Papierlose Frauen sind nicht selten mit falschen Versprechungen ins Land gelockt worden und arbeiten hier als Hausangestellte in Privathaushalten, als Kinderbetreuerinnen, als Putzfrauen, als Barangestellte, als Sexarbeiterinnen. Auf dem Papier haben sie sogar Rechte: das Recht, SchwarzarbeitgeberInnen für Krankheits- und Unfallkosten zu belangen zum Beispiel, aber auch das Recht auf Leistungen von AHV und IV, das Recht auf einen branchen- und ortsüblichen Lohn, das Recht auf Bildung – auch für die Kinder –, das Recht auf Sozialhilfe.
Rechte auf dem Papier
Kein Mensch ist illegal, aber viele Menschen sind illegalisiert – in der Schweiz zwischen 100000 und 300000. Und gäbe es Illegalisierte und Illegalisiertere, dann wären Letztere die Frauen aus Lateinamerika, Afrika, Asien und Osteuropa. Weil sie offiziell gar nicht existieren, geraten sie häufig in Verhältnisse extremer Rechtlosigkeit und Abhängigkeit. Gegen körperliche und sexuelle Gewalt können sie sich aus Angst vor dem Entdeckt- und Ausgeschafftwerden nicht wehren. Werden sie krank, haben sie kaum Zugang zum Gesundheitswesen. «Recht auf Gesundheit» lautete deshalb am 4. April das Thema einer Fachtagung in Bern.
Als eine seiner letzten Amtshandlungen hat der Sozialdemokrat Otto Piller als Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen am 23. Dezember 2002 für die Illegalisierten eine Lanze gebrochen: In einer Weisung an die Krankenkassen hat er daran erinnert, dass erstens alle Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz – also auch die Sans-Papiers – das Recht auf den Abschluss einer obligatorischen Krankenversicherung haben und zweitens die Versicherer «gegenüber Dritten zur Verschwiegenheit verpflichtet» sind.
Eine noble Geste, aber wie sollen Illegalisierte ihre Rechte einfordern? Sobald sie ein Recht einfordern, müssen sie mit Repressionen oder gar der Ausschaffung rechnen. Ihr Leben ist geprägt von nie endenden Ängsten, die sich in den Körper einbrennen: Kopf und Rücken schmerzen, die Haut entzündet sich, die Verdauung spuckt, das Herz klemmt, die Nerven flattern, der Zyklus gerät durcheinander – oder all das nicht, aber eine Schwangerschaft: Was tun, wenn ein medizinischer Rat unumgänglich nötig wird?
Romandie: Zukunftsweisende Projekte
Eine wichtige Erkenntnis der Berner Tagung: Wie in der Sans-papiers-Frage allgemein gibt es auch beim Recht auf Gesundheit einen ausgeprägten Röstigraben. In Genf, wo bis zu 15000 Papierlose leben, und in Lausanne (rund 5000) unterhalten die Medizinischen Universitäts-Polikliniken zukunftsweisende Projekte. Dabei machen die Genfer «Unité Mobile» (seit 1997) und die «Unité Populations Vulnérables» in Lausanne (seit 2000) bei vergleichbarer Praxis übereinstimmende Erfahrungen:
• Vorgehen: Die beiden Projekte arbeiten interdisziplinär und niederschwellig. In Genf besucht auf einer ersten Ebene eine Pflegefachperson die Bedürftigen; auf der zweiten erfolgt die Betreuung ambulant in einer Praxis ausserhalb der Klinik, erst auf der dritten Ebene wird innerhalb der Klinik behandelt. In Lausanne arbeitet man mit einem doppelten «Gate-keeping»-System: Erstkonsultation bei einer Krankenschwester, Zweitkonsultation wenn nötig (in 12,5 Prozent der Fälle), bei einem Arzt oder einer Ärztin, der oder die wenn nötig an SpezialistInnen weiter- oder in das Spital einweisen.
• Erfahrungen: Rund sechzig Prozent der PatientInnen sind Frauen; davon stammen rund drei Viertel aus Südamerika. Dank Niederschwelligkeit und steigendem Vertrauen der Papierlosen nimmt die Nachfrage stark zu: zwischen 2000 und 2001 stieg die Zahl der PatientInnen in Genf um über fünfzig Prozent, in Lausanne um knapp vierzig Prozent. Die medizinischen Befunde sind hier wie dort stark beeinflusst vom enormen psychischen Leidensdruck, unter dem die PatientInnen stehen.
Deutschschweiz: Wenig Spielraum
Dass die beiden Projekte unter ausserkantonalem «medizinischem Tourismus» leiden, liegt auf der Hand. In der Subkultur der Illegalisierten werden die paar Adressen schnell weitergereicht, an denen man Hilfe findet, ohne denunziert zu werden. Das bedeutet auch: Je stärker die Repression gegen Sans-Papiers in einem Kanton, desto schwieriger ist es für die Engagierten, an die Bedürftigen überhaupt heranzukommen: Sie haben dringende Probleme als die eigene Gesundheit.
Diese Erfahrung machen sowohl die «Medizinische Beratung für illegalisierte Frauen» MeBiF in der Region Bern (siehe Kasten) als auch das Fraueninformationszentrum FIZ in Zürich. Ergebnis einer gemeinsamen Aussprache war, «dass Frauen sich in der Illegalität nicht prioritär um ihre Gesundheit kümmern können». In erster Linie gehe es um «rechtliche Fragen» und um den «Schutz vor Gewaltübergriffen»: «Erst in zweiter oder dritter Linie wird die Gesundheit zum Thema, und erst wenn quasi notfallmässig gehandelt werden muss» (MeBiF, Jahresbericht 2002).
Die Tagung in Bern war von rund hundert Fachpersonen, zum grossen Teil Frauen, besucht und zeigte, dass in der Romandie erfolgreiche Projekt laufen, die Sans-Papiers den Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglichen. Sie machte aber ein weiteres Mal auch klar, dass in der Deutschschweiz jede Solidarität an enge Grenzen stösst, solange Spitäler routinemässig bei der Fremdenpolizei Rückfragen machen, sobald ein Patient oder eine Patientin mit fremdländischem Aussehen keine Krankenkasse angeben kann.
[Kasten]
Die MeBiF
Die MeBiF (Medizinische Beratungsstelle für illegalisierte Frauen) ist ein Verein mit Sitz in Bern, der sich die Vermittlung von ärztlichen und nichtärztlichen Dienstleistungen für illegalisierte Frauen zum Ziel gesetzt hat. Weil zudem Öffentlichkeitsarbeit dringend notwendig ist, hat sich die MeBiF federführend für die Durchführung der Fachtagung «Recht auf Gesundheit» eingesetzt. Seit ihrer Gründung 2000 vermittelt sie in ihrer Sprechstunde am Montagnachmittag ehrenamtlich Fachkräfte, die bereit sind, Frauen zu reduzierten Tarifen zu behandeln – zurzeit in den Bereichen Allgemeinmedizin (für Frauen und Kinder), Gynäkologie und Geburtshilfe, Zahnmedizin, Physiotherapie und Psychotherapie.
An dieser Stelle folgte ein Kontakthinweis. Heute finde ich die MeBIF im Netz einzig noch in der Linksammlung des ökumenischen offenen Hauses «La prairie» in Bern – die Website www.mebif.ch ist nicht mehr aktiv. Über die Tagung «Recht auf Gesundheit» hat am 25.4.2003 auch die NZZ berichtet.