz’ Besuch in der Schweiz.
Werner Spirig: Der Besuch des Schuhmachers, Roman. Appenzeller Verlag. Herisau.
Die Rezension erschien um rund einen Viertel gekürzt und stark umgeschrieben. Hier wird die Fassung dokumentiert, die ich abgeliefert habe.