Neu: Selbstbewusstsein

Ob überhaupt noch jemand so blöd sei und Psychopillen schlucke, fragt ein aufgebrachter Mann während der Plenumsdiskussion. Mehr als die Hälfte der Anwesenden hebt lachend die Hand. Die gut vierzig Leute, die am letzten Samstag von Herisau bis Genf angereist sind, um in der Psychiatrischen Klinik Waldau bei Bern ins Gespräch zu kommen, verbindet keine fundamentale Neuroleptika-Kritik und keine reine Lehre der Antipsychiatrie. Zum Treffen eingeladen haben der Verband Psychiatrie-Erfahrener Schweiz (VPECH) und der Verein für Psychiatrie-Erfahrene des Kantons Bern (VPB) – zwei Gründungen aus dem Sommer 1997. Der VPECH geht auf die Gruppe «Irre am Werk» zurück, die sich 1989/90 in Zürich nach dem Vorbild der Berliner «Irren-Offensive» gebildet hat.

Zwar sind die Themen die gleichen wie in den Zeiten des psychiatriekritischen Verbalradikalismus: der Zwang, Wirkungen und Nebenwirkungen der Psychopharmaka, die Internierung, die Tabuisierung der psychotischen Erfahrung, die Stigmatisierung und Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Aber in den neunziger Jahren hat sich einiges verändert: PsychiaterInnen suchen nach kostengünstigeren, gemeindenahen Formen der Krisenbegleitung und redimensionieren so die bedrohliche Macht der Klinikstrukturen. Viele Psychiatrie-Erfahrene ihrerseits treten mit einem neuen Selbstbewusstsein auf: Als NutzerInnen von Dienstleistungen, die sich ihnen anzupassen haben und nicht umgekehrt.

Zu diesem neuen Selbstbewusstsein gehört auch, dass man sich dem behandelnden Arzt nicht mehr einfach ausliefern will. Peter Weckerle, Präsident des VPB, forderte die Einführung von Behandlungsverträgen, in denen Rechte auf Information, Selbstbestimmung, Einsicht in die Krankengeschichten und auf Geheimhaltung festzuschreiben seien.

Zum neuen Selbstbewusstsein gehört aber auch die Diskussion des Phänomens der Psychose «von innen heraus». In Psychose-Seminaren, die seit bald zwei Jahren in Basel, Zürich, Bern und St. Gallen laufen, versuchen Psychiatrie-Erfahrene mit Angehörigen und Fachleuten in einen «Trialog» zu kommen. Ihre Botschaft: Psychotische Krisen sind keine nichtnachvollziehbaren gehirnorganischen Störungen. In der Waldau stellte Jakob Litschig, Aktuar des VPECH, ein Psychose-Modell vor, das die Psychose als Krise des Ichs interpretiert: Durch die psychotische Krise fällt das Ich als «Mischpult der inneren Stimmen» aus, die es als Ausdruck von Teilpersönlichkeiten in jedem Menschen gibt. Die Auseinandersetzung mit diesen inneren Stimmen macht psychotische Krisen verständlicher.

Mut für ein neues Selbstbewusstsein gaben schliesslich die Ausführungen von Ursula Zingler aus Esslingen, Vorstandsmitglied des deutschen Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener. In Deutschland ist die Mitsprache von Psychiatrie-Erfahrenen in gesundheitspolitischen Entscheidungsgremien selbstverständlich geworden.

In der abschliessenden Plenumsdiskussion waren sich die Anwesenden einig, dass die Selbstorganisation in der Schweiz vorangetrieben werden soll, um möglichst schnell zur gesamtschweizerischen Lobby für alle psychiatrie- und psychoseerfahrenen Menschen zu werden.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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