Rauchende Juristenköpfe plus 600

Nachdem der verantwortliche Redaktor des elften «Drahtziehers» (Zeitung aus der Berner Bewegung der Unzufriedenen) eine Busse von 200 Franken wegen «Vertrieb von Schundliteratur» nicht bezahlen wollte, war es anfangs Februar zum erstinstanzlichen Prozess gekommen, bei dem die Busse bestätigt und dem DZ zusätzlich 300 Franken Verfahrenskosten aufgebrummt wurden. Nach dem zweitinstanzlichen Verfahren vor dem Obergericht des Kantons Bern vom letzten Dienstag blieb alles beim alten, ausser dass sich die Verfahrenskosten diesmal gleich auf 600 Franken belaufen.

fl./ «FURGLER WIRD SICH FREUEN» stand gross auf dem Flugblatt, das am Montag abend an der VV der Bewegung zur Fortsetzung des DZ-Prozesses einlud. Und weiter: «In Sachen Strafgesetzrevision ist Furgler sich der Volksgunst nicht mehr so sicher. Umso mehr kann er auf die Berner Richter zählen, die – Abstimmung hin oder her – dank eines Gesetzesparagraphen aus der Mottenkiste der Juristen einen wesentlichen Teil der StGB-Revision einführen wollen: die Strafbarkeit der Aufforderung zur ‘Gewalt’.»

Die vor dem Prozess zusammenströmenden Bewegler waren wegen des säuselnden Vorsommers zwischen den weissen Kerzen üppiger Kastanienblust (oder so) geneigt, die pittoresk Uniformierten und das herzige Schäferhundeli gelassen zur Kenntnis zu nehmen. Während der Ausweiskontrollen und den Leibesvisitationen hatte ich nachgerade den Eindruck, dass die einen dies mindestens so routiniert über sich ergehen liessen wie es die anderen ausführten. Übrigens wurde – aus verständlichen Gründen – für die Dauer des Prozesses eine Gitarre in Gewahrsam genommen und säuberlich mit einem Namenschildchen versehen. Im Gerichtssaal, wo sich vierzig Zuschauhörer und Presseleute entlang der einen Längswand quetschten und der Rest im wesentlichen von leeren, aber beeindruckenden Geschworenensesseln verstellt war, trug plötzlich die Mehrheit des Publikums eine lebensgrosse Maske des amtierenden Justizministers Bundesrat Furgler. Wahrlich – ein netter Gedanke, der viel zur lockeren Atmosphäre dieses Nachmittages beitrug.

Zur juristischen Debatte, die nun folgte und an der sich in einer ersten Phase der Verteidiger Daniele Jenni und der Generalprokurator-Stellvertreter Linder (oder so) beteiligte, ist zu sagen, dass sie mit grosser Anteilnahme verfolgt wurde und dass ich – für meinen unmassgeblichen Teil – immer ganz knapp nicht genau verstand, wo denn nun das Problem lag. Danach zogen sich die Herren Rollier (Oberrichter), Blumenstein und Aebersold, zwei unauffällige Herren, die den Oberrichter während des ganzen Nachmittags stumm, aber wachsam umlagerten, zur anderthalbstündigem Beratung zurück.

Nun wurde es in den Gängen des Obergerichtes lebendig. Auf dem Boden des grossen Ganges würfelten Bewegler um den Sieg im Leiterlispiel, das die Titelseite des neuen DZ ziert. Ein Dutzend Bewegler sassen in den Fenstern über dem Haupteingang des Berner Amtshauses und informierten die Passanten darüber, dass das Obergericht nun doch autonom geworden sei. Einige unauffällige Polizisten vergassen ihren Auftrag und gaben sich in den Gängen der hemmungslosen Lektüre des DZ hin, und ein Bewegler vergrösserte selbstvergessen die Augen an seiner Furglermaske. – Ach ja.

Danach begann Oberrichter Rollier das Urteil zu begründen: Was das Obergericht vor allem beschäftigt habe, sei die Frage, ob der «Schundartikel» nun «bundesrechtswidrig» sei oder nicht. Dieser Artikel sei bei seiner Revision und Verschärfung anno 1966 im Grossen Rat unbestritten gewesen, auch von der SP. Heute habe die SP das Referendum gegen eine Formulierung ergriffen, die viel weniger weit gehe. Womit er das Referendum gegen die Strafgesetz-Revision meinte. Kurz und gut. Das Problem sei ja, ob im Zusammenhang mit Art. 259 StGB noch «Raum für kantonales Übertretungsstrafrecht» bestehe, oder ob dies nur ein «qualifiziertes Schweigen des Bundesgesetzgebers» verhindern werde (oder so).

Nach dreiviertelstündigen Ausführungen entschied Herr Rollier die Frage – nach meinen unvoreingenommenen Beobachtungen nicht ausschliesslich leichten Herzens – im Sinne der ersten Instanz, wobei er durchblicken liess, dass ihn schon auch interessieren würde, was das Bundesgericht dazu meine.

Da selbiges auch die DZ-Leute interessiert, kann schon jetzt gesagt werden, dass man in absehbarer Zeit auch in Lausanne den «Drahtzieher» lesen wird.

Im Oktober 1982 wies das Bundesgericht in Lausanne die Nichtigkeitsbeschwerde des «Drahtziehers» ab. Deshalb wurde der verantwortliche Redaktor Röfe, gestützt auf den sogenannten «Schundparagraphen» des kantonalbernischen Strafgesetzes, zu einer Busse verurteilt. Der Artikel «Tips für Sprayer» hatte demnach als Aufforderung zu Gewalt zu gelten (Bericht zum Bundesgerichtsentscheid vgl. Urs Frieden: «Drahtzieher» vor dem Bundesgericht, WoZ Nr. 41, 22.10.1982). – Bereits am 6. Juni 1982 war in einer nationalen Volksabstimmung die auch von der Jugendbewegung kritisierte Revision des Strafgesetzbuchs (StGB) mit 63,7 Prozent Ja-Stimmen angenommen worden.

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