Mühleberg und Albisetti stillegen

Von Urs Frieden und Fredi Lerch

Am letzten Samstag hat für die schweizerische Antiatom-Bewegung in Bern an der Nationalen Demonstration ein Jahr nach Tschernobyl eine neue Phase des Kampfes begonnen. Zum ersten Mal in ihrer fünfzehnjährigen Geschichte ist sie nicht mit der Bitte auf die Strasse, die Atomlobby solle mit dem Bau weiterer Atomkraftwerke zuwarten oder aufhören; zum ersten Mal hat sie die Abschaltung der bestehenden Atomkraftwerke offensiv gefordert.

Einer dezentralen atomfreien Energieversorgung entspricht keine orthodoxe Latschdemo. Deshalb wurde von den über siebzig Gruppierungen, die die Demo organisierten, eine dezentrale vielfältige Aktionsdemo geplant. Auf verschiedene Plätze der Stadt Bern wollte man ziehen und über den Schrottreaktor in Mühleberg und die Atombande, über menschgemässe Technologien, über die Sachzwänge, die mittels Atomwärme und Nagra geschaffen werden und über die umweltverträgliche Energieversorgung diskutieren.

Dem dezentralen Demonstrationskonzept widersetzte sich der Berner Gemeinderat (Exekutive) mit dem verkehrstechnischen Argument, der reibungslose Tramverkehr zur Konsumschau BEA würde durch die Demonstration gestört. Am Samstag brach dann der Tramverkehr zwischen 14.45 und 16.00 Uhr prompt zusammen, und zwar vor allem wegen dichter Tränengaswolken in der Marktgasse. Am Montag darauf vermeldete der «Bund»: «Die Verbindung Stadtzentrum-Breitenrain/BEA konnte mit Bussen ab Bahnhof über die Lorrainebrücke aufrechtgehalten werden.» Somit ist mindestens im nachhinein nun sicher: Das Argument BEA diente lediglich dazu, eine missliebige Demonstration zu verhindern.

Von den vier Demonstrationszügen bewilligte der Gemeinderat einen einzigen: jenen über die Kirchenfeldbrücke auf den Helvetiaplatz. Damit war das Demo-Konzept kaputt und die nationale Demonstration auf einen Alibi-Spaziergang vor das historische Museum ausserhalb der Altstadt reduziert. Dass sich eine nationale Bewegung nicht derart leicht aus der Öffentlichkeit abdränge liesse, lag auf der Hand. Mit Widerstand durfte gerechnet werden. Deshalb lautete der Plan der Stadt Bern: die Guten Richtung Helvetia, die Bösen ins Gas.

Zu spalten versuchte der städtische Polizeichef Marco Albisetti (FdP) – verantwortlich für die Giftgas- und Gummischrottangriffe der Berner Polizei und seit Jahren im soliden Ruf eines Kulturverhinderers (Schliessungen von AJZ und Münsterplattform, gerade letzthin restriktive Verordnung gegen StrassenmusikantInnen) – schon vor der Demonstration. Gegenüber Radio DRS erzählte Hans Kaspar Schiesser, Pressesprecher der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und an den Vorbereitungssitzungen mit der Stadt für seine Partei dabei: «Die Kompromissbereitschaft der Stadt war genau so lange da, wie sie eine Chance gesehen hat, die sogenannt Gemässigten, zu denen ich mich zähle, innerhalb der Organisation von den anderen zu trennen. Uns ist etwas vorgemacht worden in Sachen Kompromissbereitschaft und Redebereitschaft, die schlicht nicht vorhanden gewesen ist.»

Nachdem die Spaltung am grünen Tisch misslungen war, sollte sie während der Demonstration gelingen. Am Samstagmorgen um 10.30 Uhr wurde Albisetti von den Organisatoren offiziell dahingehend informiert, dass sie zwar zur Teilnahme am bewilligten Demozug aufrufen, gleichzeitig aber darauf hinweisen würden, dass ein zweiter, unbewilligter, durch die Marktgasse stattfinden werde. Wenn es demnach Albisetti darum gegangen wäre, die Marktgasse freizuhalten, hätte er vier Stunden Zeit gehabt, die Zugänge zur Gasse mit Stacheldraht und Grenadieren zu sichern, wie er es mit dem BKW-Hauptgebäude und dem Rathaus tun liess. Aber darum ging es eben nicht. Damit der zweite Demozug angegriffen werden konnte, musste er in die Marktgasse einschwenken können.

Der Zugang zur Marktgasse wurde lediglich von einem Dutzend Alibi-Grenadieren verstellt, die sich auf Befehl wegen einigen Knallpetarden – «Salven kriegerischster Art» (Albisetti) – von «ausserordentlich aggressiven Elementen» (Albisetti) «umzingelt» sahen und zu schiessen begannen, nachdem sie von mindestens fünfhundert DemonstrantInnen passiert worden waren. Zu einem Zeitpunkt, da sich die Spitze des Zuges am Ende der Gasse vor einem weiteren Polizeikordon zu stauen begann. Als dann auch diese Polizisten beim Zytglogge das Feuer eröffneten, war klar: Die vordersten Fünfhundert des unbewilligten Zuges sollten eingekesselt und abgespalten werden.

Albisetti hat eine Schlacht verloren am letzten Samstag. Denn es war nicht nur CS-Kriegsgas, sondern im Demonstrationszug auch viel Entschlossenheit und Kraft in der Luft. Die Militanten und die Gewaltfreien führten die Schlusskundgebung auf dem Bundesplatz gemeinsam bis zum geplanten Ende. Die breite Koalition der Organisationen – von LdU und SP bis zur «Aktion Mühleberg stillegen!» (Amüs) – hat sich auch im nachhinein nicht auseinanderdividieren lassen. Ihre Forderungen sind für diesmal im Tränengas untergegangen, aber sie sind nicht vom Tisch: Mühleberg stillegen statt nachrüsten! Stillegung aller Atomkraftwerke! Keine atomaren Fernwärme-Projekte! Umweltgerechte Energieversorgung ohne Atomstrom!

Der Preis der Strassenschlachten: Während der Demonstration hatte der Arzt Peter Zuber bereits 18 Verletzte zu betreuen, darunter einen Mann mit zerfetzter Wange und Jochbeinfraktur sowie zwei Kleinkinder mit Asthmaanfällen infolge Giftgaseinwirkung, die wegen Gefahr von Lungenödemen lebensgefährlich waren. Zu den 18 Verletzten kommt eine Frau hinzu, die nach einem Gummigeschosstreffer am Hinterkopf bewusstlos zusammenbrach und mit einer Gehirnerschütterung ins Spital eingeliefert wurde. Weitere 6 Personen wurden von der Sanitätspolizei in die Spitäler überführt. Noch während der Demo hatte Zuber dazu aufgerufen, Zeugen und Verletzte sollten sich bei ihm melden (Waldheim, 3072 Ostermundigen). Bis zum Montagnachmittag sind bei ihm über zwanzig weitere Meldungen von Verletzungen eingegangen, so dass sich die Zahl der Verletzten auf knapp fünfzig erhöht. Ungefähr in drei Wochen will Zuber eine Art «banquet républicain» organisieren mit allen Zeugen und Verletzten. Anschliessend soll Klage eingereicht werden gegen Albisetti und den Kommandanten der Stadtpolizei, Christoph Hofmann, wegen schwerer Körperverletzung in mindestens vier und leichter Körperverletzung in über vierzig Fällen. Darüberhinaus soll das Gericht feststellen, was wichtiger ist: ein störungsfrei zirkulierendes Tram oder das Leben von DemonstrantInnen.

Unterdessen kommt Polizeidirektor Albisetti unter Druck:

• Bereits am Montagabend hat die Geschäftsprüfungskommission des Berner Stadtrates (Legislative) eine Untersuchungskommission eingesetzt – mit Zustimmung sämtlicher bürgerlicher Mitglieder. Christian D. Müller, POCH-Stadtrat und Mitglied der fünfköpfigen Untersuchungskommission: «Meiner Meinung nach muss umgehend Transparenz über Vorbereitung und Ablauf des Polizeieinsatzes hergestellt werden.»

• In den Parlamenten von Stadt und Kanton sind zahlreiche Vorstösse geplant.

• Donnerstag, 30. April:

– 16.30 Uhr, Rathausplatz: Demonstration vor der Stadtratssitzung gehen die Polizeiübergriffe vom letzten Samstag.

– 20.00 Uhr, Brasserie Lorraine: VV der Berner Organisatoren der nationalen Demo.

• Freitag, 1. Mai, 09,15 Uhr vor dem Restaurant zur Webern: Besammlung zur 1. Mai-Kundgebung. Parolen: «Mühleberg stillegen, Albisetti endlagern!» (Amüs), «Albisetti, Mühleberg – die beiden müssen sofort weg!» (SAP)

• Samstag, 2. Mai:

– 14.00 Uhr, Restaurant Schweizerbund: Auf Initiative der Amüs trifft sich die Nationale Konferenz der Organisatoren, um das weitere Vorgehen zu diskutieren.

– 20.00 Uhr, Bärenplatz: Fackelzug.

In danke Urs Frieden für die Einwilligung, den Beitrag an dieser Stelle zweitveröffentlichen zu dürfen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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